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halten und stürmte hinein.

      „Wie es aussieht, haben wir tatsächlich eine Krypta gefunden. Wir gehen jetzt rein und finden für euch raus, wer hier die letzte Ruhe gefunden hat.“ Ich folgte Judy. Doch sobald ich die Schwelle passiert hatte und mit ihr den Raum inspizieren wollte, schloss sich die Tür hinter mir mit lautem Knall und wir hörten, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde. Judy gab ein Geisterbahnkreischen von sich, während ich ungeduldig gegen die Tür wummerte. Besonders beunruhigt waren wir aber beide nicht. Solche Streiche gab es schon so lange, wie Menschen sich in verlassene Gebäude schlichen.

      „Na komm, schauen wir uns um, das wird ihm doch eh bald langweilig“, schlug ich vor und wir machten uns daran, die Namen auf den Sarkophagen zu entziffern, damit wir sie später flüssig vortragen konnten. Doch dann geschah etwas, das uns, obwohl wir uns in einem Raum unter der Erde befanden, der vielleicht sogar einmal zum Schutz gedient hatte, in Deckung gehen ließ. Als wir den ersten Schuss hörten, kauerten wir uns auf den Boden, beim zweiten klammerten wir uns aneinander, nach dem dritten hörte ich Judy an meinem Ohr hyperventilieren. Es dauerte vermutlich über eine Stunde, bis eine von uns zu sprechen wagte.

      „Wir kennen Janusz noch nicht lange“, flüsterte ich, „vielleicht treibt er seinen Scherz gerade einfach ein bisschen zu weit. Was, wenn er selbst geschossen hat?“

      „Aber warum kommt er dann nicht endlich zurück? Da stimmt etwas nicht. Ich glaube …“ Judys Zähne schlugen aufeinander. „… ich glaube er ist tot!“

      Ich versuchte sie zu beruhigen.

      „Wir wissen doch gar nicht, was passiert ist. Vielleicht waren das Schüsse von einem Jäger und es ist reiner Zufall, dass wir sie hier gehört haben.“

      „Direkt an einer Kapelle? Auf dem Schlossgelände? Das glaube ich kaum.“ Judy rückte von mir ab und schlang die Arme um ihren Oberkörper. Dann durchfuhr sie ein Ruck und sie sprach aus, was die ganze Zeit ungesagt in der Luft gehangen hatte: „Wissen die, dass wir hier unten sind? Was haben die vor?“

      Danach gab es die und wir.

      Irgendwann flackerte meine Taschenlampe und ging aus. Die Angst vor der vollständigen Dunkelheit drückte uns beide, das wussten wir, auch ohne es explizit angesprochen zu haben. Und weil bisher noch nichts geschehen war, rappelten wir uns auf und sahen uns um, solange das noch möglich war. „Kopf hoch, Judy, vielleicht finden wir Kerzen. Kann doch sein, dass jemand mal einen Vorrat angelegt hat.“

      „Hey Red“, flüsterte Judy aufgeregt, „siehst du das da? Ist das ein Loch?“ Wir tasteten uns an der Wand entlang und fanden einen schmalen, kaum schulterhohen Durchgang in einen weiteren Raum. Vermutlich war er für nachfolgende zu bestattende Adlige angelegt, aber nie ausgebaut worden. „Kerzen!“, rief Judy, die in der Aufregung das Flüstern vergaß. Ihr Taschenlampenlicht erfasste in einem Metallregal aufgestapelte Kerzen. Dann schwenkte es ruckend in die anderen Fächer. „Wasser in Plastikflaschen“, stammelte sie. Wir wussten nicht, ob wir uns darüber freuen sollten oder nicht, denn nun stand endgültig fest, dass dieser Ort keineswegs so verlassen war, wie wir angenommen hatten. Wir befanden uns im Versteck von jemandem, der garantiert nicht erfreut sein würde, uns hier anzutreffen. „Geheimdienst, Drogen, Menschenschmuggel, was weiß denn ich?“ Judys Stimme überschlug sich und sie mutmaßte stakkatoartig weiter. Ich zündete eine Kerze an. Das Gezappel mit der Taschenlampe machte mich wahnsinnig. Ich sah mich nun auf eigene Faust in der Kammer um und entdeckte etwas äußerst Merkwürdiges. „Komm mal her!“, rief ich Judy zu. Was auch immer es war, das ich gefunden hatte, es würde sie ablenken und ihre immer schriller werdende Stimme zumindest kurzfristig verstummen lassen.

