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Winterkönig. N. H. Warmbold
Читать онлайн.Название Winterkönig
Год выпуска 0
isbn 9783742783073
Автор произведения N. H. Warmbold
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Als Mara benommen den Kopf hob, stand die Sonne schon hoch am Himmel, es regnete ausnahmsweise nicht. Sie verspürte Hunger, also stand sie eilig auf und suchte ihre Sachen zusammen. Waschen und richtig anziehen konnte sie sich auf ihrem Zimmer. Das Frühstück hatte sie verpasst, doch Bes würde in der Küche sicherlich noch etwas für sie haben. Bes hatte immer etwas zu essen für Mara.
(84. Tag)
Kapitel 6 – Der untere Tempel
Müßig schaute Tessa aus dem Fenster, über den dunstigen Hang hinweg auf die Silhouette der Stadt. Immerhin besser als der regennasse Palasthof, dieser Anblick war dann doch zu trübselig, langweilig geradezu. Dann lieber der Blick über die Hauptstadt, die wie geduckt, wie an den Boden gepresst unter den niedrig hängenden Wolken lag. Sie übertrieb, die Beschreibung passte so gar nicht; ‚Samala Elis‘ und ‚gepresst‘. Doch eine bessere fiel ihr nicht ein.
Seufzend stützte sie das Kinn auf die Hand, vergaß den Bogen mit den Kritzeleien vor sich – was sollte das eigentlich darstellen? – und ließ die Gedanken wandern. Heraus aus den schützenden Mauern und dann durch das gewaltige Nordtor hinaus in Richtung Saligart, ihrem Bruder entgegen. Sie wusste nicht, wann Reik zurück sein wollte, heute, morgen, in den nächsten Tagen, aber sie freute sich auf ihn. Sie ertrug es nur schwer, wenn er so lange fort blieb, sie spürte stets eine merkwürdige Unruhe in sich, fühlte sich immer ein bisschen … Nicht zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, ihn einfach zu begleiten, mit der Garde reiten. Innerlich musste sie lachen: der Traum eines jeden Jungen in Mandura. Doch darum ging es ihr nicht. Bloß um die Gesellschaft, die Nähe und Gegenwart ihres Bruders.
Und sein Zweiter hieß Gerol, der andere Len, schnell ergänzte sie die Angaben auf dem Blatt, überlegte. Sandars Zweite, hm, der eine Lokar oder Lokan, sie wusste es nicht genau, vielleicht sollte sie Sandar fragen. Oder Guy. Aber Guy war in Hauptmann Ladrus Einheit und nicht dessen Zweiter. Guy war zuvorkommend und freundlich, ganz anders als die meisten Gardisten, nicht so steif und unnahbar. Und vor allem nicht so einschüchternd und barsch wie der Hauptmann, der nahe der Tür stand. Hauptmann Davian. War der nicht gestern schon hier gewesen? Vor dem hatte sie tatsächlich etwas Angst, obwohl sie mit dem Mann überhaupt nichts zu tun hatte und nie haben würde.
Sie und ein Gardehauptmann: der Gedanke war geradezu absurd. Und doch gar nicht so abwegig, denn Lucinda würde bald einen Gardehauptmann heiraten, ihren Vetter Sandar; es existierte schon lange ein Vertrag zwischen den Familien. Tessa könnte sich durchaus vorstellen, Sandar zu heiraten, doch der war ja schon vergeben. Sie konnte ihn gut leiden. Er war vielleicht etwas zu groß für sie, aber schließlich war sie deutlich größer als Lucinda. Und womöglich war sie ein bisschen zu nah mit ihm verwandt, ihre Mutter war die Schwester seines Vaters.
Wieder betrachtete Tessa das vor ihr liegende Blatt. Gettis Zweite kannte sie wirklich nicht mit Namen, Lucinda sicher auch nicht, und Hirons Zweite? Ob Ondra die Namen wusste, immerhin war Hiron doch ihr Bruder, einer ihrer Brüder. Aber Ondra hatte sich nie sonderlich für die Garde und deren Belange interessiert, schon damals nicht, und … Tessa konnte den Gedanken nur schwer ertragen, dass ihre Base damals nicht Reik, sondern Leif geheiratet hatte. Sie spürte wieder die alte Wut und Enttäuschung … Obwohl sich ihre Enttäuschung in Grenzen gehalten hatte. Nur wegen einer Feier, die ihr entgangen war? Es hatte dann ja doch eine Feier gegeben, und insgeheim war sie ganz froh, ihren Bruder noch etwas länger für sich zu haben.
Tessa unterdrückte ein Kichern: Als hätte sie Reik jemals für sich gehabt. Himmel, er war ihr Bruder! Sie starrte weiter angestrengt auf das Blatt Papier mit ihren Eintragungen. Wozu überhaupt notierte sie die Namen der Hauptleute der einzelnen Gardeeinheiten, darunter auch noch die Namen der jeweiligen Zweiten? In ein, zwei Fällen gab es sogar drei Zweite, wer hatte ihr das eigentlich erzählt? Aber sie ordnete nun einmal gern die Dinge um sich herum, schrieb auch gern, hatte das immer gemocht ...
