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fragte ich. „Mittlerweile ist es verjährt. Außerdem sind die Probleme von Gescheiterten nicht sehr erfreulich. Interessanter finde ich die Erlebnisse der Erfolgreichen. Deshalb sollten wir lieber über dich reden.“

      „Ach herrjeh“, sagte Fredi, „was gibt‘s da schon Besonderes?“

      „Vielleicht deine Uniform“, entgegnete ich. „Du trägst sie, obgleich du Urlaub hast und in Zivil gehen könntest. Folglich trägst du sie gern. Daraus lässt sich schließen, dass du mit Leib und Seele bei der Fahne bist.“

      „Du hättest Psychologe werden sollen. Deine Schlüsse sind wirklich brillant.“

      „Spotte ruhig. Ich lasse trotzdem nicht locker. Wenn mich was interessiert, will ich‘s ganz genau wissen.“

      „Aber nicht hier“, erwiderte er. „Wie wäre es, wenn wir ein Stück gehen?“

      „Eine gute Idee.“

      Wir wanderten auf die Landeskrone. Zunächst benutzten wir einen Gürtelweg, der zwischen hohen Buchen allmählich aufwärts führte. Durch ihre dichten Kronen fiel nur wenig Licht.

      Nach und nach blieben die Bäume zurück, Büsche und dorniges Gestrüpp wuchsen seitlich der schroffen Basaltfelsen, an denen wir nun klettern mussten. Wie früher, dachte ich. Auch damals mieden wir den Hauptweg, auf dem man den Gipfel leichter erreicht. Immer kraxelten wir die steilsten und gefährlichsten Pfade empor. Dabei gab es anfangs einen besonderen Nervenkitzel. An manchen Stellen stand mit weißer Farbe aufs Gestein geschrieben: Minen! Lebensgefahr! Darüber grinsten aufgemalte Totenschädel mit zwei schräg gekreuzten Knochen. In den letzten Kriegstagen war um den Berg erbittert gekämpft worden. SS-Leute hatten sich unweit der Bismarcksäule verschanzt und das Gelände unterhalb ihrer Stellung vermint. Später wurden die Sprengsätze von Räumtrupps entfernt. An den Felsen aber blieben die Warnungen zurück. Sie reichten aus, um uns Schauer über die Rücken zu treiben. Trotzdem wählten wir stets diesen Aufstieg. Keiner wollte feige sein.

      Fredi keuchte neben mir. Wir suchten mit Händen und Füßen in Vertiefungen sowie auf Vorsprüngen Halt, klommen Stück um Stück höher. Zuweilen löste sich ein Steinchen und kullerte abwärts. Auf einer Felsnase hielt Fredi inne und fragte: „Wie wär‘s mit ‘ner Fünfzehn?“

      „Ich bin dafür. Man soll‘s nicht übertreiben.“

      Fredi nahm die Schirmmütze ab. Er wischte sich mit seinem Taschentuch über die Stirn und das glänzende dunkle Haar, dann setzte er sich. Wir konnten die Stadt sehen. Sie streckte sich vom Fuß der Landeskrone bis weit in die Ebene. Die Neiße teilte sie. Der Grenzfluss schlängelte sich durch Parks und Wiesen, ehe er sich als blassblaue Linie am Horizont verlor.

      „Ich bin eine kleine Ewigkeit nicht hier gewesen“, sagte Fredi. „Über fünf Monate. Nach so langer Zeit habe ich immer Sehnsucht. Seit der Lehre bin ich selten in Görlitz. Trotzdem ist eine enge Bindung da. Ich denke oft an die Schule und an dich. Du hast mir damals sehr geholfen.“ Er drückte seine Mütze tiefer in die Stirn, weil die Sonne ihn blendete. „Kannst du dich eigentlich noch an den Pionierleiter erinnern und unseren Historikerzirkel? Wir gingen, glaube ich, in die sechste Klasse. Weißt du‘s noch?“

      „Ja“, bestätigte ich. „Wir haben Material zusammengetragen: über die Verrätergasse, den Aufenthalt Napoleons, das Wirken Jakob Böhmes, den illegalen Widerstandskampf.“

      „Das alles hat mir die Stadt vertraut gemacht“, sagte Fredi.

      „Also wirst du zurückkehren?“

      „Möglich“, erwiderte er. „Aber das entscheide ich nicht allein.“

      „Freundin?“

      „Ja, sie wohnt im Standortbereich.“ Er langte seine Brieftasche hervor und suchte ein Bild heraus. „Das ist sie.“

      Das Foto zeigte ein blondes Mädchen. Ich betrachtete es lange. „Gefällt mir“, sagte ich schließlich.

      Da lächelte Fredi, und als ich ihm das Bild zurückgab, schob er es behutsam in die Brieftasche. Dabei rutschte ein anderes Foto hervor. Er hielt es Momente unschlüssig in der Hand, bevor er es mir reichte. „Kennst du die?“, fragte er.

