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Sondertilgung ist in jedem Fall möglich. Selbstverständlich werden wir uns dann bei Bedarf auch über veränderte Annuität und Restlaufzeit unterhalten“, versprach sie mit liebenswürdiger Verbindlichkeit.

      „Ja, sehr schön“, sagte ich und blickte auf ihre von ihrem Busen gespannte Bluse, ähnlich wie damals, als ich sie das letzte Mal sah.

      Wir waren inzwischen dreizehn Jahre alt. In einem kleinen Waldstück hinter dem Fußballstadion befand sich der ideale Platz für unsere Cowboy- und Indianerspiele, in denen ich es allerdings nur bis zum räuberischen Comanchen, bestenfalls zum gutmütigen Schwarzfußindianer gebracht hatte.

      Eine beliebte, aber auch gefährliche Stelle im Wäldchen war der alte Steinbruch, dort wo früher der rote Sandstein abgebaut worden war. Eine dreizehn Meter hohe Steilwand senkte sich lotrecht in die Tiefe. Da oben konnte man sich an einer dicken herabhängenden Baumwurzel geklammert um einen Felsvorsprung herum schwingen, um unter Umständen einen Geländevorteil gegen die schießwütigen Cowboys zu erreichen. Diesmal hielt die Baumwurzel nicht und Wollschläger stürzte hinab.

      Ich verfügte zwar über keine nennenswerte Ausdauer, aber auf der Kurzdistanz war ich der Schnellste von uns. So rannte ich los und stoppte an der Straße sofort ein Auto. Schnell waren Rettungskräfte vor Ort. Aber es war umsonst, Wollschläger war längst tot, er hatte sich das Genick gebrochen.

      Und dann sah ich das Hildchen im Profil am offenen Grab stehen. Sie stand den Kopf weit in den Nacken gestreckt, den tränenschweren Blick zum Himmel gerichtet, als sei von dort Trost und Hilfe in ihrem Leid zu erwarten. Ich sah auf ihre kleine Brust, die sie durch ihre Körperhaltung ein wenig hervorgedrückt hatte.

      Schon am folgenden Tag war ich wegen des neuen Arbeitsplatzes meines Vaters mit meinen Eltern und Geschwister nach Bremen gezogen. In meine Heimatstadt bin ich erst seit wenigen Jahren zurückgekehrt, um in die kleine Eigentumswohnung einzuziehen, die ausgerechnet mir mein Opa zum Ärger aller Erbberechtigten vererbt hatte.

      Frau Strör drehte wieder ein Papier auf dem Schreibtisch und wies mit dem Kugelschreiber über der gedruckten Linie direkt hinter das Kreuz, das sie zu meiner Orientierung gesetzt hatte. Ich vollzog meine Unterschrift am vorgesehen Ort. Dann drehte sie das Papier wieder um 180 Grad. Sie leistete auch noch ihre Unterschrift, wobei sie wieder die Zungenspitze zwischen die geschlossenen Lippen schob.

      Sie sah mich offen und freundlich an, aber ihre folgende Blickwendung zur Bürotür sagte unmissverständlich, dass das geschäftliche Prozedere beendet sei. Ich dankte ihr und erhob mich rasch, aber sie war schneller und hielt mir wieder die Tür auf. Bevor sie mir entwischen konnte, fragte ich hastig: „Eine Frage noch. Kann es sein, dass Sie mit Mädchennamen Gerdes, Mechthild Gerdes, hießen?“

      Das war ein Volltreffer. Sie war überrascht. „Oh“, sagte sie, „ja, aber … ich weiß nicht … im Moment kann ich mich nicht …“

      Ich unterbrach sie: „Das ist auch nicht so wichtig. Vielen Dank nochmals. Auf Wiedersehen, Frau Strör.“

      Während ich durch die Eingangshalle dem Windfang zueilte, spürte ich ihre Blicke in meinem Rücken. Der schnieke junge Mann stand hochgewachsen und kerzengerade hinter dem kurzen, flachen Tresen und grüßte zum Abschied.

      Der Hauptmann der NVA

      Man hätte es voraussehen müssen. Der Himmel über der Stadt hatte sich im Westen schon seit dem Mittag verdunkelt. Schon seit einigen Stunden hingen die schwarzen Gewitterwolken schwer über den Häuserdächern. Vereinzelt hatte es auch schon geblitzt, aber der Donner folgte erst verhalten grummelnd zeitversetzt aus der Ferne. Jetzt aber donnert es krachend und unmittelbar, nachdem der Blitz die Stadt für Sekunden in sein grelles Licht tauchte. Das ist das Kommando für die dicken schweren Wolken, sich eiligst zu entwässern.

      Ausgerechnet in diesem Moment quere ich die Mitte des geräumigen Rathausplatzes. In weiser Voraussicht haben viele Passanten schon vor dem Wolkenbruch sich nur noch unter Überdachungen und Markisen fortbewegt. Entsprechend eng wird es dort durch die weniger weisen Zuzügler, die von ungeschützten Orten hastig ins Trockene eilen.

