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Discounter ein und am Sonntagnachmittag steht er während Heimspielen der 1. Fußballherren der Kreisliga in der Nordkurve als einziger Zuschauer. Bei Auswärtsspielen und spielfreien Tagen läuft er ziellos durch die Stadt.

      Dörrmeier sagt: „Er ist ein Clown; ein guter Clown. Denn nur ein trauriger Clown, kann ein guter Clown sein.“

      Das will niemand so recht akzeptieren. Doch Dörrmeier bleibt bei seiner Aussage.

      Die 1. Fußballherrenmannschaft hat ein Auswärtsspiel und Studentinnen veranstalten in der Fußgängerzone eine Befragung der Passanten. Die Leute müssen drei Bilder, einen Schwarzafrikaner, einen Gorilla und Donald Trump, spontan mit einem Begriff bezeichnen. Die Studentinnen sind mit den Nennungen Gorilla und Donald Trump einverstanden, aber dass er auf einem Bild einen Neger erkannt hat, versetzt sie in unwissenschaftliche Hysterie.

      Er setzt sich brüllend zur Wehr: „Rassismus? Ich, ein Rassist? Ich bin selbst mein ganzes weißes Leben lang ein weißer Nigger gewesen!“

      Irgendwie passend zur Szenerie spielen Straßenmusiker einen Blues.

      Blumenstiel

      Niels Blumenstiels Bruder Holger, der mir seit unserer Sitznachbarschaft auf der Gegentribüne in der Volkswagenarena bekannt ist, hat schriftliche Aufzeichnungen über Lebensumstände seines Bruders Niels gemacht und mir diese mit den Worten „mach was draus“ übergeben. Jedoch Wolfsburg dient nicht als Szenerie der brüderlichen Geschichte, die auf Art und Weise eines Polizeiprotokolls mit einer alten, mechanischen Schreibmaschine einschließlich dem hakenden Buchstaben G getippt wurde, sondern sie ereignete sich überwiegend im tiefsten Süden Niedersachsens.

      Außer aus der Kellerwohnung konnte man aus den nördlich ausgerichteten Hausfenstern bei guter Sicht den Brocken im Harz klar erkennen. Auch die Sprungschanze auf dem Wurmberg sah man dann deutlich. Das Grundstück, auf dem das Mehrfamilienhaus stand, gehörte dem Witwer Heinz Goldmann, der selbst in der linken Parterrewohnung wohnte und von seiner Altersrente und den Mieteinnahmen ganz komfortabel lebte. Sein glücklich und zufriedenes Idyll wäre perfekt gewesen, wenn da nicht manchmal Ärger durch einen Mieter gestört hätte.

      In der anderen Haushälfte, Goldmann gegenüber, wohnte die von ihrem Mann geschiedene Frau Doktor Mona Lisa Pechstein-Schwefel, im Obergeschoss links der Küchenmeister Hubert Nagel und seine Frau Rosa und rechts von ihnen residierte der ledige Polizeihauptkommissar Fred Engel.

      Die Dachgeschosswohnung wurde von der Mediengestalterin Stefanie Bogert bewohnt, die bemerkenswerterweise Wert darauf legt, als Fräulein angeredet zu werden, was ihr unter anderem auch schon einen Arbeitsplatz gekostet hatte.

      „Das Fräulein assoziiere ich mit der Freiheit, die auch eine emanzipierte Frau nur in den seltensten Fällen für sich in Anspruch nehmen kann. Ich will ganz bewusst ein nicht emanzipiertes Fräulein sein, um jedermann deutlich zu machen, dass ich auch ideologisch frei bin. Ich bin Fräulein und frei!“, argumentierte sie.

      Doch ihre eigenwillige Argumentation wurde unter anderem auch behördlicherseits angefochten. Die Systeme der Stadtverwaltung sahen das Fräulein auch im Schriftverkehr nicht mehr vor. Stefanie Bogert monierte dies und machte den Fehler, darauf hinzuweisen, dass es ihr nicht um ihre ohnehin nicht mehr vorhandene Jungfräulichkeit zu tun sei, sondern um ihre Freiheit als Fräulein. Die Verwaltung stellte daraufhin neben Paragrafen zusätzlich klar, dass sie nach den veralteten, unzeitgemäßen Vorstellungen ohne nachweisbare Jungfernschaft eher als gefallenes Mädchen als ein Fräulein gegolten hätte. Auch insofern bliebe es in jedem Fall bei der korrekten Ansprache Frau, hieß es.

      Beim Finanzamt hatte Stefanie Bogert mit ihrem Protest mehr Erfolg; der Beamte strich die Anrede Frau im Steuerbescheid und ersetzte sie handschriftlich durch Fräulein. „Hoffentlich kann er dadurch keinen Ärger bekommen“, befürchtete Fräulein Bogert nachträglich.

      Kinder wohnten in dem Haus schon lange nicht mehr. Und die Kellerwohnung gegenüber den Versorgungsräumen wurde von Niels Blumenstiel bewohnt. Die Betonung liegt auf wurde, denn Blumenstiel war verschwunden.

