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Fabrikhalle aufragte, gekrönt von einem Schlot, der sich in der Finsternis des schwarzen Abendhimmels verlor. Das eiserne Tor, hoch wie ein Mietshaus, war geschlossen. Er legte die Hand daran. Das Eisen wirkte warm und beinahe pelzig. Zoltan trat einen Schritt zurück, betrachtete das weiße Licht der Laterne neben dem versperrten Eingang, das sich in seiner glatten Oberfläche spiegelte, und legte dann wieder die Hand auf das Tor.

      Als er sie wegnahm, sah er die undeutlichen Umrisse einer Blume auf dem Eisen, wie eingedrückt in einen Eisspiegel. Wie der Seelenabdruck einer geflohenen Hoffnung. Traurig wandte er sich von dem unnachgiebigen Tor ab und begab sich zurück zu der vertrauten Straße, zu dem vertrauten Weg, zu dem Bürogebäude, seinem Kokon in der Nacht.

      Am Feiermorgen aber bog er wieder in jene Seitenstraße mit dem Tor in der Fabrikmauer ein. Und daneben, in einer Mauerritze, hatte sich in der Nacht eine Blume gebildet, eine blaue wie jene erste. Er hielt die Hand darunter, und die Blume fiel ab. Als hätte er dies erwartet, legte er die andere Hand zum Schutz darüber und trug die Blume nach Hause. Er füllte ein Trinkglas mit Wasser, stellte es auf den Tisch im Wohnzimmer und steckte die kleine blaue Blume hinein. Er lächelte sie an, wagte ob ihrer Fragilität nicht, sie zu streicheln, und hätte es doch so gern getan. In dem Bewusstsein, dass er nicht mehr allein war, ging er zu Bett.

      Die Finsternis in seiner Wohnung schien der blauen Blume nicht bekommen zu sein. Nachdem Zoltan erwacht war und das Kunstlicht eingeschaltet hatte, eilte er ins Wohnzimmer, doch die Blume hatte alle Blätter abgeworfen, und der blassgrüne kahle Stängel ragte wie eine Anklage aus dem Wasserglas.

      Als Zoltan das Fenster öffnete, drang eine Brise zwischen den Ritzen der alten Rollläden hindurch, und die Blütenblätter auf dem Tisch zerfielen zu Staub. Dahin war das neue Leben.

      Abermals begab er sich früher nach draußen, ja, er wagte es, die Straßen schon zu betreten, als die Dämmerung gerade erst der Novemberfinsternis wich. Er verabscheute die Massen der Menschen, die ihm entgegenwogten und deren stinkender brauner Atem die Luft um ihn herum verpestete. Er wurde angerempelt, ihn schauderte, aber er stemmte sich gegen sie, gab nicht auf. Als er die Seitenstraße erreichte, schwitzte er entsetzlich. Er fühlte sich schmutzig, klebrig von all den Blicken, Berührungen, Ausdünstungen. Doch dann stand er vor dem Tor, neben dem er am Morgen die Blume gepflückt hatte, und atmete auf. Er spürte die beruhigende Leere der Häuser hinter sich, deren Leben nie nach draußen drang. Er sah niemanden auf der Straße, die der Stadt, in der sie lag, so fern zu sein schien. Aber er sah, dass das gewaltige Eisentor einen Spaltbreit geöffnet war. Der Spalt erschien zu winzig, um sich hindurchzuquetschen, aber Zoltan konnte einen Blick in den Hof dahinter werfen. Das Licht der Laterne neben dem Tor erhellte nur einen kleinen Streifen hinter der Mauer, aber schon in diesem sah er viele blaue Blumen wie jene beiden, die sich durch die Fugen der alten Mauer gebohrt hatten. Sein Herz tat einen Sprung. Er begriff nicht, wie solche Blumen in Ziegelwänden blühen konnten, und er begriff nicht, wie sie im dunklen Asphalt überlebten, zumal im kalten November, doch ihr Anblick war für ihn wie der Blick in ein Land der Verheißung. Er stemmte sich gegen das Eisentor, aber es gab keinen Millimeter nach. Schließlich musste er aufgeben.

      Die ganze Nacht hindurch sann er über die Blumen hinter dem Tor nach. Wie gern würde er sie berühren, sie bewahren, sie bestaunen. Sie waren alles, was die Menschen nicht waren: schön, rein, ruhig, freundlich. Er musste sie wiedersehen.

      Und er sah sie wieder, als er auf dem Heimweg einen Abstecher zum Tor der Fabrik machte. Noch immer stand es einen Spaltbreit offen; noch immer konnte er nicht in den Hof dahinter gelangen. Er kniete nieder, streckte die Hand aus, versuchte die nächste Blume zu packen, aber sie wuchs knapp außerhalb seiner Reichweite. Erst als er aufgab und in Richtung seiner Wohnung ging, wurde ihm bewusst, dass er auf dem Gelände der Fabrik keinen einzigen Menschen gesehen hatte, und auch kein Licht, und aus dem hohen Schlot war auch kein Rauch gedrungen, der von Arbeiten zeugte, und er hatte nicht das geringste Geräusch gehört. Offenbar war die Fabrik verlassen, aufgegeben und wurde allmählich von der Natur zurückerobert. Er sehnte sich dorthin.

