Скачать книгу

East End, es kann aber auch ein bizarrer Brauch sein. Wichtig ist, dass es ›englisch‹ ist, d.h. den speziellen Weg oder die individuelle Sicht dieses Landes im Gegensatz zu seinen europäischen Nachbarn vor Augen stellt. Ich möchte berichten, was anders, möglicherweise auch fremd ist.«

       Der aufmerksame Blick ruhte weiterhin auf Olivia. »Wollen Sie die verschiedenen Welten vermitteln?«

       Olivia zögerte mit der Antwort. »Eher nein. Vermitteln wäre ein politischer, wohl auch sozialer Vorgang. Literatur, im Glücksfall auch mal ein Zeitungsessay, stoßen Gedanken im einzelnen Leser an. In der Summe können sie sein Handeln beeinflussen; ihre Wirkung bleibt aber doch sehr indirekt.«

       Das Ehepaar Wotheridge traf ein und damit wurde das Gespräch unterbrochen. Noch äußerst angeregt von den vorangegangen zwei Stunden begann der Pfarrer sofort über die Versteigerung zu reden. Eine Frau mittleren Alters in dezenter Kleidung brachte währenddessen eine Kanne mit heißem Tee herein und stellte sie auf der Anrichte ab. Olivia sah erst jetzt, dass dort einige kleine Schalen mit Gebäck vorbereitet waren, daneben stand das ungewöhnlichste Teeservice, das sich denken ließ. Jede Tasse zeigte ein Gesicht, jedes in einer spezifischen Stimmung; Augen, Nase, Mund, womöglich die Ohren waren erhaben gearbeitet und mit schwarzer und weißer Farbe klar hervorgehoben. Die Grundfarbe war ein sehr helles warmes Terrakotta, die Innenglasur war weiß.

       Während Pfarrer Wotheridge weiter sprach, setzten sie sich zu einer gemütlichen Runde. Die Frau, die den Tee hereingebracht hatte, verteilte kleine Tischchen neben jeden Sessel und stellte jeweils ein Gebäckschälchen dazu. Sie goss den Tee in diese ungewöhnlichen Tassen und brachte sie zu den einzelnen Tischchen, bevor sie den Raum verließ. Der Tee war so heiß, dass er noch immer dampfte. Die Tassen wirkten mit ihren Gesichtern wie kleine Geister, die sich in diese Gesellschaft gestohlen hatten; da sie nachdenklich bis heiter schauten, waren sie angenehm. Der eine oder andere dampfende Geist wurde aufgenommen und behutsam der erste heiße Schluck versucht. Das Gespräch bekam Pausen, während man dem Gebäck die Ehre erwies. Manchmal streifte ein neugieriger Blick von Mrs Wotheridge Olivia.

       »Mein junger Gast,« ergriff Lady Gaynesford das Wort, »ist Journalistin und schreibt regelmäßig für eine deutsche Tageszeitung über das Besondere und Absonderliche unserer Hauptstadt.«

       »Nein! Völlig unmöglich!« entfuhr es Mrs Wotheridge.

       »Aber warum denn?«

       »Also, Journalisten sind niemals so schweigsam. Sie reden doch am liebsten selber. Und neugierig sind sie und drängen sich in alles hinein und wollen immer Dinge wissen, die sie gar nichts angehen – und dann sehen Sie gar nicht so aus, nehmen Sie mir das bitte nicht übel. Aber Journalistinnen tragen immer Jacketts, so wie die Leute in der City. Enge Röcke und Jacketts – nur nicht schwarz wie die Bankleute, sondern eher farbig und überhaupt…«

       »…überhaupt…«

       »Und überhaupt,« antwortete die Pfarrersgattin jetzt wieder etwas beruhigt, »würde Lady Gaynesford niemals eine Journalistin in ihr Haus lassen.«

       »Sehen Sie, das ist eben das Interessante,« mischte sich die Lady wieder ein. »Die Kleidung war es, die meine Aufmerksamkeit als erstes anzog.«

       Olivia trug schmale schwarze Hosen und einen schwarzen Rollkragenpullover, darüber ein ärmelloses Oberteil aus dicker Wolle, das zwei Handbreit über den Knien endete. Es zeigte ein schwarz-weißes Schachbrettmuster, in das anstelle eines v-förmigen Halsausschnittes eine ruhige Fläche in dunklem Rostrot eingearbeitet war. Die untere Kante sowohl als der Abschluss der Armausschnitte und seitlichen Nähte fügte eine leuchtende Kombination der verschiedensten Farben hinzu.

       »Darf ich so kühn sein und fragen, wo Sie dieses Oberteil erstanden haben?«

       Olivia lachte. »Nirgendwo. Ich habe es selbst gestrickt.«

       »Sie haben es selbst gestrickt?« Mrs Wotheridge war sprachlos. »Es ist hervorragend gearbeitet. Nach welcher Vorlage stricken Sie?«

       »Nach meiner eigenen. Ich stricke nur, was ich selber entwerfe.«

       »Und – haben Sie dieses Muster ganz frei erfunden?« fragte Lady Gaynesford fast gespannt.

