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im Hinblick auf mich nicht allzu vorsichtig, aber nur vielleicht. Schließlich kann ich versuchen, das Wasser in der Karaffe unmittelbar vor dem Schlafengehen zu wechseln; was schwierig genug sein dürfte, wenn ich mich nicht verraten will. Doch das reicht nicht, Lady Gaynesford wirklich zu schützen. Was weiter?«

       Richards graue Zellen waren auf Spurensicherung und Schlussfolgern getrimmt, kündigte doch ein Mörder seine Tat für gewöhnlich nicht an. Er brauchte zu dieser späten Stunde eine Weile, bis er im vorliegenden Problem das Muster des auf frischer Tat zu stellenden Verbrechers wiedererkannte. Erleichtert machte er sich daran, seiner alten Freundin Hilfestellungen zu geben. Die drei berieten bis tief in die Nacht.

      Kapitel 6

      Olivia schlenderte durch den Garten von Greystone Manor. Sie trug einen tiefvioletten, extrem langen Pullover zu schmalen Hosen in der gleichen Farbe, die sie sehr schmal und groß erscheinen ließen, in Wahrheit erreichte sie wenig mehr als ein Meter sechzig. Diese hundertdreiundsechzig Zentimeter allerdings waren außerordentlich gut durchtrainiert, sie hatte in Salzburg eine gründliche Ausbildung in klassischem Ballett absolviert und sich die damit verbundene vollständige Kontrolle über ihren Körper durch fortgesetztes Training erhalten, auch als sie den Traum von der Primaballerina aufgeben musste: ›Anlagenbedingte Verkürzung der Achillessehne‹ lautete damals die sachliche Erklärung des Arztes zu ihren wachsenden Schmerzen beim Training. Nach bitterem Kampf hatte sie sich von ihrem Jugendtraum abgewandt und schließlich in der Literatur eine andere mächtige Faszination gefunden. Den Blickfang ihrer gegenwärtigen Kleidung bildete ein weiter, in vielen Falten liegender Rollkragen, der ihr Gesicht umrahmte. Sie steht in unserem Garten wie eine Plastik von Mylady, überlegte Dorothy, die Wirtschafterin, die gerade im ersten Stock abstaubte.

       Wenn man durch den gelben Salon hindurch und den Flur entlangging, der am Esszimmer vorbeiführte, gelangte man in einen kleinen Raum mit einer Tür nach draußen, die verschlossen war. Hier befanden sich eine unbenutzte Garderobe, ein ausladender Wandspiegel und der Zugang zur Gästetoilette. Bei einem Glas heißer Milch in der Küche hatte Olivia herausgebracht, dass dies vor langer Zeit der offizielle Eingang gewesen war. Später hatte Sir Edward ihn nur noch benutzt, wenn er in den Wald ging. Es führte ein direkter Weg von der Haustür zu einer schweren Eichentür in der Gartenmauer. Seit er die Jagd aufgegeben hatte, war die Tür in der Mauer nicht mehr benutzt worden und nach seinem Tod hatte Lady Gaynesford auch die Haustür endgültig schließen lassen.

       Olivia stand zu dem Zeitpunkt, als Dorothy vom ersten Stock einen Blick auf sie geworfen hatte, am Ende jenes Weges, der von der ehemaligen Eingangstür des Hauses zu der schweren Eichentür in der Gartenmauer führte. Er war auf beiden Seiten von Kugelakazien gesäumt, die über ihm zusammenstießen, das Licht dämpften und den Blick zu der knieenden Steinfigur an seinem Ende lenkten. Ihre nur angedeuteten Hände und Arme waren vor der Brust verschränkt und ihr gelassen trotziger Blick erinnerte Olivia an olmekische Menschendarstellungen. Sie schien unmissverständlich klar zu machen, dass es hier kein Weiterkommen gebe. Und genau das war es, was Olivia eigentlich interessierte. Ihre Augen verfolgten die einzelnen Efeuranken von der Mauer zur Tür, das Geißblatt und die Brombeeren, die von außen über die Mauer guckten. Es stand außer Zweifel, dass durch diese Tür seit Jahren niemand hindurchgegangen war. Das gleiche galt für die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Gartens. Sie wandte sich wieder nach links und ging über den Rasen auf ein Ensemble buchsbaumgesäumter Beete zu, das mit Lavendel und verschiedenen Rosensorten bepflanzt war. Im hintersten Beet wuchsen Strauchrosen, die im Sommer einen Durchgang in der Mauer verdeckten. Olivia schritt darauf zu und sah in einen alten Obstgarten. Unter den Bäumen blühte ein Meer gelber Osterglocken; lediglich ein Rasenweg war freigehalten worden, der zum Gemüsegarten führte. Hier arbeitete Dorothys Mann Alfred an den Frühbeeten. Alfred Jonas war Gärtner auf Greystone Manor und Chauffeur, derselbe, der den Bentley nach der Versteigerung gefahren hatte. Er bemerkte Olivia erst, als sie unmittelbar neben im stehenblieb. Erschrocken sprang er auf und wischte seine Hände an der Gartenschürze ab.