      Und im Traum schaffte er es, das Tor ein klein wenig weiter zu öffnen und in den Hof dahinter zu gelangen. Der schwarze Asphalt war mit zahllosen blauen Blumen übersät, die in einem breiten, ausgefransten Teppich zum Haupttor der Fabrikhalle führten. Dieses Tor stand weit offen, aber dahinter erkannte er nichts als Schwärze. Ein seltsamer Laut drang heraus, ein leises, feuchtes Saugen, Rascheln, Schmatzen. Als er neben den Teppich aus Blumen trat, weil er sie nicht zermalmen wollte, und einige Schritte auf die Fabrikhalle zu machte, wurden die Geräusche stärker. In ihnen schien etwas Verkapseltes zu leben, das kurz vor dem Ausbruch stand.

      Und plötzlich waren die kleinen blauen Blumen neben ihm nicht mehr schön. Sie drehten ihm die Köpfe zu, und ihre winzigen schwarzen Staubbeutel pulsierten. Kleine gelbe Kapseln steckten darin, wirkten wie Augen. Sie alle sahen ihn an.

      Und er erwachte.

      Wieder brach er mehr als eine Stunde früher zu seiner Schicht auf. Draußen war es natürlich schon dunkel, und er ging langsamer als gewöhnlich. Als er an der langen Ziegelmauer der Fabrik ankam, blieb er stehen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Den ganzen Tag hindurch hatte er den Traum nicht abschütteln können, der sein Paradies so unerwartet in etwas Unheimliches, Bedrohliches und Abscheuliches verwandelt hatte. Zumindest empfand er es so, wenn er an die Schlafgesichte des Tages zurückdachte.

      Er sah keine der blauen Blumen mehr an der Wand, aber er beschloss weiterzugehen. Er bog in die Seitenstraße mit dem Tor ein, war auf der Suche, obwohl er es nicht wollte. Doch auch hier sah er nichts als Ziegel und starrende Häuser auf der anderen Seite, wie am vergangenen Tag.

      Aber das Tor hatte sich weiter geöffnet, wie in seinem Traum.

      Das Herz stockte ihm in der Brust, als er vor dem Spalt zwischen dem Tor und der Mauer stand und in den Hof dahinter schaute, der schwach von der Straßenlaterne beleuchtet wurde. Er sah die unzähligen Blumen, die einen gewundenen Teppich in eine Schwärze hinein bildeten, in deren samtener Struktur keine Umrisse mehr zu erkennen waren. Zoltan warf einen Blick die Straße hinauf und hinab; sie war so leer und tot wie immer. Er holte tief Luft und schlüpfte durch den Spalt des eisernen Tores.

      Wie in seinem Traum wagte er es nicht, den Teppich aus Blumen zu betreten. Doch im Gegensatz zu seinem Traum drehten sie ihm nicht die Köpfe zu und sahen ihn nicht an. Vorsichtig ging er einige Schritte weiter auf die Schwärze zu, die ihn bald ganz einhüllte. Nur die Blumen waren als blassblaues Band links neben ihm noch undeutlich zu erkennen. Der Spalt zwischen Tor und Mauer war, als er sich kurz umdrehte, ein weißer, senkrechter, vollkommen konturloser Streifen.

      Zoltan drehte sich einmal um sich selbst. Ganz schwach zeigten sich ihm die hohe Umgrenzungsmauer und das gewaltige Gebäude der Fabrikhalle; seine Augen gewöhnten sich allmählich an das dunkle Licht. Der Blumenteppich auf dem Asphalt nahm eine kräftigere Färbung an, und er führte auf ein rechteckiges Loch zu, das in der Mauer der Fabrikhalle klaffte und noch höher und breiter als das eiserne Eingangstor war. Zoltan ging darauf zu.

      Es war ein weit offen stehendes Tor, das in die Halle führte. Die Blumen wuchsen nur bis an die Schwelle. Er überschritt sie, steckte den Kopf in die beinahe stoffliche Finsternis, erkannte nichts. Buchstäblich nichts. Ihm war, als sei er von der Existenz in die Nichtexistenz gewechselt. Er drehte sich um, als er ein leises Knarren und Quietschen weit, weit hinter sich hörte. Gerade noch sah er den senkrechten Lichtstreifen in der Ferne, der rasch schmaler wurde, bis er unter einem gewaltigen Donnern ganz verschwand. Das Tor in der Mauer hatte sich geschlossen. Wie sollte er jetzt wieder nach draußen kommen? Er würde bis zum Tageslicht warten müssen, er würde nicht rechtzeitig zur Arbeit erscheinen, zum ersten Mal, er würde die Tagwelt sehen, zum ersten Mal seit langer Zeit, und das war eine schreckliche, unerträgliche Vorstellung. Er machte einige Schritte in die einladende Finsternis der Fabrikhalle hinein. Vielleicht gab es hier irgendwo einen weiteren Ausgang. Aber selbst wenn er existierte, würde Zoltan ihn nicht finden; er würde blind an ihm vorbeigehen. Er streckte die Arme vor sich, damit er nicht gegen ein Hindernis stieß. Vorhin war noch ein wenig diffuses Licht vom dunklen Hof hereingedrungen, aber jetzt erkannte er nicht einmal mehr einen Umriss. Er war in der ihn umspinnenden Finsternis verloren.

      Warum war er von seinen Gewohnheiten abgewichen, warum war

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