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selbst einen Inbegriff grausam beschränkter Menschlichkeit. – Ich kann lediglich beweisen, dass ich Hauptmann der NVA war. Die NVA-Mumien können sich an mich noch dunkel erinnern, aber sich nicht erklären, warum ich nach Routinegesprächen mit Vertretern anderer Staatsorganen inhaftiert wurde. Es wurde bis jetzt keine Stasiakte aufgefunden, die mir zugeordnet werden könnte. – Von diesen heutigen selbstherrlichen Arschlöchern und ihren Dienstherren will ich nichts wissen und nichts haben.“ Den letzten Satz schreit er: „Es kotzt mich an!“ Man könnte eine Stecknadel fallen hören.

      Wir schweigen. Er beruhigt sich langsam. Mir schießt es durch den Kopf: Es geht nie gut aus, wenn der Staat zum Feind seiner eigenen Bürger wird.

      Mit zaghafter Vorsicht äußere ich die Vermutung: „Ich nehme mal an, dass sich Ihr Arbeitsplatz in der Kohle mit der Wende ganz schnell in Luft aufgelöst hat.“

      „Richtig“, antwortet er und wischt über seinen Furunkel. „Dann war ich Türsteher, Hilfsmatrose und alles Mögliche. Und jetzt bin ich Penner.“

      Ich erhebe mich und stütze mich mit den Händen auf dem kleinen Tisch ab. Er nimmt wieder den Blick aus den Augenwinkeln ein.

      „Draußen vor dem Auwald gibt es einen kleinen Biergarten. Ich bin da jeden Donnerstag gegen siebzehn Uhr. Vielleicht haben Sie mal Zeit und wir trinken dort ein, zwei Bier zusammen“, lade ich ihn ein.

      Er nickt nur. Ich reiche ihm die Hand. Sie verschwindet bis über den Puls vollständig in seiner großen Pranke.

      Während ich mich der Kuchentheke nähere, weiß ich bestimmt, dass der Hauptmann der NVA nicht in den Biergarten kommen wird.

      Der abgekämpften Dame hinter der Theke zahle ich eilig einen doppelten Kognak. „Für den Herrn dort!“

      Sie lächelt, sie versteht. Ich verlasse das Café.

      Der Juden Max

      In den späten Maitagen des Jahres 1957 befuhr der Juden Max mit seinem Motorrad und den mit Kartons beladenen Beiwagen und Anhänger die einzige Straße, die in unser Dorf führte. Im forschen Tempo zog er auf der Schotterstraße eine imposante Staubwolke hinter sich her, die vom Wind über den noch jungen Feldern, Weiden und Wiesen verdünnt und in der Ferne schon vertrieben wurde.

      Zu allen Zeiten wird es wohl ein außergewöhnliches Ereignis gewesen sein, wenn ein Jude in unser abgeschiedenes Dorf kam. Mit dem Eintreffen des Juden Max’ reihte sich zur Sensation noch ein beschämter Trotz hinzu, weil man durch ihn peinlich berührt wurde. Das Tabu blieb bestehen, denn da redete man nicht drüber, aber die Ankunft des Juden Max’ wühlte auf. Es dauerte eine Weile, bis sich das unangenehme Gefühl verflüchtigte und die Sensation sich zur Normalität wandelte.

      Im Dorf angekommen, verringerte der Juden Max seine Geschwindigkeit radikal, blickte durch seine Motorradbrille links und rechts, bis er das Ortsende erreicht hatte, von wo die geschotterte Straße in einen Feldweg überging. Hier wendete er mit seinem Gespann elegant auf engstem Raum und fuhr im Schritttempo zurück. Es gab nur diese eine Straße im Dorf, an der sich die Bauernhöfe, die Kapelle und das winzige Schulgebäude reihten.

      Der Juden Max hielt an und rief laut: „Witwe Hartmann!“

      War es Zufall? War es Fügung? Jedenfalls gab sich eine alte Frau, die mit ihren Katzen im Fenster des Hauses lag, vor dem er gerade angehalten hatte, als die Witwe Hartmann zu erkennen: „Wat wut te!“ Eigentlich hatte die alte Frau ihren Untermieter schon seit Tagen erwartet. Nun war er da, der Juden Max.

      Der Schwager der Witwe Hartmann, der Tierarzt Dr. Rudolf Hartmann, der seinerzeit Unannehmlichkeiten in Kauf genommen hatte, weil er sich von seiner jüdischen Frau nicht trennen wollte, hatte das Inserat aufgegeben, worauf sich der Juden Max gemeldet hatte. Die beiden Männer waren sich einig geworden, dass der Juden Max Nebengebäude des Anwesens der Witwe Hartmann zu Gewerbezwecken für einen gerechten Mietzins nutzen durfte.

      Auf dem Hof schob der Juden Max die Motorradbrille auf die Stirn, stieg vom Motorrad, zog die Stulpenhandschuhe aus, steckte sie in die Taschen seines wadenlangen Ledermantels, löste den Kinnriemen der ledernen Motorradhaube, schüttelte die Beine aus und ließ sich von der Witwe Hartmann zum Muckefuck bitten. Obwohl seine Kosakenstiefel zwar staubig, aber unter den Sohlen nicht verdreckt waren, machte er auf dem Rost vor der Tür abtretende Bewegungen.

