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ihm Leonardo da Vincis Mona Lisa Leid täte, weil die Eltern einer Revolutionärin vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund keine größere Geschmacklosigkeit unter Beweis hätten stellen können, als ihre hässliche Tochter auf den Namen Mona Lisa taufen zu lassen.

      „Mein Bruder Niels trieb sich damals mit seinen sechzehn, siebzehn Jahren unter den Studenten herum“, berichtete Bruder Holger und fuhr in der maschinenschriftlichen Biographie ausführlich fort:

      „Wir, mein Bruder und ich, kamen zwar nicht aus der Gosse, aber nicht weit davon entfernt. Wir hungerten auch nicht, wurden aber lediglich kostengünstig und obendrein falsch ernährt. Naja, wir entstammten unterstem Proletariat. Unser Vater leitete seine schier endlosen politischen Reden stets klassenbewusst mit den Worten ein: ‚Ich als Prolet sage …‘.

      Eine Kommilitonin und Genossin der Studentin Mona Lisa Pechstein hieß Lorena und war von der Natur mit ganz besonderer Schönheit bedacht worden. Mit ihren Genossinnen und Genossen hatten sie gemeinsam gegen den Vietnamkrieg demonstriert, Häuser besetzt, die Polizei mit Steinen beworfen, Schaufensterscheiben demoliert, die Meinungen anderer niedergeschrien, gegen das Establishment randaliert und sonstige revolutionäre Gedanken in die Tat umgesetzt.

      Lorena und Niels hatten etwas Gemeinsames, nämlich ihren Geburtstag am gleichen Tag, wobei Lorena wohl vier bis fünf Jahre älter gewesen sein dürfte. Mein Bruder Niels sagte damals, dass Lorena in zweierlei Hinsicht Interesse an ihm gehabt habe.

      Erstens sei er ihr Studienobjekt aus sozial schwachem Umfeld gewesen, das es galt radikal im sozialistischen Geiste zu revolutionieren. Niels gab zwar zu, dass er von der klugen Lorena viel Brauchbares gelernt hätte, aber er fragte sich auch ungläubig, warum er, wie Che Guevara im afrikanischen und bolivianischen Urwald, eine Arbeiterklasse befreien sollte, die sich weder für den Sozialismus begeistern wollte, noch besonders unfrei wähnte.

      Und zweitens gab es in der revolutionären Epoche natürlich auch eine sexuelle Revolution. Niels gestand auch diesbezüglich ein, dass er von der schönen Lorena viel Brauchbares gelernt hätte. Gerne erinnerte er sich später an die gemütliche Matratzenecke in der Wohngemeinschaft. Allerdings hatte er stets das ungute Gefühl, zusammen mit Lorena von mehr oder weniger zugekifften Kommunardinnen und Kommunarden überrascht zu werden. Deren hemmungsloser Begierde nach Gruppensex stand Lorena zum Glück ablehnend gegenüber.

      So jung Niels auch war, erkannte er aber doch, dass seine verliebte Beziehung zu Lorena nicht von Dauer sein würde. Spätestens dann, wenn Lorena ihren Langen Marsch durch die Instanzen angetreten hatte, bei dem etappenweise der große Vorsitzende Mao im Geiste mitmarschieren würde, trennten sich ihre Wege in voneinander sehr verschiedene Welten.

      So lange wollte er aber nicht warten. Noch einmal traf er sich mit Lorena in der Matratzenecke und wohnte anschließend ein letztes Mal an der Formulierung einer Grußadresse bei; die war an die bewaffneten Werktätigen einer Betriebskampfgruppe der DDR als Glückwunsch für Planerfüllung und als Dank für die Kampfbereitschaft zur Verteidigung der Errungenschaften des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaats gerichtet.

      Danach setzte er sich in die Bahnhofsgaststätte und versoff seine letzten Kopeken, fiel vom Stuhl und schlief ein. Anderntags musste ich Niels aus der Ausnüchterungszelle der Bahnpolizei abholen. Ab jetzt bemühte er sich, Lorena erfolgreich aus dem Wege zu gehen.“

      Der weitere Lebensweg von Niels Blumenstiel ist schnell erzählt und - besser noch - schneller zusammengefasst: Er schaffte es nicht, erfolgreich zu sein. Vielleicht wollte er es auch nicht.

      Der verschollene Blumenstiel brachte sich zwei Jahre nach seinem Verschwinden spontan bei Heinz Goldmann in Erinnerung, als der während des Frühstücks in der Tageszeitung las, dass die Leiche eines älteren Mannes bei Lauenburg aus der Elbe geborgen werden musste.

      Goldmann behielt seine unerklärlichen Befürchtungen nicht für sich. Als er sie Rosa Nagel offenbarte, war diese sehr erschrocken. „O Gott, der arme Herr von Blumenstiel“, ängstigte sie sich.

      Die Ahnungen der beiden sollten sich bestätigen. Und die Leiche wurde von Holger Blumenstiel als sein Bruder Niels identifiziert. Ein Fremdverschulden wurde kriminaltechnisch ausgeschlossen.

