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Veränderung vorging. Es verfärbte sich dunkler und schien anzuschwellen. Dann, zwei Abende später, begann die obere Hälfte zu zucken, erst sachte, dann immer stärker, als wollte das gefangene Insekt das Gespinst zerreißen. Doch ich hatte mich geirrt. Die Spinnwebfäden waren gar keine; ich sah jetzt, dass das umhüllende Gebilde fast wie aus einem Guss wirkte und scharfe Falten aufwies: ein Kokon. Wenig später wurden die Bemühungen des Wesens belohnt. Die Spitze des Kokons riss ein und daraus hervor schob sich etwas Dunkles – ein erbsengroßer Kopf oder Vorderleib, besetzt mit schwärzlichen, feucht glänzenden Haaren, sofern ich es aus der Distanz beurteilen konnte. Ein vorderes Beinpaar kam zum Vorschein, kurze, dicke Gliedmaßen, überzogen von durchsichtigem, irgendwie ekelerregendem Schleim. Minuten später entfalteten sich die Stummel zu typischen Insektenbeinen, die dünn und borstenbesetzt in Häkchen endeten. Dann war das mittlere Beinpaar an der Reihe und mit ihm ein Großteil des Körpers, ein gedrungenes, pechschwarzes Etwas. Die nur wenig helleren Flügel ruhten zusammengefaltet auf dem Rücken. Ich rätselte, was für ein seltsamer Schmetterling oder Käfer das sein mochte. Ein Nachtfalter? Der Schlüpfvorgang setzte sich fort, gleich würde ich das komplette Tier sehen, dachte ich – da schob sich ein weiteres Beinpaar aus der Hülle. Acht Beine? Spinnen besaßen acht, aber seit wann verpuppten die sich und waren geflügelt?

      Um halb zehn hatte sich das Wesen aus seiner Umhüllung befreit. Still saß es da, ruhte sich aus, während ich immer noch zu ergründen suchte, um was für eine Spezies es sich handelte. Schon bald würden die Lichter gelöscht, und ich wäre nicht mehr in der Lage, zu verfolgen, was das Tier weiter tat. Wieso beunruhigte mich der Gedanke? Was könnte ein Insekt meinem Plastikkörper anhaben? Selbst wenn es giftig wäre – um mich zu verwunden, brauchte es mehr als einen Stachel oder ein Paar Mandibeln.

      Über Straße und Schaufenster senkte sich die Nacht. Die Lichter vereinzelt vorbeiziehender Fahrzeuge glichen wandernden Sternen, und die Straßenlaterne, deren mattgelbe Korona im nächtlichen Dunst schwebte, dem Mond. Unvermittelt sickerten Laute tropfengleich durch die Düsternis des Schaufensters. Tasten und Klopfen von Insektenbeinen, das Klicken von Beißwerkzeugen, nicht festzustellen, aus welcher Richtung. Dann ein leises Flattern von Flügeln, die sich meinem Gesichtsfeld näherten, ohne darin einzutauchen. Das Geräusch veränderte sich, klang jetzt eher nach einem kleineren Vogel, der, gefangen und in Panik, gegen Wände und Fensterscheiben flog. Aber dafür wirkte es zu zielstrebig, zu bewusst der Entdeckung ausweichend. Diese Kreatur war nicht in Panik, im Gegenteil, sie schien mich durch ihr mal näheres, mal entfernteres Flattern zermürben zu wollen. Dazwischen immer wieder diese anderen ominösen Laute. Plötzlich brachen sie ab. Ich lauschte. Widerwillig gestand ich mir meine Angst ein und dass ich den Morgen herbeisehnte.

      Die Minuten zogen vorüber wie eine stumme Prozession, wie ein Leichenzug. Die Vorstellung stieg vor meinem inneren Auge auf, ohne dass ich es verhindern konnte, und mich erfüllte die absurde Ahnung, das so zelebrierte Begräbnis sei das meine. Müsste es nicht endlich dämmern? Es gelang mir nicht, den Zeigerstand der Uhr vor dem Fenster abzulesen. Als die Geräusche erneut einsetzten, so abrupt, wie sie aufgehört hatten, und ganz nah an meinem linken Ohr, hätte mich der Schreck zusammenzucken lassen, wäre ich dazu imstande gewesen. Jetzt befand es sich hinter mir, gleich darauf hörte ich seine Flügel über meinem Kopf, dann nichts mehr. War es gelandet, wühlte es sich ins Kunsthaar? Flattern, dasselbe Spielchen begann erneut. Da, ein Schatten! Kein taumelnder Falterflug, das Ding bewegte sich schnell wie eine Schmeißfliege im Zickzackflug. Auf der Innenseite der Scheibe ließ es sich nieder, und zwar direkt in meinem Blickfeld. Das Laternenlicht reichte jedoch lediglich aus, seinen plumpen Körper grob zu umreißen. Ich starrte es an – ich konnte ja nicht anders – und bei Gott, ich glaubte, es würde zurückstarren.

