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Hund loslassen?“

      Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er seine Schenkel gegen den Pferdeleib presste. Das Tier setzte sich in Bewegung. Mit ihm näherte sich auch der Rüde. Er zerrte an der Leine und bleckte die Zähne. Da leerten wir die Rucksäcke. Dem Reiter ging es zu langsam, er rief: „Fass, Hasso, fass!“

      Der Hund bellte und sprang auf uns zu. Wir rannten davon, stolperten über aufgeworfene Erde und Steinbrocken, zwängten uns ins Unterholz. Auf einer Lichtung verschnauften wir. Hinter uns blieb es ruhig.

      „So ein elender Geizhals“, schimpfte Fredi. „Tut so, als käme er wegen der paar Kartoffeln an den Bettelstab. So sind fast alle, meint Vater. Sie leben wie die Maden im Speck, während wir darben. Wie Stülpner müsste man handeln, um ‘s zu ändern. Warum machen wir‘s eigentlich nicht?“

      Fortan waren die Bauern für uns die Pfeffersäcke, denen wir nur das nahmen, was sie unserer Meinung nach ohnehin zu viel hatten. Wir stoppelten keine Kartoffeln mehr, sondern ernteten sie an geeigneten Stellen einfach vom Feld. Auf gleiche Weise gelangten wir auch zu Zuckerrüben, aus denen Fredis Mutter mit viel Mühe und Geduld dickflüssigen Sirup kochte.

      Unsre Streifzüge erforderten geschicktes Vorgehen. Bald waren wir so gewieft, dass uns nie jemand auf frischer Tat ertappte. Später, als es mit den Lebensmitteln besser wurde, und wir nicht mehr zu stehlen brauchten, kamen uns die angeeigneten Fertigkeiten bei etwas anderem zugute: Wir spielten im nahen Loenschen Park Räuber und Gendarm oder Cowboy und Indianer.

      Meine Mutter begriff, dass sie den Umgang mit Fredi und seinen Geschwistern nicht verhindern konnte. Dennoch bemühte sie sich mit großer Hartnäckigkeit, mich zu beeinflussen. „Ronny, die passen nicht zu dir“, behauptete sie. „Die sind wie Zigeuner.“

      Bei Viola, einem schwarzhaarigen, gertenschlanken und dunkeläugigen Mädchen, traf ihre Ansicht zu, wenngleich nicht in der Art, wie sie es meinte, sondern wegen der außergewöhnlichen Schönheit und dem glutvollen Blick, den ich bei allen Zigeunermädchen vermutete. Der Blick war daran schuld, dass ich für Fredis zwei Jahre ältere Schwester zu schwärmen begann und ihretwegen meine ersten erotischen Träume erlebte. Doch sie bemerkte wahrscheinlich gar nicht, dass ich sie mochte, da sie von vielen verehrt wurde und ihre Freunde oft wechselte, weil wohl keiner ihren Vorstellungen entsprach. Nur von einem kam sie später nicht los, und das war ein Hallodri, der sie, kaum achtzehnjährig, über Westberlin nach Bayern lotste. Davon erfuhr ich zufällig; denn zu Fredi riss nach der achten Klasse die Verbindung ab, als ich die Görlitzer Oberschule besuchte, und er in Bautzen eine Lehre begann.

      Der Fahrer bremste. „Du warst ganz entrückt“, sagte er. „Ich muss hier abbiegen, und du willst deinen Trip sicher fortsetzen. Also dann weiterhin Massel! Es hält nämlich nicht jedes Auto!“

      Seine Prognose bestätigte sich. Manchmal musste ich sehr lange warten, bis mich jemand mitnahm. Auf diese Weise war ich etliche Tage unterwegs. Genächtigt wurde, wie es sich ergab: in Scheunen, Strohfeimen, Jugendherbergen und zwei-, dreimal in Pensionen oder preiswerten Hotels. Ich sah mir fremde Städte an, überquerte Plätze, auf denen emsig Tauben trippelten, lief durch mittelalterliche Gassen, bestieg Türme. Nirgends hielt es mich lange. Manchmal glaubte ich, Gudrun bereits vergessen zu haben, andermal drängte sie sich heftig in meine Überlegungen. Vielleicht wäre alles wieder in Ordnung gekommen, redete ich mir dann ein. Vielleicht. Gleich darauf wehrte ich mich dagegen. Wer einmal ausbricht, dachte ich, macht‘s auch öfter. Aber ich hätte deswegen nicht gleich zu kündigen brauchen. Herb hatte Recht. Weglaufen war keine Lösung. Und nun schon das dritte Mal. Vorher von der Oberschule und nach der Lehre. Hielt ich denn nirgends durch? Ewig konnte man doch nicht von vorn beginnen. Jeder Anfang kostete doppelt Kraft. Wer oft wechselte, verplemperte sich.