      Das Treffen mit Hildchen

      Es ist mir unangenehm und ich bedauere, dass ich als Einstieg in diese kleine Geschichte meine Bankgeschäfte thematisieren muss. Aber es geht kein Weg daran vorbei, weil ich von einer Überraschung erzählen will, die ich in meiner Bank erlebte.

      Seit ich mich am Onlinebanking beteilige, habe ich nicht nur weniger Kosten, auch meine Bankbesuche sind im Laufe der Zeit weniger geworden und vor Monaten gänzlich eingeschlafen. Genauer gesagt, seit Frau Roland nicht mehr hinter ihrem Schalter steht, weil sie in Pension gegangen ist, bin ich nicht mehr in der Bank gewesen. Wozu auch? Man erledigt ganz praktisch und bequem vor dem heimischen Monitor seine laufenden Geldangelegenheiten. Und Bargeld – wenn überhaupt Bargeld, man zahlt ja doch meist mit Kreditkarte – hole ich bei Bedarf an der Hauptstraße bei der Tankstelle aus dem Geldautomaten.

      Was soll ich hier noch weiter rumdrucksen: Mein Girokonto war fast bis zum Limit überzogen, woran mein etwas zu sorgloser Gebrauch oben erwähnter Kreditkarte wesentlichen Anteil hatte. Das schmerzliche Studium meines Online-Kontoauszugs, insbesondere die darauf mit dickem Minuszeichen erbarmungslos in Abzug gebrachten Zinsen, veranlassten mich, Frau Mechthild Strör, die Kundenberaterin meiner Bank anzurufen, um mit ihr einen Termin für ein Vieraugengespräch zu vereinbaren.

      Gut. Natürlich ist auch mir klar, dass es auch online relativ einfach ist, einen günstigeren Kredit als einen der üblichen Überziehungskredite ausfindig zu machen. Ich hoffte aber naiv, den schamlosen Wucher in einem persönlichen Gespräch mit der Kundenberaterin durch einen sensationell günstigen Ratenkredit umschulden zu können. Nun, das Bankangebot, dass mir Frau Strör unterbreitete, war günstiger, jedoch nicht so sensationell, wie ich erhofft hatte.

      Damit aber genug mit Einzelheiten dieser unerquicklichen Angelegenheit, zumal sie von der eigentlichen Geschichte, die ich zu erzählen beabsichtige, immer weiter ablenkt.

      Der schnieke junge Mann stand hochgewachsen und kerzengerade hinter einem kurzen, flachen Tresen am Eingang, gleich hinter dem Windfang. Er durfte sich sicherlich nicht anlehnen oder abstützen und musste sehr wahrscheinlich auf Geheiß seiner Vorgesetzten jede Lässigkeit unterlassen. Wo sonst, wenn nicht in einer Luxusherberge oder einer traditionsbewussten Bank, gibt es noch diesen gelebten Ausdruck seriös erscheinen wollender Noblesse? Wenn dieser Ausdruck man nur nicht so gespielt wäre…

      Der junge Mann machte seine Sache als Empfangschef im Vestibül seines Bankhauses jedoch sehr gut. Selbstverständlich war er von meinem Kommen unterrichtet, kannte mein Bedürfnis, mit Frau Strör ein finanzintimes Gespräch führen zu wollen und wusste auch die passende Uhrzeit dazu.

      „Bitte noch ein wenig Geduld, Frau Strör wird gleich bei Ihnen sein. Wenn sie mögen, nehmen Sie doch noch ein Weilchen in der Lounge Platz“, bot er mit seiner angenehm kräftig männlichen Stimme an und wies dabei, weniger mit dem Arm als elegant aus dem Handgelenk, auf eine kleine Sitzgruppe.

      Ich dankte. Spätestens jetzt nahm ich meine Rolle als Gast und Kunde dieses Bankhauses an. Wir neigen dazu, mal mehr und mal weniger, uns bestimmtem Umfeld in unserem Verhalten und Auftreten anzupassen. Dies um so mehr, als dieses Umfeld mit seiner Erwartungshaltung einen gewissen Druck auf uns ausübt. Ich ging nicht wie üblich motorisch, ohne Überlegung im Voraus, wie und dass ich überhaupt gehen sollte; nein, ich richtete mich auf und schritt bewusst gemessenen Schrittes, weil ich glaubte, dass man dies in diesem Hause so von mir erwartete.

      Aber natürlich darf man auch in einem noblen Bankhaus seine zugedachte Rolle individuell interpretieren. Ich ließ während des Schreitens mit leichter Kopfwendung meine Blicke von links nach rechts schweifen und hoffte, dass jedermann respektvoll gesundes Selbstvertrauen bei mir vermutete. Dann platzierte ich mich in einen der schweren, ledernen Sessel und schlug die Beine übereinander, was ich sonst nie tue.

      Selbstverständlich hatte ich pünktlich das Bankhaus betreten. Ich wüsste gar nicht

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