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Rückkehr nach Strapen. Stefan Raile
Читать онлайн.Название Rückkehr nach Strapen
Год выпуска 0
isbn 9783748560494
Автор произведения Stefan Raile
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
„Brühl ist kein Maßstab“, sagte Dagmar. „Es gab auch andere.“
„Sicher“, stimmte ich zu. „Nimm Goethe. Noch im hohen Alter bestieg er den Kickelhahn.“
„Oder Kleist“, meinte sie. „Er kam mit Dahlmann durch diese Gegend, als sie von Dresden nach Prag wanderten.“
„Du magst Kleist?“, fragte ich.
„Ja“, bestätigte sie. „Ich hab viel von ihm gelesen.“
„Er war ein Wirrkopf. Alles um ihn erscheint mystisch, finde ich.“
„Ich denke, er war genial.“
„Trotzdem hat er sich nicht durchgesetzt.“
„Die Zeit war schuld“, behauptete sie. „Man hat ihn verkannt.“
„Das ist vielen Schriftstellern so ergangen“, erwiderte ich. „Umso erstaunlicher, dass die meisten trotzdem weitergeschrieben haben.“
„Mit den Motiven ist es eben seltsam“, sagte sie. „Da blickt man schwer dahinter. Auch bei dir habe ich Mühe.“
„Bei mir?“, fragte ich. „Wieso bei mir?“
„Erinnerst du dich an unser Gespräch auf dem Hochsitz? Ich habe es abgebrochen, weil ich es für verfrüht hielt. Man muss sich erst kennenlernen, dachte ich. Dann wird alles von selbst klar. Es war ein Trugschluss. Ich frage mich nach wie vor, warum du Soldat geworden bist. Freiwillig. Weshalb?“
„Das ist eine lange Geschichte“, sagte ich.
Nach dem Vorfall bei Gudrun verließ ich die Baustelle. Ich wollte mich nicht nur von ihr trennen, sondern auch von dem, was an sie erinnerte. Brich alle Brücken ab, dachte ich. Wennschon, dennschon! Ich kündigte. Mag sein, dass durch die eingetretenen Umstände mein Entschluss nur schneller reifte; über kurz oder lang wäre es wohl ohnehin dazu gekommen. Es gab zu viel Ärger, besonders mit dem ewig nörgelnden Meister, und die meisten Kollegen bedauerten wohl gleichfalls nicht, dass ich ging. Lediglich Herb versuchte, mich zurückzuhalten. „Überleg‘s dir noch mal“, riet er. „Wegen so ‘ner Donja türmt man nicht gleich. Was willst du denn anfangen? Hier hast du dein gutes Geld. Davon lässt sich ordentlich was auf die Kante legen. Nach zwei, drei Jahren sitzt du in einem Chausseeflitzer. Dann kannst du massenhaft Mädchen haben.“ Er sprach aus Erfahrung. Seit er geschieden war, lebte er auf Baustellen. Er besaß einen F9, an dem er oft nach Feierabend bastelte und putzte. Wenn er dann am Sonntag in den Wagen stieg, fand sich immer eine, die sich neben ihm in die Polster schmiegte, obwohl Herb mit seinem dünnen blonden Haar, dem hohlwangigen Gesicht und der runden Nickelbrille nicht gerade wie ein Adonis aussah. „Überleg‘s dir noch mal“, wiederholte er und blickte mich eindringlich aus seinen durch die starken Gläser vergrößerten Augen an. „Mehr als hier verdienst du nirgends!“
Sicher hat er Recht, dachte ich. Trotzdem bleibt‘s dabei. „Es ist nicht wegen Gudrun allein“, sagte ich. „Auch der Meister hat Anteil. Der Mann geht mir auf den Hauptnerv mit seiner Meckerei.“
„Das wäre wohl das Wenigste“, meinte Herb. „Lass ihn nörgeln. Mich fuchst es ebenfalls manchmal, doch ich stecke ein Loch zurück. Der Mann hat‘s nicht leicht. Er ist krank, Asthma. Schlimmer aber ist das mit seiner Frau. Bei ihr hakt‘s ab und zu aus, seit sie in Dresden während eines Bombenangriffs ver¬schüttet wurde. Wenn‘s losgeht mit ihr, wird er besonders unleidlich. Ein bisschen muss man‘s ihm nachsehen, finde ich.“
„Mag sein“, gab ich zu. „Dennoch brauche ich Tapetenwechsel: andre Menschen, neue Eindrücke. Das Übrige wird sich finden. Kannst du das nicht verstehen?“
„Doch“, erwiderte Herb. „Es ist nur schade.“
Viele dachten anders. Ihnen missfiel, dass ich nicht so lebte wie sie. Ein Montagearbeiter müsse dann und wann die Gurgel spülen, behaupteten sie. Das sei ungeschriebenes Gesetz. Mich störte, dass sie es von mir forderten. Mich stört immer, wenn man einfach was fordert. Es kam zu Reibereien, wieder und wieder. Dabei wurden Tom und Andy öfter unsachlich.
