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in ihrer Haut.

       “Du konntest es nicht mitkriegen, weil ich es dir nie gesagt habe. Lisa, du bist zwar meine beste Freundin, aber diese Sache, die sitzt sehr tief, und ich habe sie niemandem erzählt außer einem Ehepaar, das mit der Familie Claasen sehr eng befreundet ist. Die beiden heißen Lara und Patrick. Sie waren auch meine Mentoren, haben mir sehr viel Kraft gegeben, und ich verdanke ich ihnen unheimlich viel. Die Claasens sind nämlich nicht meine leiblichen Eltern. Sie haben mich adoptiert. Meine leibliche Mutter war eine Edelhure im Hamburger Rotlichtmilieu und wollte mich nicht behalten. Ich bin also ein ‘Verkehrsunfall’. Und man kann nicht herausfinden, wer mein leiblicher Vater ist, selbst nicht durch einen DNA-Test. Meine Mutter hatte sehr viele Kunden. Als die Claasens mir das mit meiner leiblichen Mutter erzählt haben, brach für mich eine Welt zusammen. Na klar, sie mussten es mir irgendwann erzählen, aber es war so schrecklich, und es zerreißt mir fast jetzt noch das Herz. Ich habe mich unendlich schmutzig gefühlt. Ich verspürte den Drang, mich ständig zu waschen. Das wurde richtig zur Manie, wodurch meine Haut unheimlich in Mitleidenschaft gezogen wurde. Mama Claasen, die ja gar nicht meine Mama war, wusste sich keinen Rat mehr. Alle Liebesbezeugungen und Beteuerungen, wie wertvoll ich sei, halfen nichts. Sie war so verzweifelt, dass sie sich an Gott wandte und ihn bat, ihr eine Idee zu geben, wie sie mir helfen könnte. Und Gott gab ihr eine absolut geniale Idee. Mama Claasen fragte mich, ob ich mit ihr zu Lara und Patrick fahren würde. Die hätten so viele Erdbeeren geerntet, dass sie die nicht selbst aufbrauchen könnten und wollten uns welche schenken. Ich fand das zwar ein bisschen lächerlich mitzukommen, aber sie meinte, sie wüsste gern meine Meinung, wie viel wir denn gebrauchen könnten. Dass sie damit noch ein weiteres Ziel verfolgte, ahnte ich natürlich nicht. Sie hatte schon wegen mir mit den beiden gesprochen, und Patrick war eine tolle Idee gekommen. Als wir uns dann die gewünschte Menge Erdbeeren ausgesucht hatten, wollte ich schon gern mal ein paar direkt essen, habe die vorher aber gründlich gewaschen. Kein Wunder bei meiner Manie. Gerade als ich mir eine richtig traumhafte Erdbeere in den Mund stecken wollte, meinte Patrick mit skeptischem Blick, er würde die ja nicht essen! Logischerweise war ich total perplex und fragte ihn, warum nicht. Er entgegnete, es sei Abfall, und wir wären ja schön blöd, dass wir uns sowas unterjubeln ließen. Ich dachte, er tickt nicht ganz sauber und habe ihn angeknurrt, was das denn jetzt solle. Er erwiderte, die Erdbeeren wären nur so gut, weil er natürlichen Dünger hätte, und zwar vom Komposthaufen. Da käme alles drauf, was organischer Abfall sei, also verfaultes Obst und Gemüse, abgeschnittene Äste und so weiter. Deshalb sei der Abfall auch in den Erdbeeren, und das sei doch nun wirklich eklig. Ich habe ihn angefaucht, dass ich mich auch selbst verarschen könnte. Er befand dann mit stoischer Ruhe, dass ich das ja schon seit Langem unter Beweis stellen würde.

      “Hör endlich auf”, hat er gesagt, “vor dir selbst wegzulaufen. Nur weil deine Mutter eine Hure war und dein Vater ein geiler Bock, bist du noch lange kein Dreck. Es ist schließlich nicht dein Verdienst bzw. deine Schuld, als wessen Kind du auf die Welt gekommen bist. Vielleicht ist es sogar von Vorteil, dass du nicht einer intakten begüterten Familie entspringst, die am besten noch blaublütig ist. Wenn einem alles im Leben zufliegt, besteht sehr schnell die Gefahr, arrogant zu werden. Dann benimmt man sich wie Dreck und behandelt die anderen wie Dreck.”

      Mir fiel die Kinnlade runter, aber Patrick sprach unbeirrt weiter.

      “Aber um noch mal den Vergleich zu den Erdbeeren ziehen”, meinte er, “ohne Dünger können Früchte nicht die optimale Qualität bekommen. Ferner ist es hinreichend bekannt, dass natürlicher Dünger viel hochwertiger ist als Kunstdünger und obendrein für den Körper besser verträglich. Menschen, denen im Leben nicht alles zugeflogen ist, können gescheiterten oder benachteiligten Leuten viel besser helfen als solche, die nie wirklich Schwie­rigkeiten hatten. Das wäre so wie bei natürlichem Dünger und Kunstdünger. Viele frustrierte Leute denken, dass sie eh schon einen schlech­ten Start ins Leben oder schlechte Voraussetzungen hatten, und dass sich da nichts mehr ändern lässt, dass sie es nie zu etwas bringen werden. Du hattest schon ‘schlechte Gene’ und hast mit Hilfe der Menschen, die dich geliebt und gefördert haben, ein erfülltes Leben bekommen. Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass alles im Leben glatt verläuft. Aber du wirst mit anderen viel gnädiger und liebevoller umgehen können, weil du selbst erfahren hast, dass du geliebt wurdest, obwohl du nichts dafür geleistet hast.”

