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Kombinationsgabe gehörten nicht zu seinen herausragenden Eigenschaften, auch hätte er sich mir gegenüber in dem Fall wohl anders verhalten. Er gab sich Mühe, je nach Gelegenheit intelligent und souverän oder charmant und mitfühlend zu wirken, aber nichts davon entsprach seinem Wesen. Er wirkte wie das Abziehbild eines Menschen, geformt aus Klischees und Werbebotschaften, eine Melange aus einer Vielzahl geschauspielerter Rollen aus den Daily Soaps, die meine Mutter fleißig konsumierte. Manchmal, wenn er sich unbeobachtet wähnte, froren seine Gesichtszüge ein, und seine seelenlos starrenden Augen verwandelten sich in blinde Spiegel, in denen eine kalte Grausamkeit lag, die ich nicht ertrug und die mich zwang, den Blick abzuwenden. Vielleicht war er die fleischgewordene Essenz einer Schaufensterpuppe, vielleicht die einer Spinnenfliege – oder etwas vollkommen anderes. Eins aber stand fest: Ich konnte nicht zulassen, dass diese Kreatur weiterhin meinen alten Körper missbrauchte, dem ich mich irgendwie noch immer verpflichtet fühlte. Ich musste nur warten, bis ich die physischen Voraussetzungen besaß, den in mir reifenden Vorsatz umzusetzen.

      ***

      Wir sind allein in der Wohnung. Er lungert mit Kopfhörern am Schreibtisch und spielt ein Online-Game, darauf vertrauend, dass ich brav über meinen Hausaufgaben sitze. Ich nehme das Messer aus der Küchenschublade, das schon früher zu diesem Haushalt gehörte. Dreißig Zentimeter Solinger Qualitätsware, ein Geschenk meines richtigen Vaters an Nina. Es ist eine Genugtuung, zu wissen, dass es von ihm stammt. Ich verberge es hinter mir, als ich ins Zimmer trete. Ich habe genau recherchiert, wo und wie ich zustechen muss.

      Er beugt sich zum Bildschirm, während sein – mein! – Zeigefinger hektisch die Maustaste betätigt. Ich hebe die Arme, lasse sie kraftvoll hinunterschnellen, so wie ich es unzählige Male an alten Matratzen und Reifen erprobte, die ich im Schrott auf dem Hinterhof fand.

      Der Oberkörper des Toten hängt über der Tastatur, der Kopf mit dem dunklen, fast schwarzen Haar lehnt gegen den gekippten Monitor. Mein Hass ist erloschen. Ich fühle Bedauern, diesen Körper zerstört zu haben, mit dem ich über viele Jahre hinweg eine Einheit bildete. Gibt es einen Unterschied zwischen meinem alten Ich und dem neuen oder ist wirklich nur die hüllende Physis eine andere? Nachdenklich beobachte ich, wie das Blut auf dem Schreibtisch trocknet. Wie viele nach außen ganz gewöhnliche Menschen geben vor, denkende, empfindsame Wesen zu sein, und sind doch nichts als leere Hüllen? Puppenseelen … Sanft lege ich meine kleine, blutverschmierte Hand auf ihr größeres Gegenstück und lehne meine Wange an den Rücken des Mannes, der ich einst war.

      Klackern von Absätzen im Treppenhaus, ein Schlüssel klirrt im Schloss. Kurz darauf ertönt der Aufschrei meiner Mutter. Ein zweiter Schrei wird erstickt. Ohne mich umzudrehen, sehe ich, wie sie die Hände vor den Mund schlägt. Diesen kleinen Mund mit den zu vollen Lippen, Puppenlippen, bezüglich derer ich den Verdacht hege, sie seien aufgespritzt. Auf einmal weiß ich, wer sie ist. Sie hat mächtig abgespeckt und sich die Haare lang wachsen lassen. Susanne aus der Berufsschule, die mich damals anhimmelte, sehr zur Belustigung meiner Kumpels. Ich habe sie ausgelacht, obwohl sie mir irgendwie auch leidtat. Das muss sie gespürt haben, denn auch nach meinem Abschluss erhielt ich noch eine Zeit lang Nachrichten von ihr. Also hatte sie am Ende doch noch bekommen, was sie wollte … Es klingt, als stolpere sie gegen den Türrahmen, gleich darauf höre ich ihre sich überschlagende Stimme, als sie die Notrufzentrale alarmiert.

      Es dauert nicht lange, bis erneut Schritte die Treppe heraufpoltern, diesmal von mehreren Personen. Ob ich ihnen je sagen werde, warum ich tat, was ich tat? Ich werde ausreichend Gelegenheit haben, darüber nachzusinnen. Der Gedanke an eine lange Zeit der Abgeschiedenheit schreckt mich nicht. Ich werde warten. Ich werde wachsen, und mir währenddessen die Menschen dort draußen sehr genau ansehen. Ich werde bereit sein.

