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nein, Herr Richter, ich möchte gern einen Zeugen aufrufen!”

      „Warum das denn, was wollen Sie damit bezwecken? Denken Sie, Sie sind hier bei einem Schwurgericht!?”

      „Nein, Herr Richter, ich möchte nur meine Unschuld beweisen.”

      „Ihre Unschuld!?”

      „Ja, Herr Richter, das ist mein gutes Recht!”

      Carlo kramte in seinen Akten, fand, was er suchte, und hielt ein bedrucktes Blatt Papier in die Höhe:

      „Dieses höchstrichterliche Urteil vom 27. März 1957 mit dem Aktenzeichen...”

      „Also gut, also gut, Sie haben ja Recht! Der Zeuge, den Sie benennen wollen, ist wohl Ihr unbekannter Begleiter dort?”

      „Ja Herr Richter, das ist mein Freund Jens. Jens möchte eine Aussage zur Sache machen.”

      Auch wenn sich die Verhandlung dadurch aus Sicht des Richters vollkommen unnötig in die Länge zog, blieb ihm nach geltendem Recht nichts anderes übrig, als meinem Freund Karlchen zu Willen zu sein. Nachdem Jens’ Personalien in den Gerichtsakten notiert worden waren, durfte er als Zeuge „zur Sache“ aussagen:

      „Ich bin gefahren, Herr Richter!”

      „Was, wie denn das?” Der Richter war echt verblüfft.

      „Ich hatte mir das Auto von Carlo geliehen, weil ich mir das Handballspiel des THW Kiel ansehen wollte. Als ich das Auto vor der Sporthalle abgestellt habe, muss ich wohl das Parkverbotsschild übersehen haben.”

      Langsam dämmerte dem Richter, was hier abgehen sollte: „Also gut”, sagte er und schloss mit Schwung den Deckel seiner Akten, „dann beende ich mit dieser Zeugenaussage, die den Angeklagten entlastet, die Verhandlung, das Verfahren wird eingestellt.”

      Doch er hatte nicht mit meinem Freund Carlo gerechnet: „Einspruch, Herr Richter: Ich möchte, dass das Verfahren ordnungsgemäß zu Ende geführt wird. Mein tadelloser Leumund ist beschmutzt, ich fordere hiermit für mich einen formellen Freispruch!”

      Statt der geplanten zwanzig Minuten dauerte das Verfahren am Ende zwei volle Stunden. Trotz ständigem heftigen Kopfnickens von Jens Seite, kostete es Carlo noch einige Mühe, den Richter durch Hinweise auf ähnlich gelagerte Präzedenzfälle dazu zu bewegen, diesen Pillepalle-Prozess um eine banale Ordnungswidrigkeit wie gewünscht formal korrekt zu Ende zu führen. Doch Ende gut, alles gut: Zum guten Schluss gab es für Carlo den gewünschten Freispruch erster Klasse, und für den angeblichen Parksünder Jens sogar noch fünf Mark Zeugengeld aus der Staatskasse oben drauf.

      Das Ergebnis dieses Sensationsprozesses: Nach den Gerichtsakten war Jens der gesuchte und überführte Übeltäter und bekam dafür sogar noch ein finanzielles Handgeld aus der Staatskasse!

      Allerdings hätte Jens, dem voll geständigen Parksünder sofort nach der Verhandlung ein neues Knöllchen wegen falschen Parkens ausgestellt werden müssen. Aber seit dem überaus schändlichen Verkehrsdelikt waren in der Zwischenzeit mehr als drei Monate vergangen, und damit war die Verjährungsfrist leider schon abgelaufen.

      Doch selbst wenn es anders gewesen wäre, und man hätte Jens noch wegen Falschparkens zur Verantwortung ziehen können: Die fünf Mark, die er hätte haben müssen, um sein Knöllchen zu bezahlen, hatte er sich durch seine Zeugenaussage in dem Prozess ja schon verdient.

      Fazit: Ein geständiger Sünder, aber keine Strafe, sondern stattdessen eine „ansehnliche“ finanzielle Belohnung vom Staat. Ja, es ist wahr, Jurist müsste man sein, dann schlägt man selbst aus der krummsten Tour noch Gewinn!

      Man sieht sich immer zweimal

      Trotzdem kam für den eigentlichen Bösewicht Carlo nach diesem sauber eingefädelten Coup beinahe noch ein dickes Ende nach: Genau dieser Richter, den er zusammen mit seinem Freund Jens so fein aufs Kreuz gelegt hatte, wurde zum Ende seines Jurastudiums Carlos Prüfer im ersten Staatsexamen.