Eines Abends, als sie angetrunken in die Unterkunft kamen – ich saß noch am Tisch und las -, trat Tom mit unsicheren Schritten neben mich. „So schlägst du also die Zeit tot“, sagte er lallend. „Was hast du eigentlich davon?“
Und Andy fügte hinzu: „Leben musst du, Mann, leben! Die guten Jahre sind schnell vorbei.“
Sie verstanden mich nicht, hatten keinen Sinn für meine Neigung, die sich besonders seit dem Jahr an der Oberschule herausgebildet hatte, wo Pecina Deutschunterricht erteilte. Er war ein Lehrer, wie er im Buche steht. Einer, der mit Leib und Seele bei der Sache ist, den Schwierigkeiten nicht schrecken.
In der Grundschule hatte man uns das Fach ziemlich verleidet: Schauspieltexte mit verteilten Rollen sprechen. Ellenlange Gedichte bimsen. Prosatexte lesen und nacherzählen.
Pecina verlangte Bereitschaft. „Wenn ihr nicht genug Lust mitbringt“, sagte er, „bleibt‘s langweilig, selbst wenn ich mich plage wie weiland Sisyphus. Nur wenn ihr bereit seid mitzuwirken, wird es sich lohnen. Damit meine ich nicht irgendwelche Noten, sondern Gewichtigeres: Jedes gute Buch ist wie ein Stück Land, das man entdeckt. Der aufgeschlossene Leser wird zum Kolumbus, im besseren Sinne sogar; denn er braucht keine fremden Völker zu erobern, um sich zu bereichern.“
Einige grinsten ungläubig, andre spöttisch. Pecina störte sich nicht daran. Er vertraute seinen Einfällen, gründete eine Laienspielgruppe. Zwei Mädchen, ein Junge und ich traten ihr sofort bei. Bald kamen mehr, weil sich herumsprach, dass es Spaß machte. Pecina wählte interessante Texte aus, bewies bei den Proben Fingerspitzengefühl, fand für jeden den richtigen Ton, wurde nie müde, mit uns über alles Mögliche zu diskutieren.
Als Erstes spielten wir das Stück „Die junge Garde“. Pecina hatte Teile des Romans von Alexander Fadejew dramatisiert. Das Verhalten der Helden beeindruckte uns, und wir lasen auch das Buch. So strahlte die Zirkelarbeit auf den Deutschunterricht aus, nach und nach fanden alle eine bessere Einstellung dazu. Trotzdem war es für Pecina nicht leicht, er musste auf manchen unerwarteten Zwischenfall reagieren. Einmal fiel Heino Gruneck ein Westschmöker aus der Tasche, als er seine Federmappe hervorzog. Zwar bückte er sich sofort danach, aber Pecina stand schon neben ihm und fragte: „Darf ich mal sehen?“
Heino hob bloß die Schultern, Pecina nahm ihm die zerfledderte Schwarte aus der Hand und betrachtete sie. Jetzt bricht ein Donnerwetter los, dachten wir. Doch Pecina wurde nicht laut. Seine Augen blickten eher erstaunt als böse, während er sagte: „Das liest du also.“ Er drehte das Heft in den Händen, besah es noch immer nachdenklich, als hoffte er, etwas Besonderes daran zu entdecken, und fragte schließlich: „Leihst du‘s mir mal?“
Heino, der Drogistensohn, kriegte den Mund nicht auf. Erst in der Pause fand er die Sprache wieder. „Gerade mich musste es erwischen! Sie sind mir ohnehin nicht grün, weil mein Alter kein Prolet ist. So was bedeutet doch Wasser auf ihre Mühlen. Seht, Jugendfreunde, werden sie sagen, der Bourgeois verseucht euer Klassengefühl. Weg mit ihm!“
Am nächsten Tag langte Pecina das Heft mit spitzen Fingern aus seiner Tasche. „Eine Stunde will ich dafür opfern“, sagte er, „in der Annahme, dass keine zweite notwendig wird.“ Er setzte sich auf den Tisch und ließ die Beine baumeln. „Um es vorwegzunehmen: So schlimm hätte ich es mir nicht vorgestellt.