       »Nein, Vorlage war ein peruanisches Offiziersgewand, ein Unqu, das im Völkerkundemuseum in Wien ausgestellt ist und mir, wie Sie sehen, sehr gefallen hat.«

       »Ich wusste es! Die Indianer im peruanischen Hochland kennen es noch heute, aber außerhalb von Peru bin ich ihm nie begegnet. Sie sehen, Ihre Kleidung ist für mich noch außergewöhnlicher als sie es ohnehin schon ist. Doch davon abgesehen, sind die Kleidung und ihre Trägerin bemerkenswert genug, um eine Einladung zu wagen und sich zu freuen, wenn sie angenommen wird.« Die alte Dame neigte leise den Kopf und griff wieder zu ihrer Teetasse.

       »Wenn ich Lady Gaynesford richtig verstanden habe,« wandte sich nun der Pfarrer an Olivia, »ist nicht die Politik Ihr Thema. Was ist es dann?«

       »Ich schreibe ›Londoner Skizzen‹.«

       »Nein! Das ist doch der deutsche Titel von den ›Sketches by Boz‹ von Dickens.«

       Olivia sah ihn überrascht an und Mr Wotheridge genoss die Überraschung, die er ausgelöst hatte. »Ich kam als Soldat nach Deutschland und blieb bis 1947 dort stationiert,« erklärte er. »Ich habe mir damals die Freizeit damit vertrieben, herauszufinden, was die Deutschen von England wussten – aber wie kam es zu einer Reihe mit diesem Titel?«

       Es entstand eine kleine Pause. Olivia sah, dass sie mit Hilfe von Dickens die Sympathie des Pfarrers gewann und dass die Entrüstung seiner Frau wachsender Freundlichkeit Platz zu machen begann. Lady Gaynesford lehnte, beide Hände um ihre Teetasse geschlossen, ruhig da und schaute sie darüber hinweg an.

       »Mein Vater war Engländer, meine Mutter Österreicherin,« holte Olivia ein wenig aus. »Meine ersten Lebensjahre habe ich in London verbracht, in Salzburg ging ich dann zur Schule, war aber jedes Jahr im Sommer und zu Weihnachten wieder in London. Dadurch fiel mir sehr früh auf, dass österreichische Kinder manches anders machten, andere Spiele spielten und andere Bücher lasen als meine englischen Freunde. Das war spannend. Und bis heute haben die kleinen Unterschiede ihren Reiz für mich behalten. Ich lebe nun schon wieder viele Jahre in London, besuche aber weiterhin regelmäßig Österreich. In den ›Londoner Skizzen‹ berichte ich von englischen Alltäglichkeiten im weitesten Sinne, die es so in Österreich oder Deutschland nicht gibt. Halloween ist ein populäres Beispiel.«

       Mr Wotheridge nahm dieses Thema mit ganz persönlicher Anteilnahme auf und bald waren alle in angenehmen Austausch über englische Eigenheiten vertieft. Tee wurde nachgegossen und die eine oder andere Lampe angezündet. Hin und wieder knackte es leise im Kamin.

      Kapitel 4

      Olivia saß an ihrem Schreibtisch, nun schon seit Stunden. Sie sichtete das Material, das sie in Bibliotheken und Archiven über Lady Gaynesford zusammengetragen hatte. Es war für sie ein Akt des Respektes, auf der Basis der allgemein zugänglichen Informationen neue Fragen für ihr Interview zu finden. Sie hatte sich mit einem festen Gesprächstermin von der alten Dame verabschiedet. Doch dieses Mal schien alles auf dem Kopf zu stehen. Der erste Kontakt zu Lady Gaynesford hatte die Fremdheit mit einem Satz übersprungen. In der Folge schien es ihr, als würde sie hinter dem Rücken eines Freundes all das herauszufinden versuchen, was er ihr freiwillig nicht erzählte. Das war blanker Unsinn. Es wäre eine grandiose Unhöflichkeit gewesen, so ahnungslos zurückzukehren wie sie gegangen war. Möglicherweise lag das Problem in der Todesanzeige: Sie wusste etwas, wovon sie eigentlich unmöglich wissen konnte und worüber zu sprechen völlig ausgeschlossen war. Wiederum wäre es das Beste, dies Blatt Papier einfach zu vergessen. Stattdessen kreiste es wie eine fixe Idee in ihrem Kopf: Von Lebenden existieren normalerweise keine Todesanzeigen. Also war ihr eine Information zugeweht worden, die nicht einfach in den Papierkorb gehörte. Fatalerweise hatte sich dieser die ergänzende Information hinzugesellt, dass Lady Gaynesford im letzten Spätherbst eine schwere Herzoperation überstanden hatte, deren Erfolg einige Tage durchaus offen geblieben war. Das war in dem leichten Geplauder mit dem Ehepaar Wotheridge herausgekommen, während sie vom Tee bei Lady Gaynesford gemeinsam zurück ins Dorf fuhren.

       Olivia schüttelte den Kopf.

Скачать книгу