      Heinz Goldmann hatte als Vermieter schon einiges erlebt. Messie und Mietnomade waren ihm keine Unbekannten. Und bei allem Verständnis für krankhafte Neigungen und Nachsicht gegenüber ausgelebter krimineller Energie, fühlte Goldmann sich doch angesichts des Schadens, den solche Leute ihm zufügten, mitunter ziemlich allein gelassen.

      Niels Blumenstiel blieb Goldmann zwar mit seinem Verschwinden vier Monatsmieten schuldig, die aber nach einer verrechneten Mietskaution in Höhe von zwei Mieten einen ertragbaren Verlust darstellten. Hinzu kamen allerdings unter anderem noch Kosten durch die Räumung und Entsorgung des überschaubaren und minderwertigen Mobiliars. Blumenstiel hatte die Wohnung, nachdem er den Personal Computer, die Stereoanlage und den 58 Zoll Flachbildfernseher irgendwie nach irgendwohin sichergestellt hatte, besenrein zurückgelassen.

      „Naja, wenn der Blumenstiel auch nicht mehr der Jüngste war, war er doch eigentlich ein dummer Hanswurst“, urteilte Goldmann und ließ damit durchblicken, dass er härteren Tobak, dem ihm Mieter mitunter bereiteten, schon erdulden musste.

      Polizeihauptkommissar Fred Engel bewertete Niels Blumenstiel ähnlich: „Schon die Tatsache, dass er sich nicht nur auf seinem Briefkasten als von Blumenstiel tituliert, beweist mir nicht den abgebrühten Hochstapler, der sich gesellschaftliche und finanzielle Vorteile durch seinen Selbstadel verspricht, sondern eher einen alten Mann, der akzeptiert und geachtet sein möchte.“

      Eine nicht so wohlwollende Meinung über Niels Blumenstiel vertrat der Küchenmeister Hubert Nagel und begründete dies mit der Unterstellung, dass er, Nagel, sich tagtäglich abarbeiten müsse, während Parasit Blumenstiel nur sporadisch für den eigenen Lebensunterhalt sorge. Ganz von der Hand konnte man das nicht weisen, es war aber doch stark übertrieben.

      Laut Bruder Holger hatte Blumenstiel bis zu seinem Abgang sogar ein Girokonto unterhalten, auf dessen vorgefundenen Kontoauszügen das Bemühen abzulesen war, genügend Guthaben vorzuhalten, um die laufenden Kosten bestreiten zu können. Niels Blumenstiel betätigte sich als Gelegenheitsarbeiter mit ständig wechselnden Arbeitsstellen. Beispielsweise konnte man ihn als Mitarbeiter eines Hausmeisterservice einen Rasen mähen, in der Garderobe des Theaters die Mäntel in Empfang nehmen oder auch schon mal im Advent einen Weihnachtsbaum verkaufen sehen.

      Ein Auto besaß Niels Blumenstiel, der sich so gerne ganz ernsthaft von Blumenstiel nannte, nicht. Er legte in der Regel auch längere Strecken zu Fuß zurück. Den Stadtbus nutzte er lediglich, wenn er ausnahmsweise eine sperrige oder schwere Last zu transportieren hatte.

      Rosa Nagel pflegte zu Blumenstiel ein gutnachbarschaftliches Verhältnis und hatte von ihm eine wesentlich bessere Meinung als ihr Gatte Hubert. „Herr von Blumenstiel hat so etwas Visionäres“, versuchte sie ihre Einschätzung zu erläutern.

      Und Stefanie Bogert machte keinen Hehl daraus, dass sie Blumenstiel mochte. „Der alte Knabe wird früher sicher die Mädchen angezogen haben, wie das Gute und Schöne einen Ästheten“, vermutete sie und machte dabei ein Kussmündchen.

      Feindselige Missachtung trifft als Beschreibung die gegenseitigen Abneigungen Niels Blumenstiels versus Frau Doktor Mona Lisa Pechstein-Schwefels wohl am besten. Das kam nicht von ungefähr, man kannte sich aus der Jugendzeit.

      Als Frau Doktor Mona Lisa Pechstein-Schwefel in Goldmanns Haus eingezogen war, hoffte Niels Blumenstiel, dass sie ihn nicht wiedererkannte. Doch sie sprach ihn direkt auf ihre eher flüchtige Bekanntschaft an und bemerkte abschließend: „Ich bin außerordentlich erleichtert, dass Sie sich nicht auch noch übermütig Doktor von Blumenstiel nennen.“

      Blumenstiel hatte geantwortet: „In Ihren Kreisen kennt man sich ja auch diesbezüglich bestens aus; wohl die wenigsten von euch dürften so wirklich lauter sein.“

      Frau Doktor Mona Lisa Pechstein-Schwefel war eine renommierte Konfliktforscherin und wusste mit der Situation umzugehen, indem sie süffisant lächelnd Niels Blumenstiel stehen ließ und ihn fortan ignorierte.

      Blumenstiels Bruder Holger war Frau Doktor Mona Lisa Pechstein-Schwefel

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