      Fünnef

      Jemand hatte eine Art Schrein errichtet. Ohne darüber nachzudenken steckte ich die jungfräulichen Kerzen an, die ein gerahmtes Foto in wuchtigen, sakral wirkenden Haltern flankierten. Im Schein der Flammen wurde das Portrait einer dunkelhaarigen jungen Frau sichtbar. Es sah aus, als wäre es einmal zu einem besonderen Anlass bei einem Fotografen gemacht worden. Davor lag eine Todesanzeige: „Alicja Schatten, 1994-2010“, las ich. Judy nahm mir den Zettel aus der Hand. Während sie ihn sich ansah, entdeckte ich einen Brief, der hinter einer Vase mit Kunstblumen klemmte. Ich zog einen handbeschriebenen Bogen aus dem unverschlossenen Umschlag. „Ach du Scheiße“, entfuhr es mir, „das ist ein Abschiedsbrief!“ Wieder versuchte Judy mir das Papier zu entreißen, doch diesmal war ich schneller, drehte ihr den Rücken zu und begann laut vorzulesen. „Gott, wie schrecklich“, sagte ich nachdem ich geendet hatte, „sich wegen Mobbing umzubringen. Armes Mädchen. Und dann noch wegen einer Peinigerin, die ‚Chantal‘ heißt.“ Alicja hatte in ihrem Brief nämlich nur einen Namen genannt, und zwar den der Rädelsführerin. Chantal. Das machte das Tragische unfreiwillig komisch.

      „War bestimmt ne ganz fiese Asi-Schlampe, die ihr heutzutage garantiert vollkommen am Arsch vorbei gehen würde.“

      Ich drehte mich um und reichte Judy den Brief. Sie nahm ihn ohne hinzugucken. „Muss übel sein, wenn dir jemand die Schuld für seinen Selbstmord gibt“, mutmaßte ich düster.

      „Vielleicht wusste diese Chantal es gar nicht“, antwortete Judy und steckte den Abschiedsbrief zurück in den Umschlag.

      „Keine Ahnung.“ Ich ging zum Regal und untersuchte das Haltbarkeitsdatum auf den Wasserflaschen. „Sieht gut aus“, sagte ich, „laufen erst nächstes Jahr ab.“

      Judy kam mir nach und öffnete eine Flasche. „Durst“, sagte sie entschuldigend.

      „Wenn jemand das hier zum Zweck der Trauer oder des Gedenkens eingerichtet hat, kommt er wahrscheinlich regelmäßig her. Das könnte unsere Rettung sein. Vor allem, wenn dieser Raum gar nicht in Zusammenhang mit den Schüssen steht …“ Ich gab mir Mühe möglichst positiv zu klingen.

      „Ja, vielleicht“, murmelte Judy. Wir setzten uns auf unsere Jacken, tranken Wasser und teilten meinen letzten Müsliriegel. Alicjas Kerzenleuchter hatten wir in Griffweite neben uns gestellt. Judy checkte zum wohl hundertsten Mal den Netzempfang. Vergebens.

      Sächz

      „Ich muss dir etwas gestehen, Red.“ Das Kerzenlicht schmeichelte ihr. Sie sah aus wie eine Filmheldin, die auch nach wilden Verfolgungsjagden, Kletterpartien und diversen Stürzen noch immer auf natürlich wirkende Weise hübsch war; oberflächlich zerzaust, in Wahrheit aber makellos. Ich nickte ihr zu. Außer unseren Atemzügen war eine Weile nichts zu hören.

      „Ich kannte das Mädchen. Alicja.“ Judy seufzte bleischwer.

      „Echt jetzt? Wie ist denn das möglich? Was für ein irrer Zufall!“

      „Kein Zufall“, gab sie kleinlaut zu.

      „Alicja ging auf meine Schule. Und nachdem, was sie in ihrem Brief schreibt, haben wohl meine Freunde und ich dazu beigetragen, dass sie sich …“

      „Jetzt sag mir bitte nicht, dass du diese Chantal bist?“, fuhr ich sie an. Judy nickte und brach in Tränen aus.

      „Das kann doch nicht wahr sein! Dann wurde das extra für dich hier inszeniert? Von jemandem, der wusste, dass wir kommen?“ Ich sprang auf und lief wie ein gestresstes Zootier hin und her.

      „Der geheime Tippgeber für die Location“, schluchzte Judy auf, „muss das alles von langer Hand geplant haben. Um mich zu bestrafen.“

      „Und was hab’ ich bitte mit deiner Bestrafung zu tun?“ Mein Tonfall entglitt mir; ich hörte, wie er sich ätzend einfärbte, ich laut wurde und es mir einzig darum ging, sie rund zu machen. „Was kann ich denn dafür, dass du diese Alicja bis zum Selbstmord gemobbt hast? Darf ich wenigstens wissen, was du ihr angetan hast, Chantal?“ Ich ließ mir Judys richtigen Namen mit aller Bösartigkeit auf der Zunge zergehen.

      „Hör schon auf!“, schrie sie mit funkelnden Augen, „wer bringt sich denn um, nur weil ihm unreife Jugendliche ein paar Sprüche reindrücken? Sowas passiert doch jedem mal. Ich bin doch nicht schuld an ... Das ist Bullshit!“

      „Offenbar ist da jemand anderer Meinung. Und dem sind wir gründlich in die Falle

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