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begrüßt. Ein eifriger junger Mann stieß zu ihnen. Nach kurzem Hin und Her übernahm er den Holzkoffer, trug ihn zu dem vorn aufgestellten Tisch und stellte sieben Figuren daraus äußerst behutsam nebeneinander auf den dicken grünen Filz. Im Raum wurde es allmählich still. Die Besucher schauten die Figuren an, um derentwillen sie unter anderem hergekommen waren, und die Figuren, so erschien es zumindest Olivia, schauten die Besucher an. Zwei von ihnen waren aus Ebenholz, aufrecht stehend jede mit einem Buch in der Hand, die eine tief in Gedanken, die andere heiter und nahezu mitteilsam. Die übrigen fünf Gestalten zeigten eine so glatt polierte Oberfläche, dass Olivia aus ihrer Entfernung das Material nicht erkennen konnte. Sitzend oder kniend ruhten sie in sich und ihre Gesichter spiegelten unterschiedliche Emotionen. Eine dieser Figuren berührte Olivia außerordentlich, eine Frauengestalt, die nach langem Nachdenken nun den Entschluss zum Handeln gefasst zu haben schien, von sich selbst überrascht.

       In der Nähe wurde leise eine Tür geöffnet und wieder geschlossen und Olivia dadurch von den Figuren abgelenkt. Eine stattliche Dame, gekleidet in ein Ensemble aus fließend schilfgrüner Seide, war eingetreten, auf den hochgesteckten weißen Haaren ruhte eine leichte Kopfbedeckung aus Federn und einem dunkelgrünen Schleier, eine Halskette und Ohrringe aus grüner Jade vervollständigten den Eindruck kultivierter Eleganz. Leicht auf einen schwarzen Stock mit Silberknauf gestützt streifte ihr Blick über die Reihen aufmerksam nach vorn schauender Menschen, verweilte kurz auf Olivia und verfolgte mit gleichmütigem Interesse die Versteigerung der Figuren. Olivia hingegen war so vollständig gefangen, dass sie den Ablauf im Saal nur noch von Ferne wahrnahm. Sie fand es wirklich schwierig, den Blick wenigstens manchmal von dieser Frau abzuwenden, die in einer perfekt gelassenen Haltung dastand, als wäre sie selbst ein Kunstwerk: In gemessener, emotionsloser Distance zu den umgebenden Menschen wie Ereignissen, kontrolliert bis in die kleinste Bewegung, bot sie ein Musterbeispiel für das Auftreten der englischen Oberschicht. Und doch wob etwas Fremdes um sie, etwas nicht Hierhergehöriges, jederzeit zum Aufbruch bereit, am Ort gehalten durch die Augen, deren aufsaugende Teilnahme die formale Gelassenheit eigentümlich kontrastierte. Sie musste es sein, ›ihre‹ Lady mit den schönen Versen.

       Applaus brach die Stille des Raumes auf und das Bild der Lady bewegte sich, zeigte ein freundliches Lächeln und schritt nach vorn, von wo der Pfarrer ihm aufgeräumt entgegensah. Verhaltenes Räuspern, Stühle rücken und zunehmend lauter werdendes Murmeln wiesen Olivia darauf hin, dass die Versteigerung vorüber war, ohne dass sie irgendetwas mitbekommen hatte.

       Der Pfarrer begrüßte Lady Gaynesford, stellte sie den Anwesenden vor und bedankte sich für ihre großzügige Gabe. Der Erlös der Versteigerung sei so weit über alle Erwartungen hinausgegangen, dass er der Künstlerin ein leuchtender Beweis ihrer Fähigkeiten und Berühmtheit sei. Für das Erziehungsprojekt auf Yukatan in Mexiko, dessen Patenschaft er und seine Gemeinde sich vor nunmehr fünfzehn Jahren verpflichtet hätten zu übernehmen, reiche der Betrag weiter in die Zukunft als ihre gegenwärtig ausgearbeiteten Pläne. Leises Gelächter hier und dort und einhelliger großer Applaus setzten den Schlusspunkt. Stühle scharrten, das Murmeln schwoll zu Stimmengewirr, wiederholt zuckten Blitzlichter der örtlichen Presse und von der Tür fand gelegentlich ein kühler Luftzug seinen Weg in den überheizten Raum – das normale Durcheinander der im Grunde geordneten Auflösung einer größeren Versammlung.

       Lady Gaynesford hörte viele Komplimente und schüttelte noch mehr Hände, ebenso der Pfarrer. All den verschiedenen Prozeduren zuschauend bewegte Olivia sich allmählich nach vorn, als die alte Dame sie plötzlich zu sich heranwinkte. Automatisch schaute sie hinter sich, doch da war wirklich niemand mehr. Überrascht trat sie näher.