Sie vermied es, zu offensichtlich zu dem Mann an der Tür zu blicken, ihn würde sie sicher nicht danach fragen. Er würde sie auslachen, oder schlimmer noch, sie belehren und ihr vorhalten, dies ginge sie …
Tessa fuhr zusammen, als er plötzlich, in gebührendem Abstand, neben ihr stand. Sie sah keine Notwendigkeit darin, das Blatt mit den Armen zu verdecken. Schließlich tat sie nichts Verwerfliches.
„Es muss ‚Lokar‘ heißen“, bemerkte der Hauptmann, „nicht ‚Lokan‘.“
„Danke …“, stieß Tessa hervor und wagte nicht aufzuschauen oder dem Mann gar ins Gesicht zu schauen. „Wisst Ihr zufällig auch die Namen … ich meine … oh, oh entschuldigt, ich …“ Sie konnte nur stammeln, dann verstummte sie. Was redete sie da? Selbstverständlich kannte der Mann die Namen der Zweiten aller Einheiten, vermutlich kannte er sogar die Namen sämtlicher Gardisten in jeder Einheit. Er war Gardehauptmann!
„Zufällig, ja.“ Er grinste nicht, war die Ernsthaftigkeit in Person, und seine Stimme klang ganz und gar sachlich. Dann deutete er mit dem Finger auf den Bogen und nannte ihr ohne zu zögern die entsprechenden Namen.
Hastig schrieb Tessa mit, ihre Schrift furchtbar krakelig und zittrig.
„Interessante Art der Darstellung.“
„Aha, ja …“, sie lachte unsicher. „Meint Ihr? Ich wollte das … die Namen nur übersichtlich anordnen, und … Ich weiß eigentlich gar nicht, wieso.“
Hauptmann Davian, der Hauptmann Davian, zuckte die Achseln. Sie kannte ein paar der Gerüchte über ihn, hatte sich allzu oft Lucindas Gerede anhören müssen, die den Mann nicht ausstehen konnte. „Mancher Ostländer würde dafür bezahlen.“
„Aber…“, erschrocken sah sie ihn an. „Ist das etwa geheim?“
„Nein, aber nützlich. Bewahrt das gut auf“, riet er ihr ernst.
„Das … das werde ich, wirklich.“
Vielleicht sollte sie den Bogen vernichten, einfach verbrennen; aber der Gedanke missfiel Tessa. Sie würde ihn sorgsam aufbewahren.
* * *
Am Nachmittag begab Mara sich wie abgemacht zu Réa.
Zwei Frauen leisteten der jungen Priesterin Gesellschaft, auf Bett, Bank, Tisch und Stühlen lagen Kleider und Stoffe unterschiedlichster Farbe und Qualität ausgebreitet. Die beiden musterten Mara neugierig bei ihrem Eintreten.
„Mara, da bist du ja“, begrüßte Réa sie erfreut. „Darf ich dir Frau Airon vorstellen, die wohl beste Schneiderin der Stadt? Ich habe dir bereits von ihr erzählt. Und das ist ihre Tochter.“
Mara nickte den Frauen höflich zu. Und wenn Réa nicht übertrieben hatte, stand sie den beiden am besten informierten Frauen von Samala Elis gegenüber, zumindest was Klatsch und Gerüchte aus dem Palast anging.
Nachdem Réa auch Mara vorgestellt hatte, kam Frau Airon gleich wieder auf das Geschäftliche zurück, zeigte Réa mehrere Gewänder, die ihr ‚wunderbar‘ stehen würden, und nannte Réa die ganze Zeit über ‚meine Liebe’.
Mara ließ sich in einem Sessel nieder und schaute gelangweilt zu, wie Frau Airon und Tochter Réa mit Stoffen behängten, die sie in der Art eines fertigen Kleides drapierten. Schon bald wirkte Réa reichlich zerzaust, sodass sie sich hilfesuchend an Mara wandte. „Was meinst du?“
„Du weißt, dass ich nicht viel von Kleidern verstehe. Also …“, Mara überlegte, „… diese dunklen, schweren Stoffe stehen dir nicht, das bist nicht du. Warum bleibst du nicht bei Weiß, von der Form her ähnlich wie eine Priesterinnenrobe, nur der Stoff selbst feiner, kostbarer?“
Begeistert sah Frau Airon sie an – wahrscheinlich hätte sie auch begeistert reagiert, hätte Mara vorgeschlagen, Réa solle einen Sack tragen – und wühlte in den Stoffen. „Eine phantastische Idee, meine Liebe, dass ich darauf nicht selbst gekommen bin!