      Michael Siefener - Die Fabrik

      Zoltan Zartek lebte schon lange in dieser Stadt, aber noch nie hatte er hier etwas so Schönes gesehen. Wie jeden Morgen kam er auf dem Heimweg von seiner Arbeit an der langen Ziegelmauer der alten Fabrik vorbei, und wie jeden Morgen war es noch dunkel. Im Sommer endete seine Schicht früher, sodass er es gerade noch schaffte, im Schutz der schwarzen Nacht seine Wohnung zu erreichen. Jetzt, im späten November, arbeitete er eine Stunde länger, ging aber nach Hause, noch bevor die Stadt ganz erwachte. Er war Nachtwächter in einem Bürogebäude, und er schätzte diese Tätigkeit, da sie es ihm ermöglichte, die Stadt, in der er als Fremder unter Fremden lebte, nicht bei Tage ertragen zu müssen. Und nun, auf dem Heimweg, sah er an jener langen Ziegelmauer der alten Fabrik, benetzt vom kalten Licht einer Straßenlaterne, aus einer der zerbröckelnden Fugen etwa in Kopfhöhe eine winzige blaue Blume hervorlugen. Sie bebte in einem schwachen Luftzug, schien ihm zuzunicken, ihn wie einen Freund zu grüßen. Im späten November. Er blieb stehen und betrachtete die kleine Blume. Um was für eine Art es sich handelte, vermochte er nicht zu sagen, doch welche Blume blühte im späten November, in der Dunkelheit, umnetzt von starrem Kunstlicht? Versunken stand er da, lächelte und bemerkte kaum, wie es um ihn herum lebhafter wurde. Die Stadt, diese Bestie, erwachte. Er zwang sich weiterzugehen.

      In seiner Wohnung ließ er alle Rollläden herunter, wie jeden Morgen, und legte sich sogleich zu Bett. Er träumte von der kleinen, unmöglichen Blume.

      Am nächsten Abend zog er die Rollläden wieder hoch, nachdem die Sonne untergegangen war, und wartete in seinem abgeschabten Sessel auf die Stunde, in der er erneut nach draußen und zur Arbeit gehen würde. Er empfand die Nacht als angenehm, und vor den Menschen, die sich in ihr bewegten, hatte er keine Angst. Sie waren Fremde wie er selbst. Es waren jene im Tageslicht, die für ihn gefährlich waren, wie er schmerzhaft hatte erfahren müssen. Den Bestien des Tages konnte er kaum ausweichen, wenn er draußen war, jenen der Nacht blieb er fern; die Finsternis schuf einen Schutz um jedes ihrer Kinder.

      Als er, erneut ins Dunkel aufgebrochen, die lange Ziegelmauer der Fabrik erreichte, sah er die kleine blaue Blume schon von Weitem. Mit schnellen Schritten näherte er sich ihr. Sie badete in dem sanften künstlichen Licht, das nichts von der grellen Zerrissenheit des Tages an sich hatte. Er hielt den Kopf nahe an die kleinen blauen Blütenblätter heran und behauchte sie. Sein Atem trieb als feuchtwarmer Dunst hervor und hüllte die Blume ein. Einige Kristalle glitzerten nun auf ihr. Er machte einen Schritt zurück, drehte sich um und ging beschwingt zu seiner Arbeit.

      Als er lange vor Anbruch der Morgendämmerung und nach einer ereignislosen Nacht des Wachens und Träumens seiner Wohnung entgegenging, freute er sich darauf, die blaue Blume wiederzusehen. Wir groß war daher seine Trauer, seine Enttäuschung, als er an der Fabrikmauer anlangte und sehen musste, dass die Blume abgefallen war. Mit erstarrten, steif gefrorenen Blättern lag sie auf dem Asphalt des Bürgersteigs. Er bückte sich, nahm sie in die Hand. Unter seiner Berührung schmolz der zarte Eispanzer, doch auch das Blau der Blütenblätter löste sich auf, wurde von einer Brise fortgetragen. Zoltan Zartek sah fassungslos zu, wie der Novembertraum zerstob. Dann weinte er.

      An jenem Tag, in der künstlichen Finsternis seiner Wohnung, träumte er von der Blume und von vielen weiteren Blumen, die aus den Fugen zwischen den rötlichen Ziegeln der alten Fabrikmauer hervorsprossen, und als er aufwachte, war die Trauer ein wenig besänftigt. Beinahe hoffnungsfroh wartete er auf den Beginn seiner Schicht.

      Er verließ die Wohnung eine Stunde früher als gewöhnlich.

      Keine neue Blume hatte sich an der Stelle angesiedelt, an der gestern die alte gestorben war, doch Zoltan gab nicht auf. Zwar sah er auf der ganzen Länge der Ziegelmauer keinen einzigen blauen Punkt, doch nun bog er in die nächste Seitenstraße ein, in die sich die Mauer im rechten Winkel fortsetzte. Hier war er noch nie gewesen; diese Straße war so fremd für ihn, dass sie in einem anderen Land, in einer anderen Welt hätte liegen können.

      Es war dunkler hier, da die Laternen weiter auseinanderstanden, und beinahe hatte er den Eindruck, es sei kälter. Er zog den Kragen seines Mantels enger um sich, und sein Atem trieb als fahle Blüte vor ihm her. Die Mauer zu seiner Rechten setzte sich scheinbar endlos bis in die blasse Dunkelheit fort, und von der gegenüberliegenden Seite blickten Häuser mit leeren, lichtlosen Augen auf sie herab. Sie wirkten verlassen – oder das Leben hatte sich in ihren Kern zurückgezogen, wartete und brütete. Zoltan ging einige Schritte die Straße entlang, sah aber nirgendwo die Blumen aus seinem Traum. Bald hatte er ein gewaltiges Tor in der

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