       »Meine Liebe, Pfarrer Wotheridge und seine Gattin begleiten mich zum Tee. Darf ich Sie bitten, sich uns anzuschließen?« Die Frage war so einladend wie definitiv und wenig später fand Olivia sich in dem weichen Rücksitz eines Bentley aus Copper Hill hinaus rollen. Hohe Hecken beiderseits der Straße ließen die Welt zurücktreten und bald bog der Wagen durch ein großes Tor in einen gepflasterten Hof ein. Durch eine Art Säulengang, der den Blick auf Rasenflächen und Taxusbüsche freigab, führte Lady Gaynesford ihren Gast, von dem sie jetzt immerhin den Namen wusste, ins Haus und in einen Salon, durch dessen große Glastüren auf beiden Seiten man ebenfalls in den Garten schauen konnte. Der Raum war in einem sehr hellen, ruhigen Gelb gestrichen. Auf den alten Holzdielen lag ein dicker, einfarbiger Teppich in dunklem Terrakotta. Die zahlreich herumstehenden Sessel waren mit einem dezent gelbweißgestreiften Stoff bezogen und überall, einfach überall, auch auf Sitzpolstern und am Boden lagen Kissen in allen denkbaren Schattierungen zwischen hellem Gelb und dunkel gebranntem Ton. Die Kaminumrahmung auf der einen und die alte reichgeschnitzte Anrichte auf der gegenüberliegenden Seite, beide aus dunkler alter Eiche, bildeten einen fast graphischen Kontrast zu den Farben. Große Pflanzen vor und hinter den Glastüren lösten die Begrenzungen des Raumes gleichsam auf.

       Olivia trat an eine der Türen und sah hinaus in den Garten. Über die mit grauen unregelmäßigen Natursteinen gepflasterte Terrasse wurde der Blick in einen Gang gezogen, der aus parallel gepflanzten, zu Obelisken geschnittenen dunklen Taxusbüschen bestand, so dicht beieinander, dass sich die Illusion eines Ganges dem Auge darbot und doch so weit voneinander, dass der Blick ins Weite ausschweifen konnte, sobald der Betrachter etwas zur Seite trat. Am Ende dieses friedvoll gemessenen Stückes Natur saß ein großer Jaguar. Aufgerichtet auf die Vorderbeine, den mächtigen Kopf leicht vom Betrachter abgewandt, schien die Konzentration des Tieres auf eine Bewegung außerhalb der Taxusbüsche gerichtet; noch war seine Haltung entspannt. Gearbeitet war die Figur aus grünem Naturstein, so glatt geschliffen, dass er das Licht des hellen, fast weißen Frühlingshimmels aufnahm und sich dadurch der Eindruck der Lebendigkeit verstärkte.

       »Dieser Jaguar im Osten verkörpert den Morgen,« unterbrach Lady Gaynesford die Stille. Olivia verstand sie sofort: Der erwachende Tatendrang, die Versammlung aller über Nacht erfrischter Energie teilte sich ganz unmittelbar mit.

       »Und jetzt schauen Sie einmal aus der gegenüberliegenden Tür, nach Westen.«

       Olivia durchquerte den Raum und sah sich einem fast spiegelgleichen Taxusgang gegenüber, an dessen Ende eine Jaguarfigur in großer Ruhe lag , die Beine unter den Körper gezogen, den Kopf noch leicht erhoben, doch bereits mit dem Ausdruck entspannten Friedens.

       »Wie schön sie sind!« Olivia wandte sich zu Lady Gaynesford zurück und begegnete zwei sehr aufmerksamen Augen.

       »Setzen wir uns, liebe Miss Lawrence. Ich werde mich dort ans Feuer setzen, etwas Wärme kann ich jetzt ganz gut vertragen. Und Sie wählen bitte den Platz, der Ihnen am meisten zusagt.«

       Olivias Blick flog über die Farbenpracht der Kissen. Sie wählte einen Sessel Lady Gaynesford gegenüber, jedoch so weit zur Mitte des Raumes verschoben, dass sie, wenn sie wollte, ein wenig in den Garten hinausschauen konnte.

       »Erzählen Sie mir von sich. Es würde mich freuen.«

       Olivia sah zu Lady Gaynesford hinüber, die bequem angelehnt und gleichzeitig sehr aufrecht in ihrem Sessel saß und mit demselben aufmerksamen Blick auf ihren Gast sah wie zuvor.

       »Mein Hauptberuf ist Übersetzerin. Ich übersetze Literatur aus dem Englischen ins Deutsche, Kurzgeschichten, gelegentlich einen Roman, vor allem aber Lyrik. Zurzeit erlaube ich mir eine Ausnahme in umgekehrter Richtung, ich bin mit Schillers ›Die Räuber‹ beschäftigt, die ich für eine Theatergruppe im East End neu übertrage.«

       »Aber davon kann man nun endgültig nicht mehr leben…?«

       »Nein, das kann man nicht. Diese Übersetzung habe ich auch nur übernommen, weil ich mich mit den Leuten gut verstehe und weil es Schiller ist. Schiller in England etwas bekannter zu machen, rechtfertigt einigen Aufwand; und mit dem Theater habe ich mich seit Kindertagen immer wieder eingelassen – aber mein Leben bestreite ich eher von dem Geld, das ich durch Übersetzungen in der Industrie bekomme oder für große Artikel aus deutschsprachigen Zeitungen, übersetzt für englische Blätter. Und seit vier Jahren habe ich eine feste Reihe in der ›Süddeutschen Zeitung‹ in München.«

       »Was für eine Reihe ist das?«

       »Ich berichte alle vierzehn Tage über etwas, das mir in London als interessant und eigen auffällt; eigen in dem Sinne, dass es in dieser Form nur in London, nicht aber beispielsweise in Wien geschieht. Das kann

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