       »Entschuldigen Sie, Miss Lawrence, kann ich irgendetwas für Sie tun?«

       Olivia schüttelte leicht den Kopf. »Es tut mit leid, dass ich Sie gestört habe, Mr Jonas. Ich erhole mich nur ein wenig von der Schreibtischarbeit. Dieser Garten ist so schön, es ist ein Vergnügen, darin herumzugehen.« Sie sah sich in dem großen ummauerten Küchengarten um; noch waren die meisten Gemüsebeete leer, aber sie sah viele Reihen Erdbeerpflanzen, Johannisbeersträucher und zwei Tonglocken, unter denen sicher Rhabarber vorgetrieben wurde.

       »Wer macht diese viele Arbeit?« wandte sie sich wieder zu dem kleinen Mann. Er war nicht größer als sie selbst.

       »Oh, meine Frau und ich, jedenfalls das meiste. Im Frühling habe ich manchmal einen Jungen aus der Gärtnerei im Dorf, aber nicht oft. Lieber mache ich es selber.« Seine Augenlider zwinkerten wie entschuldigend hinter seinen dicken Brillengläsern. Offensichtlich war sie ahnungslos in sein Refugium eingedrungen. Sie sprachen noch ein wenig über Schnittblumen, die er für die Vasen im Haus großzog, dann verließ Olivia den Küchengarten durch einen zweiten Durchlass in der Mauer und befand sich im Garagenhof, in dem auch ihr Wagen parkte. Sie wandte sich ein weiteres Mal nach links dem Haus zu und ging an den Wirtschaftsräumen entlang. Auch das Atelier von Lady Gaynesford befand sich hier. Der lange Gang war bis zum Haus überdacht, nach links zum Garten offen. Zwischen zwei Säulen, an denen Clematis hinauf rankte, trat sie wieder auf den Rasen und zwischen den Taxusbüschen hindurch zu dem ruhenden Jaguar. Sie betrachtete ihn eine Weile, strich nachdenklich über den glattpolierten Stein und ging schließlich über die Terrasse in die Bibliothek zurück.

       Die Wände hier waren, soweit Fenster und Türen es zuließen, mit Bücherregalen gefüllt. In der Mitte des Raumes stand ein riesiger Schreibtisch, an dem Olivia sich jetzt wieder niederließ. Weiter gab es einen bequemen Sessel mit Leselampe und Beistelltisch. Das war die ganze Einrichtung. Die Bibliothek war der Arbeitsraum von Sir Edward, Lady Gaynesfords verstorbenem Gatten gewesen.

       Den Ellenbogen leicht auf die Arbeitsfläche des Schreibtisches gestützt sah Olivia durch das Fenster zu ihrer Rechten auf die große stille Rasenfläche hinaus. Hinter der Mauer am Ende lag, wie sie durch ihren Rundgang wusste, der Küchengarten, in dem Mr Jonas wieder ungestört pflanzte. Sie war nun ziemlich genau vierundzwanzig Stunden hier. Gestern Nachmittag hatte sie ihr Zimmer und diesen Schreibtisch bezogen und im Verlauf des Abends genauere Vorstellungen davon bekommen, welche Schwerpunkte Lady Gaynesford ihrem Lebensabriss in ›Arts and Artists‹ zu geben wünschte. Die Lady war heute in London, morgen würde sie zur heißen Schokolade wieder zur Verfügung stehen. Die Bücher und Sonderdrucke, Mappen mit Zeitungsartikeln und Photos, mit Briefen, die sich um Olivia herum auf dem Schreibtisch stapelten und sie viele konzentrierte Stunden dieses Samstags beschäftigt hatten, bezogen sich vorwiegend auf das künstlerische Leben der Victoria Gaynesford. In deren Salon, der sich einigermaßen spiegelbildlich zur Bibliothek hinter dem Esszimmer auf der anderen Seite des Hauses befand, gab es ebenfalls beträchtliche Mengen Bücher, sämtlich zur Kunstgeschichte. Auch sie durfte Olivia ausdrücklich benutzen. Vielleicht halfen sie ihr weiter bei der historischen Eingliederung des künstlerischen Werkes ihrer Lady. Wie erwartet machte dieser Aspekt ihr als Laien die größten Schwierigkeiten, wenn auch hoffentlich keine unüberwindlichen. Die vielen Figuren auf dem Dachboden kamen ihr in den Sinn; es lohnte sicher herauszufinden, was sie ihr heute erzählen konnten. Bis Mrs Jonas das Abendessen bringen würde, war noch genügend Zeit.

       Olivia stieg die Treppen hinauf. Die Tür zum Dachboden war nicht nur nicht versperrt, es gab überhaupt keinen Schlüssel. Der dumpfe Ton, den sie beim Öffnen von sich gab, war gerade laut genug, um in Olivia das Abenteuergefühl wachzurufen, das sie bei ihren kindlichen Streifzügen durch Fulham empfunden hatte. Dazu machte es ihr deutlich, wie leer das alte Herrenhaus zwischen seinen hohen Mauern dastand. Glücklicherweise war hier oben eine äußerst wirkungsvolle elektrische Beleuchtung installiert worden. Sie ging langsam an den Figuren entlang, lächelte dem kleinen Jaguar auf der hintersten Kiste zu und blieb stehen. Ihre Augen schweiften über menschliche Figuren, über Köpfe, Büsten, vollständige Gestalten. Als sie dem Wunsch nachgab und mit dem Finger über einen einzelnen Kopf strich, war ihr, als würde die Grenze zwischen der Skulptur und ihr sich aufheben und ein wortloser Erfahrungsaustausch beginnen. Ihre Hände nahmen Kontakt mit manchem der Gesichter auf und befragten

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