Скачать книгу

sie mir trotzdem ansehen.“

      Nachdem sie Sina um mehrere Ecken gefolgt waren – die Luft wurde immer stickiger, hatte einen modrigen Geruch, Boden und Wände schimmerten feucht im Licht der Fackeln –, kamen sie tatsächlich an Vorratsräumen vorbei, die allesamt auf der rechten Seite eines langen Ganges lagen. Dann vollzog der Gang eine scharfe Biegung nach links und führte noch etwa zehn Schritt weiter, um schließlich abrupt zu enden. Linker Hand befand sich in der Wand eine kleine Pforte, zu der mehrere Stufen hinab führten. Sie sah aus, als wäre sie schon lange nicht mehr benutzt worden. Versuchsweise rüttelte Mara an der Klinke; es war abgeschlossen, und keiner ihrer Schlüssel passte. „Was liegt dahinter?“

      Réa blickte Sina betreten an, die fast unmerklich den Kopf schüttelte. „Nichts weiter, Mara, das ist …“

      „Was, Réa?“, verlangte sie zu wissen.

      „Es ist … der Kerker.“

      Verblüfft starrte sie die Priesterin an. „Der Kerker? Du meinst, hier unten werden Menschen eingesperrt?“

      „Ja, das heißt nein, es … Also, es ist niemand drin, jedenfalls im Moment nicht.“

      „Aber manchmal schon?“ Mara ließ nicht locker.

      „Ja. Wer gegen die Tempelgesetze verstößt, fällt unter die Gerichtsbarkeit des Tempels“, erklärte Réa. „Und es obliegt dem Tempel, ihn … zu bestrafen.“

      „Ich verstehe schon. Aber wer hat den Schlüssel, etwa auch Lorana?“

      „Geh dort nicht hinein, Mara“, wehrte Réa eindringlich ab, „wirklich nicht.“

      „Wer hat den Schlüssel, Réa?“, wiederholte sie ihre Frage.

      „Ich habe einen, Süße“, erklang Sinas stets etwas heisere Stimme.

      Mara sah Sina erstaunt an. „Du?“

      „Warum nicht ich? Ich bin nicht irgendeine Tempelwächterin. Malin hat ebenfalls einen, ein dritter befindet sich im Palast.“

      „Dann schließt du mir jetzt auf?“

      Sina lachte, ein kurzer, kehliger Laut. „Du bist unglaublich, Süße, einfach unglaublich. Und du meinst das auch noch ernst, nicht wahr?“

      „Was … Ich verstehe nicht, natürlich meine ich das ernst. Warum fragst du?“ Mara war irritiert.

      „Weil du mich ebenso gut dazu zwingen könntest, dir aufzuschließen, du könntest es mir befehlen. Ich könnte nichts dagegen tun. Du weißt das, ich weiß das, und Réa weiß es auch. Oder irre ich mich?“

      „Ich …“, begann Mara. „Nein, du irrst dich nicht. Aber es liegt mir fern, dich zu etwas zu zwingen, wenn ich dich auch darum bitten kann.“

      Sina schloss auf.

      Was sie dahinter vorfanden, waren schauerliche, winzige Zellen, viel eher Löcher. Düster und feucht, und Mara schauderte bei dem Gedanken, dass hier Menschen eingesperrt, verhört, womöglich sogar gefoltert wurden. Sie sehnte sich plötzlich nach Licht und frischer Luft.

      Sie hörte Sina und Réa leise miteinander reden, während sie selbst sich umsah. Sinas Stimme eindringlich und drängend, als wolle sie Réa von etwas überzeugen, während Réas Entgegnungen sanft, fast beruhigend klangen.

      Auf den ersten Blickt deutete nichts darauf hin, dass hier Menschen gelitten hatten, möglicherweise sogar gestorben waren. Und doch schienen die roh behauenen Wände das Stöhnen und Wimmern, die Schreie der Gefangenen zurückzuwerfen. Wenn Mara nur lange und konzentriert genug lauschte, würde sie sie hören, würde ihre Angst und ihre Schmerzen nachempfinden können.

      Eilig kehrte sie zu Sina und Réa zurück, sie wollte keine Sekunde länger allein an diesem furchteinflößenden Ort sein.

      Sina blickte Mara spöttisch an, als diese ihr die Fackel gab. „Und? Hast du genug gesehen, Süße?“

      „Kommen wir hier noch weiter?“

      „Nein, das ist alles“, erklärte Sina schroff.