      Die Körpersprache, insbesondere die feindseligen Blicke der drei Damen sagen alles: Merkt der Opa nicht, dass hier für ihn kein Platz mehr ist? Doch ich quetsche mich unbeeindruckt zu ihnen, sodass sich eine der Damen empört näher an ihre Freundinnen drängelt. Obwohl ich nachrücke, bleibt der äußere Teil meiner linken Schulter dem feuchten Unwetter ausgesetzt.

      Wohl dem, der jetzt einen Schirm zur Hand hat. Diejenigen, die keinen haben, drängeln sich unter einen Regenschutz oder flüchten in die Geschäfte. Schräg gegenüber ist das Rats-Café. Die Scheiben sind beschlagen. Manch einer wird es nur wegen des Gewitters aufgesucht haben. Ein beschirmter Gast verlässt das Café. Obwohl ich dort aufgrund der Überbesetzung keine nennenswerte Steigerung der Willkommenskultur erwarte, entschließe ich mich, seinen freigemachten Platz im Café zu besetzen.

      Ich bin erstaunt, wie gut ich doch noch auf den Beinen bin. Nach ein paar Sätzen stehe ich auch schon an der Kuchentheke. Es ist tatsächlich übervoll in dem kleinen Café. Tropische Schwüle bildet ein dampfendes Kleinklima. Einige Leute schlürfen ein Heißgetränk im Stehen. Ich sehe mich um und spähe dabei akribisch jede Ecke aus, während sich um mich herum aus einem nicht versiegenden Quell meiner Klamotten kleine Seen auf dem Fußboden bilden. Bedrohlich krachend schlägt ganz in der Nähe ein Blitz ein. Noch verhaltener als vorher werden die Gespräche nach der donnernden Unterbrechung weitergeführt.

      Die beiden Serviererinnen machen auf mich einen gestressten Eindruck. Ihre Kollegin hinter der Kuchentheke fordert durch eine Durchreiche ebenfalls ziemlich gereizt sauberes Geschirr. Die Überforderung des Personals kommt mir ganz gelegen. Ich brauche hier vorerst nichts zu bestellen und stehe ganz komfortabel im Trocknen.

      Zufälle gibt´s! Ein einziger freier Sitzplatz - und ausgerechnet ich entdecke ihn! An einem Pfeiler steht ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, von denen nur einer besetzt ist. Beim Annähern erkenne ich auch den Grund für den freien Stuhl. Am Tisch sitzt ein Hüne von einem Mann, der nicht den gepflegtesten Eindruck vermittelt.

      Während des nunmehr etwas zögerlicheren Annäherns erkenne ich, dass er eine seiner Plastiktüten unter und die andere auf dem Tisch an den Pfeiler gelehnt hat. Mit seiner rechten großen Pranke umschließt er vollständig ein etwas größeres Superexemplar von einem Kaffeepott. Ein leeres Kognakglas steht vor ihm auf dem Tisch. Er starrt vor sich hin.

      „Ist hier noch frei?“, frage ich ihn und schiebe auch schon mit meiner Linken den Stuhl zurecht.

      Mit ausdruckslosem Gesicht sieht er mich gleichgültig an. Während ich mich setzte, verharrt er ohne erkennbare Bewegung. Nur seine unbestimmbaren Augen verfolgen mich. Und immer noch schüttet es draußen aus Kübeln mit Blitz und Donner.

      Ich schiebe, um etwas mehr Platzfreiheit auf dem Tische zu erlangen, seine Plastiktüte etwas zu ihm hin. Er nimmt das wiederum nur mit seinen wertfrei beobachtenden Augen zur Kenntnis. Dann fährt aber plötzlich Leben in seinen gewaltigen Körper. Sein Kinn schiebt sich energisch nach vorn und seine Blicke dulden keinen Widerspruch.

      Er hat eine Serviererin entdeckt und fährt sie barsch auf sächsisch an: „Wo bleibt mein Kognak?“

      „Der kommt, wenn Sie dran sind“, antwortet sie schnippisch und dreht sich um, ohne von mir Notiz zu nehmen.

      Er sieht ihr nach und stellt anerkennend fest: „Aber einen schönen runden Apfelarsch hat sie ...“ Nach seinem Hinweis wird sie auch von meinen Blicken verfolgt. Die Gespräche der näheren Umgebung stocken kurzfristig.

      „Richtig schön apfelrund“, kommentiert er und beschreibt in der Luft mit seinen großen Händen zärtlich den idealen Apfel. „Oder nicht?“, fordert er eine Stellungnahme meinerseits.

      „Jau“, bestätige ich und entdecke zum ersten Mal in seinem unrasierten Gesicht eine Regung. Inmitten der grauen Stoppeln spielt ein ironisches Lächeln um seine Mundwinkel.

      Obwohl sein Alter schwer zu bestimmen ist, zähle

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