      Gesehen habe ich sie schon, dachte ich. Das lange, schwarze Haar, die großen, dunklen Augen, die vollen, stark geschwungenen Lippen … „Viola“, sagte ich, „ist das nicht Viola?“

      „Alle Achtung“, lobte er. „Immerhin hat sie sich ziemlich verändert. Doch vielleicht merkt man‘s auf dem Bild nicht.“

      Sie ist wirklich sehr gealtert, dachte ich. Die Falten an den Mundwinkeln sind so tief wie bei einer Vierzigjährigen. Was muss einem widerfahren, wenn so deutliche Spuren bleiben?

      „Ist sie wieder hier?“, fragte ich.

      „Nein“, entgegnete Fredi. „Ich war in München. Kurz bevor ich an die Grenze ging. Damals entstand das Bild. Im Hintergrund erkennst du das Haus, in dem sie wohnt.“

      „Sieht ganz manierlich aus“, sagte ich.

      „Aber nur von außen“, behauptete er. „Innen steckt der Schwamm in allen Wänden. Besonders im Souterrain. Und dort haust Viola mit dem Kind. In einem muffigen Gewölbe, wo man sich die Schwindsucht holt. Ich hab versucht, sie zur Rückkehr zu bewegen, doch vergeblich.“

      „Was hält sie dort?“

      „Ihr Eigensinn“, erwiderte er. „Noch mehr ihr Kerl. Er hat sie mit dem Kind sitzenlassen, aber sie hofft, dass er irgendwann wiederkommt. Sie hockt in dem elenden Loch und wartet. Das macht sie fertig. Als sie rüberging, war sie das blühende Leben. Jetzt ist sie ein Wrack. Sie sieht aus wie fünfunddreißig. Das Seelische, scheint mir, richtet den Menschen mehr zugrunde als das Körperliche.“

      Ich reichte ihm das Bild zurück. Er schob es in die Brieftasche. „Es ist schlimm, wenn man nichts tun kann“, fuhr er fort. „Du weißt, dass sie immer tiefer reinschlittert, aber du bist ohnmächtig. Und was sich sonst dort alles tut: die Filme, die ich gesehen habe, schrecklich. Einmal bin ich sogar in ein Landsmannschaftstreffen geraten. Ich könnte dir da Dinge erzählen …“

      „Und seitdem hast du keine Nachricht von ihr?“

      „Nein, nichts“, sagte er. „In den ersten Wochen wartete ich darauf. Auch dann noch, als ich mich bereits in der Grundausbildung befand. Ich dachte: Sie wird wenigstens schreiben! Aber es war ein Trugschluss.“ Fredi hob ein Steinchen auf und warf es in die Tiefe. „Sicher hab ich‘s falsch angefasst“, fügte er hinzu. „Vielleicht hätte ich weniger reden und ihr lieber ein paar langen sollen. Möglicherweise wäre sie dann zur Besinnung gekommen.“

      „Das glaub ich nicht“, antwortete ich. „Damit hättest du‘s eher schlimmer gemacht.“

      „Aber die Quatscherei war auch für die Katz. Wir reden sowieso zu viel, finde ich. Versteh mich richtig: Nichts gegen Gespräche und Diskussionen an sich, gar nichts. Es muss sie geben, und man kann damit ‘ne Menge erreichen, aber längst nicht alles. Nimm nur die Nachwuchsfrage bei der Armee. Hast du ‘nen Schimmer, wieviel Werbekommissionen innerhalb der Republik von Betrieb zu Betrieb ziehen? Ich weiß es auch nicht, aber es ist eine stattliche Anzahl. Gewiss, die Genossen machen ihre Sache. Sie überzeugen einen Teil der Jugendlichen, einen anderen überreden sie, dennoch bleibt ein erheblicher Rest, und der besteht größtenteils aus gewieften, dickfelligen Burschen. Die hören bei den Gesprächen mit bereitwilliger Miene zu – sie haben ja Zeit, nichts treibt sie, schließlich zahlt der Betrieb für den Arbeitsausfall Durchschnittslohn -, sie sitzen also scheinbar treuherzig da, insgeheim aber lachen sie sich ins Fäustchen, und während sie dann und wann sogar zustimmend nicken, denken sie: Redet euch getrost die Münder fusselig, in die Kaserne kriegt ihr uns doch nicht. Und nachher protzen sie mit ihrer Taktik. Sie sehen nur sich. Es schert sie einen Dreck, dass andere indessen an der Grenze stehen und notfalls für sie die Kastanien aus dem Feuer holen müssen. Und die Knilche vom BGS vergällen einem zusätzlich das Leben. Aber all das kümmert die gewieften, dickfelligen Burschen nicht.“

      „Und wie würdest

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