      Damit hätte es meinem guten Freund genauso ergehen können, wie in dem bekannten Witz:

      „Treffen sich Prüfer und Prüfling nach der Prüfung auf dem Klo an der Pinkelrinne, sagt der Prüfer zum Prüfling (von oben herab): ‚Also hier ziehen Sie auch den Kürzeren...’”

      Doch ganz so schlimm kam es glücklicherweise nicht, auch diese Geschichte hatte das gewünschte Happy-End, denn der auch die Prüfung ausführende Richter erwies sich trotz des vorangegangenen Dramas im Amtsgericht als fairer Verlierer: Mein Freund Karlchen kam am Ende ungeschoren durch die mündliche Prüfung und bestand sein juristisches Examen mit einer auch aus seiner eigenen Sicht ganz passablen Zensur.

      Wilde Zeiten als Student

      Im Wintersemester 1970, ein halbes Jahr nach dem bestandenen Abitur fing ich an, Mathematik an der alt-ehrwürdigen Georg-August-Universität in Göttingen zu studieren. („Nach Kiel zum Segeln, nach München zum Skilaufen, nach Göttingen zum Studieren...”)

      Die wilden sechziger Jahre, Jahre der technischen, gesellschaftspolitischen und kulturellen Innovation und Revolte wirkten noch einige Zeit nach, bis mit dem Ölpreis-Schock – Benzin kostete mit einem Male vierzig statt vorher nur zwanzig Pfennig pro Liter –, der Roten Armee Fraktion und den nachfolgenden Berufsverboten (vor allen Dingen, aber nicht nur für links gesinnte Lehrer) ab Mitte der siebziger Jahre erneut die politische Reaktion Einzug in Deutschland hielt.

      Doch die Ölkrise war noch in weiter Ferne, und so war ich schon etwas enttäuscht, als ich in Göttingens Hörsälen nicht die erwarteten wild kiffenden, langhaarigen Hippies oder bärtigen und eine Mao-Bibel unter dem Arm tragenden Revoluzzer antraf. Sondern überwiegend ganz normale und in meinen Augen daher ziemlich stieselige Bürgertöchter und -söhne, die brav studierten und an ihrer zukünftigen Berufskarriere bastelten.

      In der Geschichte ist Göttingen eben nie das Zentrum umwälzender Weltrevolutionen gewesen. Trotz der „Göttinger Sieben“ (Professoren), die gut hundert Jahre zuvor gegen ihren König in Hannover rebelliert hatten. Und dafür umgehend des Landes verwiesen wurden. Sogar die Gebrüder Grimm waren dabei und mussten ihre Märchen von da an woanders aufschreiben. Doch für das bürgerlich-brave Göttingen sind diese, den Aufstand gegen die Obrigkeit probenden Professoren eine absolute Ausnahmeerscheinung geblieben.

      Tatsächlich war das mit Abstand Wildeste, das mir von den Göttinger Studentenprotesten ein, zwei Jahre vor meiner Zeit berichtet wurde, die ruchlose Schändung eines Kriegerdenkmals, das das seltene Pech hatte, zufälligerweise direkt vor dem Eingang zum alten Audi Maximum, dem ehemals größten Hörsaal der Universität, aufgestellt worden zu sein. Das Denkmal war damit ein ständiger Stein des Anstoßes für alle Studenten, die täglich daran vorbeigehen mussten.

      Und so kam es, wie es kommen musste: Aus Protest gegen was auch immer wurden eines Nachts die Genitalien der überlebensgroßen nackten Männer, die auf ihren Händen gemeinsam einen gefallenen Soldaten zu seiner letzten Ruhestätte trugen, mit Leuchtfarbe angepinselt. Da das solchermaßen verunstaltete Kriegerdenkmal auch ohne diesen innovativen farblichen Akzent schon immer absolut potthässlich gewesen war, kann ich mir sehr gut vorstellen, wie hoch die Wellen der Empörung in der Göttinger Bürgerschaft damals geschlagen sind und wie sehr sich alle an diesem harmlosen Spaß beteiligten und unbeteiligten Studenten ins Fäustchen gelacht haben.

      Von Anbeginn an stand über dem Eingang des alten Göttinger Audi Maximums eine Statue des sagenumwobenen Barons von Münchhausen. (In unmittelbarer Sichtweite des heutigen Heinz-Ehrhard-Denkmals!) In jener Nacht, als das graue Denkmal so farbenfroh verschönert wurde, so erzählt man sich noch heute in Göttingen, soll sich auch in das Gesicht des Barons, der zu den vier Gründungsvätern der Göttinger Universität gehörte, ein leises Lächeln geschlichen haben. Vielleicht war das die Geburtsstunde der berühmten Göttinger „klammheimlichen Freude“…

      Zucker im Kaffee

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