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hörte er wieder das seltsame Saugen und Rascheln. Es kam aus der Dunkelheit vor ihm, war nun viel lauter und ekelhafter. Es schien seine Position nicht zu verändern; er selbst war es, der sich darauf zu bewegte. In diese Richtung durfte er nicht weitergehen, aber wohin sollte er sich dann wenden? Wo mochte ein zweiter Ausgang liegen?

      Ihm wurde warm; er spürte, wie er schwitzte. Er atmete tief durch und roch etwas – etwas Erdiges, Reiches, Fettes. Etwas Lebendiges. Instinktiv wich er einige Schritte zurück, auch wenn er vor sich nichts erkennen konnte. Nichts, was eine Gefahr dargestellt hätte. Doch das, was undeutlich durch seine Gedanken huschte – der Ursprung der seltsamen Laute –, war schlimmer als alles, was er hätte sehen können. Er musste von hier verschwinden. Es war ein Fehler gewesen, herzukommen auf der Suche nach etwas, das es nicht gab.

      Zoltan drehte sich um und ging immer schneller auf das weit offen stehende Tor der Fabrikhalle zu, das sich als dunkelgraues, riesiges Geviert in der schwarzen Wand abzeichnete. Die seltsamen Geräusche hinter ihm wurden leiser, und der Geruch zersetzte sich. Bald stand er wieder draußen im Fabrikhof, und der breite Teppich der kleinen Blumen wies zum verschlossenen Tor in der Umgrenzungsmauer. Zoltans Augen waren durch die Dunkelheit in der Halle geschärft, und er sah deutlich die unzähligen blauen Blütenblätter, die sich ihm zudrehten, als er neben sie trat. Er lief zurück zum äußeren Tor, aber es ließ sich nicht öffnen. Inzwischen war es für ihn hier draußen beinahe so hell wie am Tage. Wie mochte es erst sein, wenn die Sonne aufging? Bei diesem Gedanken raste sein Herz vor Entsetzen.

      Er lief an der Mauer entlang, weil ihm nichts Vernünftigeres in den Sinn kam. Hier und da entdeckte er kleine Schutthaufen, aber abgesehen davon befand sich nichts in dem Fabrikhof, auch keine weiteren Blumen. Und vor allem weder Tor noch Tür. War da nicht bereits ein Schimmern am Himmel? Wie konnte das sein? Er befand sich schließlich noch nicht die ganze Nacht hier. Oder etwa doch? Hatte er nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen war? Er blieb stehen, atmete heftig. Legte den Kopf in den Nacken. Dort hinten – war das Osten? – glaubte er am Himmel, hoch über der Umfassungsmauer, einen silbernen Streif auszumachen. Er rannte weiter, bis er an die Wand der Fabrikhalle stieß, die unmittelbar an die Außenmauer angebaut war und an der Querseite keine Öffnung aufwies. Also umrundete er auch diese Wand und stand bald wieder vor dem gewaltigen Eingang zur Halle. Auch in ihr schien es ein wenig heller geworden zu sein. Aber vielleicht gab es im Innern einen zweiten Ausgang, und vielleicht konnte er ihn jetzt sehen …

      Als er die Halle betreten hatte, blieb er stehen, denn er wollte nicht über ein Hindernis stolpern, auch wenn sich nun bereits etliche Umrisse vor seinen Augen abzeichneten. Er glaubte große Maschinen zu sehen, gewaltige Turbinen oder Kessel, allesamt seit Langem nicht mehr in Gebrauch, und er konnte sich nicht vorstellen, was hier einmal produziert worden sein mochte. Nachdem sein Blick noch ein wenig schärfer geworden war, wagte er weitere Schritte. Und hörte bald wieder die seltsamen, reißenden und schleifenden, rauschenden und raunenden Geräusche.

      In einiger Entfernung vor ihm, vor der rückwärtigen Wand, bewegte sich etwas. Etwas Gigantisches. Es reichte bis unter die Decke. Zoltan Zartek stand erstarrt da. Es schwankte sanft wie in einem bloß eingebildeten Luftzug. Und es kam auf ihn zu. Oder vielleicht ging er auf es zu. Er wusste es nicht, alles war durcheinandergeraten, Zeit, Raum, Gefühle. Er wollte weglaufen, wollte auf es zu laufen, wusste, was es war, wusste es nicht. Wusste nichts mehr …

      Und dann drang ein Lichtstrahl, ein Strahl des neuen, noch so fernen Tages, des Tages aller Tage, durch eines der hohen, schmalen Fenster hinter dem bebenden Gebilde, das bis zur Decke reichte. Der Strahl fiel an dem Wesen vorbei, denn ein solches war es, und erfasste ihn. Er schloss die Augen. Aber er hatte gesehen.

      Er hatte den mächtigen Stamm gesehen, dicker als jeder Baumstamm, aber auch biegsamer. Und er hatte die blauen Blütenblätter gesehen, groß wie Segel, fleischig wie Zungen, und die darin steckenden Staubbeutel mit den gelben Köpfen. Ja, es waren Köpfe, Köpfe mit schwarzen Augen und flachen Nasen und heraushängenden Zungen. Und die gesamte Blüte neigte sich ihm zu, die Köpfe trieben ihm entgegen, mit aufgerissenen Mündern, mit schwarz starrenden Augen. Dann sah er nichts mehr, und er spürte, wie hinter seinen geschlossenen Lidern das Licht erstickte. Und er hörte, und er roch … Und er spürte, wie sich etwas Gewaltiges über ihn stülpte.