      Geduldig hörte sich der Juden Max die Höhepunkte der Lebensgeschichte der Witwe Hartmann an. Die beiden Söhne, und auch der Mann noch kurz vorm Waffenstillstand, waren im Krieg geblieben. Der Franzose sei nach dem Krieg wieder nach Hause marschiert und der schlesische Vertriebene, der des Franzosen Arbeitskraft ersetzt hatte, hatte in Westfalen eine gutbezahlte Fabrikarbeit gefunden. Als der weg war, hätte sie den Hof nicht mehr bewirtschaften können. Und ohne Männer verfalle ja alles.

      Während sie erzählte, hatte der Juden Max die Bilder an der Wand betrachtet. In der Mitte hing das große Foto eines Mannes mit Zylinder auf dem Kopf und Zweifingerbart unter der Nase, flankiert von zwei typischen Rekrutenfotos junger Männer, denen man ansah, dass sie lieber Bauern waren, als in einer Wehrmachtsuniform zu stecken. Als Witwe Hartmann starr vor sich hinsah und schwieg, ergriff nach einer kleinen stillen Pause der Juden Max das Wort.

      Er sprach von Unrecht und von Unmenschlichkeit, die gelitten wurden und vom Funken Hoffnung, der selbst in der Hölle noch aufflammt. Und er sprach davon, dass es das an sich Gute oder an sich Böse nicht gäbe. Gott, der Gerechte, hätte es so eingerichtet, dass wir Menschen zwischen einem mehr oder weniger Gutem oder Bösem in den vielfältigsten Gewichtungen wählen könnten. Und er selbst war dem extremen Bösen in die Hände gefallen, nur, weil er ein Jude war. Er sagte nicht KZ, er nannte es nur Lager; diese Hölle, wo der Tod und das Morden alltäglich gewesen waren.

      Da das extreme Böse ihn zu einer Nummer degradiert hatte, wünschte er sich endlich wieder freie Luft, die er glaubte, in Deutschland nicht mehr atmen zu können. Deshalb wollte er nach seiner Befreiung nach Palästina auswandern. Aber er hatte schon Heimweh bekommen, als er die Elbe wiedersah. In seiner Heimatstadt Dresden fand er seine Eltern und sein Elternhaus nicht wieder. Dresden war in Schutt und Asche gebombt.

      Er fragte sich, wozu die Rote Armee ihn aus dem Lager befreit hatte, wenn sich doch für ihn keine Aussicht auf eine Zukunft ergab. Aber dann erinnerte er sich, dass Gott, der Gerechte, es so eingerichtet hatte, dass alles nur eine Frage des Mehr oder Weniger sei, wo das weniger Böse zu einem Mehr an Gut tendierte. Es hatte alles noch schlecht für ihn ausgesehen, aber es bestand die Aussicht, dass es auf der Mehr-oder-Weniger-Skala viel Luft zur Besserung gab, so dass es ihm zukünftig weniger schlecht ergehen könnte.

      So sei das auch mit den Geschäften: Mal laufen sie gut und mal verhungern sie unten im Elend der Skala. Beispielhaft erläuterte er der alten Frau das optimale – er bezeichnete es als komplettes – Geschäft, für das er den Erwerb seines Motorrades hielt. Er war zum Kolzcefski gegangen und hatte ihm einen guten Preis für das Motorrad geboten, wenn Kolzcefski ihm das Motorradfahren lehren würde. Der Kolzcefski hatte gejammert, dass das Motorrad doch so schön und das Gebot so erbärmlich sei. Trotz des Vorwurfs, dass Kolzcefski ihn aus purer Habgier ruinierte, hatte er mit seinen Reserven das Angebot erhöht. Kolzcefski hatte sich noch etwas geziert, aber man war handelseinig geworden. Das Komplette an dem Geschäft sei, dass die Beherrschung der Fahrkunst eines Motorrades, einen Wert fürs Leben darstellte, der auch dann noch Bestand habe, wenn das Motorrad selbst schon längst verrostet sei. Witwe Hartmann wollte beweisen, dass sie das Prinzip des kompletten Geschäfts verstanden habe und gab zu bedenken, dass die geschlachtete Legehenne keine Eier mehr legt. „Das sei allerdings auch eine bemerkenswerte Tatsache“, hatte der Juden Max geantwortet.

      Danach entlud er seinen Beiwagen und Anhänger und deponierte die Kartons im ehemaligen Geräteschuppen. Als er damit fertig war, nahm er einen Pinsel, tauchte ihn in weiße Farbe und malte auf das Schuppentor: Max.

      Die Geschäfte liefen gut. Auf den Hof der Witwe Hartmann bogen Lastkraftwagen ein, die in unserem Dorf bisher noch nicht gesichtet worden waren, brachten Ware auf Lager und transportierten sie nach einiger Zeit wieder ab. Anfangs war der Juden Max auch öfter mit seinem Motorrad

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