      Am achten oder neunten Nachmittag begann es heftig zu regnen. Der Asphalt wurde dunkel, Nässe glänzte auf Blättern und Gras. Ich ging mit gesenktem Kopf und schreckte auf, als Bremsen quietschten. Dicht neben mir hielt ein Auto. Hinterm Lenkrad saß eine Frau. Sie kurbelte die Seitenscheibe einen Spalt herunter und fragte: „Möchten Sie mitfahren?“

      Ich sah, dass sie sehr rote Lippen hatte, das brünette Haar trug sie halblang, sie mochte Mitte Zwanzig sein. Ich stieg ein und setzte mich neben sie. Sofort gab sie Gas und ließ langsam die Kupplung los. „Wohin wollen Sie denn?“, erkundigte sie sich.

      „Kommt darauf an“, erwiderte ich zögernd. „Ich suche eine Bleibe für die Nacht.“

      „Das dürfte schwierig werden“, meinte sie. „Aber ich könnte Ihnen helfen. Unsre Wohnung ist geräumig, und eine Couch für Gäste haben wir auch.“

      „Sie sind sehr freundlich“, entgegnete ich. „Doch was würde Ihr Mann dazu sagen?“

      „Nichts“, behauptete sie. „Wir machen uns keine Vorschriften. Außerdem ist er auf Dienstreise und kehrt erst in zwei Tagen zurück.“

      Was es alles gibt, dachte ich.

      „Wie ist‘s?“, fragte sie. „Kommen Sie mit?“

      Es regnete unvermindert. Die Wischer surrten und rieben die Nässe von der Scheibe. Wer weiß, ob du woanders was findest, dachte ich. Greif also zu.

      „Ja“, sagte ich, „aber nur, wenn‘s Ihnen keine Umstände bereitet.“

      Die Frau wohnte im Stadtzentrum von Kamenz. Ich hängte meine Jacke an die Garderobe. Dabei sah ich im Spiegel mein bärtiges Gesicht. Ich strich über die harten dunklen Stoppeln.

      „Möchten Sie sich rasieren?“, fragte sie.

      „Ich habe nichts dabei“, sagte ich.

      „Dabei kann ich aushelfen.“ Sie ging ins Bad, öffnete den Kosmetikschrank und reichte mir einen Trockenrasierer.

      Später setzte ich mich ins Wohnzimmer.

      Die Frau bereitete in der Küche etwas zu essen, ich hörte, wie Geschirr klapperte. Einmal kam sie an die Tür und fragte: „Möchten Sie fernsehen?“

      „Gern.“

      Sie schaltete das Gerät ein und ging wieder hinaus. Es wurden Schlager gesendet. Bärbel Wachholz sang: „Damals war alles so schön.“

      Gudrun, dachte ich, mag dieses Lied. Vielleicht sitzt sie im Klub und hört es auch. Dann wird sie sich an mich erinnern. An alles wird sie sich erinnern.

      Die Frau brachte das Essen: Rührei mit Schinken und Toastbrot. Für mich stellte sie Bier bereit, sie trank Tomatensaft. Beim Abräumen sagte sie: „Von der Kocherei ist mir warm geworden. Ich dusche mal rasch.“

      Ich hörte, wie Wasser im Bad plätscherte. Auf dem Bildschirm trällerte eine Nachwuchsinterpretin von einem Seemann, der fortfuhr, und seinem Mädchen, das auf ihn wartete. Mumpitz, dachte ich, ist doch alles Mumpitz.

      Als die Frau zurückkehrte, duftete sie nach Parfüm und Seife. Ihr Bademantel war nicht zugeknöpft, sie hielt ihn mit der Hand zusammen. Als sie sich in den Sessel setzte, rutschten die Revers auseinander. „Komm her. Komm schon!“, drängte sie und streckte die Arme aus.

      Ich machte zögernd einen Schritt auf sie zu. Doch dann drehte ich mich um und stürmte hinaus. Während ich meine Jacke von der Garderobe zerrte, sah ich die Frau an der Tür. „Was hast du?“, fragte sie.

      Ich ließ sie stehen und hastete die Treppen hinab. Draußen nieselte es nur noch. Mit hochgestelltem Kragen irrte ich durch Straßen und Gassen, kam an Restaurants vorbei, Kinos, einem Klub, und dann stand ich plötzlich vorm Bahnhof, wo sich Reisende durch die Pendeltür drängten. Fahr nach Hause, dachte ich, dort pennst du dich erst mal aus, und danach suchst du dir eine neue Stelle. Irgendwas wird sich finden.

      4

      Dagmar fragte: „Warum bist du eigentlich weggegangen?“

      Wir waren höher gestiegen und standen am Metallgeländer einer schmalen Plattform. Vor uns gähnte der Abgrund, dreißig Meter oder tiefer. Ich warf einen kleinen Stein hinab. Es schollerte nur schwach, als er aufkam.

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