      Das tiefe Dröhnen eines Motors näherte sich, starke Scheinwerfer entrissen die Straße der Dunkelheit. An der Haltestelle stoppte der erste Bus des heraufdämmernden Tages. Die Beleuchtung im Inneren schaltete sich ein, als die Türen sich öffneten, und enthüllte Einzelheiten des Spinnen-Fliegen-Geschöpfes. Es besaß nur zwei Körpersegmente, beide dicht behaart: ein gedunsenes Abdomen, groß wie eine reife Kirsche, sowie einen schmaleren Vorderleib, von dem die acht Beine der Monstrosität ausgingen. Die Greif- oder Tastwerkzeuge vorn erweckten den Eindruck eines kurzen zusätzlichen Beinpaars. Ihre durchscheinenden, fein geäderten Flügel, eben noch zusammengefaltet, breitete sie nun seitlich aus, wie um sie mir zu präsentieren. Ich fühlte – ja, in diesem Moment fühlte ich tatsächlich –, wie ich innerlich zu Eis erstarrte. Dieses Wesen durfte es nicht geben, eine widerwärtige Chimäre aus Spinne, Fliege und wer weiß was noch, deren vordere Hälfte tatsächlich so etwas wie einen Scheitel inmitten der dunkelbraunen Behaarung aufwies. Diesen Teil seines Körpers drehte es, um mir seine Unterseite zuzuwenden, die, wie ich erkennen musste, viel eher eine Vorderseite war. Es zeigte mir sein Gesicht. Ein winziges menschliches Antlitz.

      An Größe gewinnend kam es auf mich zu, während mein Verstand sich im gleichen Maße vor dem unerträglichen Anblick zurückziehen wollte. Halt, das Gesicht … Es gehörte … gehörte gar nicht zu dem Spinnenwesen, sondern tatsächlich zu einem Menschen! Hinter der trennenden Glaswand, in der morgendlichen Düsternis, stand ein Mann und betrachtete mich. Nicht mein Outfit, nein, mich; er blickte mir in die Augen, mir, der Schaufensterpuppe, und – er lächelte. Nichts Unheimliches, Spinnenartiges war an seinem Gesicht, an den hellen Augen. Nichts Widernatürliches an seinen dunklen, akkurat gescheitelten Haaren. Dennoch, nichts anderes als diese Begegnung stürzte mich letzten Endes in eine Bewusstlosigkeit, die dem Tode nahe kam. Der Mann vor dem Fenster, das war ich.

      ***

      Rötliches Schummerlicht. Gedämpfte Laute von ferne und nahebei ein stetes Dröhnen und Rauschen. Nie gespürte Geborgenheit, Wärme und Enge. Eingeschlossensein. Gefangenschaft. Ausbruchgedanken.

      Nur Bruchstücke weiß ich vom Übergang. Meinem Wunsch nach Flucht entsprechend, wurde ich unter Stöhnen und Schreien, zuletzt meinem eigenen, in die Welt geworfen. Nur wenig meiner selbst bewusst, existierte ich vor mich hin; ein hilfloses Geschöpf, dessen vorrangige Beschäftigung seinen Stoffwechselprozessen galt sowie der lautstarken Forderung nach deren Befriedigung, glücklich im trügerischen Gefühl der Einheit mit dem Mutterwesen. Aber es gab noch jemand anderen, der sich um meine Versorgung kümmerte. Den Mann, den ich heute hasse wie nichts sonst auf der Welt.

      Dem Säuglingsalter entwachsen, begann ich mich an die Zeit vor meiner Geburt zu erinnern. Mein Dasein als Puppe, aber auch meine Existenz davor, mein richtiges Leben, traten mir immer klarer vor Augen, und mir wurde bewusst, in welch grotesker Situation ich mich befand. Dass ich in der Wohnung aufwuchs, für die ich früher die Miete bezahlt hatte (abzüglich Ninas Anteil), war dabei noch das Geringste. Meine Bauklötze stapelnd – ich weigerte mich, mit Puppen zu spielen, so wie ich mich weigerte, Mädchenkleidung zu tragen –, lauschte ich dem, was der Mann, den ich in kindlicher Unschuld „Papa“ nannte, und die fremde Frau, von ihm „Susi“ gerufen, in der mein neuer Körper herangereift war, mehr als einmal ihren Freunden erzählten: von dem langen Koma, in dem er gelegen hatte. Dass sie ihn attraktiv gefunden und gebetet hatte, er möge aufwachen. Das Wunder, als er ganz unverhofft die blitzblauen Augen aufschlug und sein erstaunter Blick in ihrem grünen Augenpaar versank. In diesen Momenten fragte ich mich, was aus Nina geworden war. Hatte sie mich ebenfalls besucht und an meinem Bett gewacht, eine Zeitlang zumindest? Einst liebte ich sie, aber das Vergangene sollte ruhen. Mein emotionales Erleben beschränkte sich auf die Gegenwart. Auf Hass, kalt und rein wie eine schwarze Perle.

      Wie sie über meine Eltern sprachen, die sich nach anfänglicher Freude über die wundersame Genesung bald schon als Nervensägen erwiesen hätten, weil sie darauf beharrten, ihr Sohn sei verändert, ja, sei gar nicht ihr Sohn, seit seinem Erwachen. Schließlich hatte man den Kontakt abbrechen müssen … Mein Hass lagerte weitere Schichten an. Lange vor meiner Einschulung konnte ich lesen, schreiben und rechnen. In den Augen meiner vermeintlichen Eltern avancierte ich zum Wunderkind, dabei ließ sich meine Begabung ganz simpel darauf zurückführen, dass Buchstaben und Zahlen ein alter Hut für mich waren. Anhand des Küchenkalenders erschloss ich mir die Dauer meines Schaufenster-Exils: Zwölf Jahre waren seit dem Tag vergangen, an dem mein Ich aus seinem Körper geschleudert und dieser von einem Wesen, nicht menschlicher als meine ehemalige Gefährtin Giselle, in Besitz genommen wurde. Sieben Jahre später beging es den Fehler, sich mir

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