      Das Licht war ewiger Dunkelheit gewichen. Als ihn die zahllosen Münder erreichten, vermochte er nicht zu entscheiden, ob er von übermächtigem Grauen oder von überwältigender Ekstase zerrissen wurde.

      Karin Reddemann - Weh Mutterherz

      Bengt-Jörn Schwenke war nach durchaus reiflicher Überlegung zu dem Entschluss gekommen, seine Mutter umzubringen. Eine andere Möglichkeit, sie loszuwerden, fiel ihm beim besten Willen nicht ein. Freiwillig schien sie das Feld nicht räumen zu wollen, dafür war sie trotz ihres hohen Alters schlichtweg zu gesund. Ein Seniorenheim kam nicht infrage. So was kostete ein Vermögen, Bengt-Jörn brauchte ihr Geld für eigene Zwecke. Für seine Mutter stand eh fest, dass sie „irgendwann einmal in einem hübschen Sarg“ aus ihrem eigenen Haus getragen würde. Irgendwann einmal! Tatsächlich schien sie mindestens hundert werden zu wollen. Das ging gar nicht. Also musste er sie ermorden.

      Behaglich war ihm der Gedanke nur bedingt, schließlich handelte es sich um seine Mutter. Andererseits mochte er sie nicht mehr so sehr, seitdem er nach der Trennung von Anna wieder bei ihr eingezogen war. Zehn Jahre war das nun her, eine irritierend lange Zeitspanne, wie Bengt-Jörn befand, der nur sehr kurzfristig wieder sein altes Jugendzimmer beziehen wollte. Anna hatte ihn kompromisslos aus ihrer Wohnung geworfen und als für sie „endgültig erledigt“ bezeichnet, absolut grundlos, wie er fand. Er hatte freilich auch nie das geringste Interesse verspürt, mögliche Gründe wissen zu wollen. Jetzt hatte er Corinna kennengelernt, und die benötigte einen Mann, der ihr etwas bieten konnte. Dieser Mann war er. Zumindest würde er es sein, wenn die Mutter weg wäre.

      Bengt-Jörn stieß eher zufällig auf Todesfälle, die sich für eine kleine Recherche bezüglich seiner Gesamtsituation anboten. In der Zeitung berichteten sie über einen Studenten aus dem Ruhrgebiet, der seiner Mutter mit einer Hantel den Kopf eingeschlagen hatte. Dieser Akt unschöner Gewalt, für den Bengt-Jörn trotz eigener Mordintention kein rechtes Verständnis aufbringen konnte, war auf eine gewisse Habgier zurückzuführen, - die Mutter hatte jede Menge Geld - , als auch auf ein bedenkliches Schamgefühl des Täters. Der hatte aufgrund depressiver Tendenzen und wohl auch aus diskret verschwiegener Faulheit sein Studium geschmissen und sich nicht getraut, das Zuhause zu erzählen. Also ...

      Nichts also! Solch ein kaltschnäuziger Mord als Konsequenz in solch einem banalen Kontext missfiel Bengt-Jörn. Das mit dem abgebrochenen Studium als Motiv fand er lächerlich. Deshalb würde er nie, da hätte er ja schon vor dreißig Jahren … Geld passte eher. So was ergab Sinn und konnte als Rechtfertigung dienen.

      Er würde seiner Mutter dafür aber auf gar keinen Fall den Schädel zertrümmern. Nicht sein Ding. Auch kein Abschlachten. Da hatte einer aus Bayern sage und schreibe achtundachtzig mal auf seine Mutter eingestochen, - sechszehn von den Stichen wären für sich allein schon tödlich gewesen - , und hinterher erklärt, sich nicht mehr unter Kontrolle gehabt zu haben bei dem ganzen Gemetzel. Unter Kontrolle. Bengt-Jörn stellte sich vor, wo der Kerl überall mit seinem Messer herum gestochert und gewetzt haben musste. Und beim wievielten Stich er selbst aufgehört hätte, um auf Nummer sicher zu gehen. Abstechen kam aber eh nicht infrage. So einer, der, wenn schon, denn auch gehörig Blut spritzen sehen will, war Bengt-Jörn Schwenke nicht. Er bezeichnete sich selbst als sehr wohl sensibel.

      Dementsprechend verspürte er ein sondersam tiefes Mitgefühl, als er die Geschichte von dem 56jährigen Verwaltungsangestellten las, - exakt sein Jahrgang -, der seine Mutter nach einer wüsten Grundsatzdiskussion strangulierte. Zu viel Wodka und noch viel mehr Wut. Typisches Muster für grau und sauer gewordene Nesthocker.

      Das Fatale an der ganzen Sache war: Der Mann DACHTE, sie erwürgt zu haben, wie sie da so starr und steif vor ihm auf dem guten Teppich lag. TATSÄCHLICH war sie nur komplett weg getreten, quasi scheintot. Den vermeintlichen Mörder packte das Entsetzen, dann die unvermeidliche Trauer, - an diesem Punkt schluckte Bengt-Jörn schwer - , schließlich die nackte Panik. Wohin mit der Mutter? Fieberhaft sinnierte er, schleppte

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