       Für einen Moment herrschte angespannte Stille, aber dann bin ich Patrick um den Hals gefallen und hab mich bei ihm bedankt. Und jetzt komme ich wieder auf Thomas McNamara zu sprechen. Thomas konnte durch dich sein Selbstwertgefühl wiederfinden, und du konntest durch mich dein Selbstwertgefühl wiederfinden, und ich konnte durch Patrick mein Selbstwertgefühl wiederfinden. Das meine ich, wenn ich von einer Kettenreaktion spreche. Aber ich denke, es ist nicht nur eine Kettenreaktion, es entsteht sogar ein Schneeballeffekt. Wenn ich nicht das ungewollte Kind einer Edelprostituierten gewesen wäre, hätte ich mich niemals mit einer Kommunistin abgegeben, weil ich als Christ und braver westdeutscher Bürger mit diesen Fanatikern aus Ostdeutschland nichts hätte zu tun haben wollen. Ich hätte wahrscheinlich noch nicht mal ein Wort mit dir geredet, Lisa. Es war für mich unendlich schwer, mit dir ein Gespräch anzufangen, als wir damals in Heidelberg in der Mensa am selben Tisch saßen, weil sonst nirgendwo mehr Platz war. Du warst neu, du kamst aus Berlin, und irgendwie warst du mir nicht geheuer. Ich habe nur aus Höflichkeit mit dir geredet. Und dann kam der Schock! Diese Lisa war eine Kommunistin und obendrein immer noch von diesem Quatsch überzeugt. Ich dachte innerlich nur: ‘Oh mein Gott, warum tust du mir das an!’ Aber ich habe mich dieser Herausforderung gestellt, und du wurdest meine beste Freundin, diejenige, zu der ich mehr Vertrauen habe als zu irgendjemand anderem aus meinem Freundeskreis. Und meine Freundschaft zu dir habe ich nicht davon abhängig gemacht, ob du Christ wurdest oder nicht. Aber du wurdest Christ. Dann hast du dich entschieden, deine Fähigkeiten zum Wohle anderer einzusetzen, indem du nach Venezuela gegangen bist. Und du hattest den Mut, auch dann noch weiterzumachen, als man dir von offizieller Seite die Unterstützung entzog. Du warst dir sicher, dass du zur richtigen Zeit am richtigen Platz warst. Genau das hat sich später auch bestätigt, als du die McNamaras getroffen hast. Wenn du nicht Christ gewesen wärest, hättest du wahrscheinlich kein Wort mit Thomas geredet und ihn zum Teufel gejagt, zumal er ein Amerikaner war und somit einer von deinen Erzfeinden als erklärte Kommunistin. Deine und meine Welt war einige Jahre zuvor zusammengebrochen, dein und mein Leben ein Trümmerhaufen, und nun war seine Welt zusammengebrochen, sein Leben ein Trümmerhaufen. Wenn wir beide nicht all diese negativen Erfahrungen in unserem Leben gemacht hätten, wäre Thomas vielleicht schon lange tot und sein Umfeld auch. Und im Unterschied zu ihm waren wir noch nicht einmal schuld daran, dass wir diese negativen Erfahrungen machen mussten. Aber er hatte sich in seinem Größenwahn selbst hereingeritten. Okay, und nun erkläre ich dir noch, was ich damit meine, wenn ich sage, dass die Frage nicht lauten sollte, was Thomas getan hat, dass Gott all die schrecklichen Dinge in seinem Leben zulässt, sondern was Thomas noch tun soll, dass Gott diese Dinge zulässt. Aber ich vermute, du kannst es dir schon ungefähr denken. Ohne mein Leiden hätte ich dir in deinem Leiden nicht helfen können. Ohne dein Leiden hättest du Thomas nicht helfen können. Ich weiß, es klingt hart und grausam, aber wenn Thomas jetzt nicht leiden würde, könnte er in Zukunft anderen leidenden Menschen nicht helfen. Weder er noch wir wissen, wer diese Menschen sein werden, aber Thomas wird sie genauso retten, wie du ihn gerettet hast und wie ich dich gerettet habe. Apropos retten, ich bin gewiss, dass Gott Thomas retten wird. Denn Gott ist immer noch Gott. Eins kann er auf den Tod nicht ausstehen, nämlich wenn Menschen sich benehmen, als seien sie Gott. Miguel Ramírez benimmt sich im Moment, als wäre er Gott. Er provoziert nicht nur uns und alle anderen mit diesen selbstherrlichen Videos, er provoziert auch Gott. Dieser Drogenbaron kann Thomas mit Ohrringen perforieren, auf denen ‘Eigentum von Miguel Ramírez’ eingraviert ist, aber dennoch ist und bleibt Thomas Gottes Eigentum. Er hat ihm sein Leben gegeben, und deshalb ist Thomas auch in Gottes Händen. Gott ist ferner viel mächtiger als der Drogenbaron, auch wenn das jetzt nicht so aussieht. Seine Macht ist unbegrenzt. Von daher stimmt der Liedtext, der dich so wütend gemacht hat. Nur manchmal fällt es uns sehr schwer, das zu glauben bzw. zu akzeptieren. Aber dafür brauchen wir uns nicht zu schämen. Gott kennt unser Herz. Weißt du noch, damals, als wir immer über Gott diskutiert haben, da konntest du dir nicht vorstellen, dass er dir deine ganzen Fehler und Pannen vergeben wird. Aber schließlich hast du das im Glauben für dich in Anspruch genommen, und es hat

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