      „Dann also die andere Treppe. Wann war das letzte Mal jemand hier unten?“, fragte sie nach.

      „Du meinst, ein Gefangener? Vor sieben, acht Jahren.“

      „Was genau warf man ihm vor?“, wollte Mara wissen.

      „Er hat eine Priesterin getötet“, erwiderte Sina, wobei ihre Stimme kalt klang. „Vergewaltigt und getötet.“

      „Und was … geschah mit ihm?“

      „Er wurde zum Tode verurteilt.“

      „Wie?“

      „Das willst du nicht wirklich wissen, Süße, glaub mir“, gab Sina zurück.

      „Doch, will ich.“

      „Aber ich werde es dir nicht sagen, schon gar nicht hier unten. Außerdem wirst du, wie ich dich kenne, noch heute damit anfangen, die Tempelgesetze zu studieren. Dann erfährst du es sowieso.“

      „Also könntest du es mir ebenso gut sagen“, beharrte sie. „Bitte, Sina.“

      „Nein, Süße. Ich werde doch deinen Hang zu Grausamkeiten nicht auch noch fördern.“

      „Was soll das heißen?“ Wütend funkelte sie Sina an, die sich gänzlich unbeeindruckt zeigte.

      „Du redest für meinen Geschmack ein wenig zu oft und auch ein bisschen zu begeistert von Blut und Tod, vor allem vom Tod anderer Menschen. Und jetzt geh weiter, Réa ist sicher schon an der Treppe.“

      Missmutig hastete Mara hinter ihr her. Sie wollte nicht im Dunklen zurückbleiben, stapfte ärgerlich die Treppe hinauf. Was sollten plötzlich diese Vorwürfe? Was hatte sie Sina getan?

      Réa wartete am oberen Ende der Treppe, blickte in das letzte Licht des Tages hinaus. Mara wunderte sich, dass so viel Zeit verstrichen war, seit sie die Gewölbe betreten hatten. „Willst du nicht mehr mitkommen, Réa?“

      „Warum wartest du nicht bis morgen, Mara, es wird schon dunkel?“, erinnerte sie die Priesterin.

      „Da unten ist es ohnehin dunkel.“

      „Ja, aber … Bist du denn nicht müde?“

      „Nicht besonders. Was ist los, Réa? Du willst nicht, dass ich hinunter gehe, stimmt's?“

      „Mir ist unwohl bei dem Gedanken, nach Sonnenuntergang dort unten zu sein, und du … Ach, egal, wir werden ja doch nicht weit kommen.“ Mit diesen Worten wandte Réa sich um und stieg als erste die Treppe hinab, die genauso lang, düster und feucht zu sein schien wie die auf der linken Seite.

      Unten, gleich gegenüber dem Treppenabsatz, befand sich ebenfalls ein kleiner Raum für die Wache. Rechter Hand führte ein Durchgang tiefer in das eigentliche Gewölbe hinein. Es gab einen weiteren Raum für Wächterinnen, größer als der vorherige, die Tür war nicht verschlossen.

      Dann verengte sich der Gang, sie konnten nur noch hintereinander gehen und mussten aufpassen, dass sie sich nicht die Ellenbogen an den rauen Felswänden stießen. Irgendwann begann sich der Boden zu neigen. Von der Decke tropfte Wasser, das sich in Pfützen sammelte. Ein Geruch nach schalem, abgestandenem Wasser, nach Moder lag in der Luft, und nach noch etwas anderem, seltsam und metallisch.

      Plötzlich bog der Gang abrupt nach links ab. Noch immer war es sehr eng, die Wände glitzerten feucht. Mara fröstelte und versuchte, nicht an die Felsmassen zu denken, die sich über ihrem Kopf auftürmten, sie von allen Seiten bedrängten. Ihr Atem hatte sich in ein gehetztes Keuchen verwandelt. Wieder bog der Gang scharf nach links ab. Rechts öffnete sich ein weiterer Durchgang, der wiederum zu einer steilen Wendeltreppe führte, deren oberes Ende sich im Dunkeln verlor, jedoch einen Schwall frischerer Luft heranführte, welcher die Fackeln im Luftzug aufflackern ließ.

      Wenigstens war der Gang hier breiter, nicht mehr so bedrückend eng, führte aber noch immer tiefer nach unten. Es

Скачать книгу