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kenne ihn nicht. Was meinen Sie, wie viele ältere Menschen allein oder in Begleitung hier ein und aus gehen! Man muss sich ja nicht bei mir anmelden. Ich sitze hier eher pro forma oder um Fragen von Bewohnern oder Besuchern zu beantworten. Woher soll ich wissen, wer der verschwundene Gast war?“

      „Sie wissen also nicht, wer hier rein und raus geht?“, wunderte sich die Polizistin. „Wenn nun verwirrte Bewohner die Residenz verlassen wollen, dann spazieren die einfach so raus?“

      „Nein! Auf den Stationen sind Türen mit besonderen Griffen und die Schiebetür dort hinten öffnet sich von innen nur, wenn man den täglich neu dort ausgehängten vierstelligen Code eingibt, das überfordert die meisten Dementen, wohingegen die Besucher in der Regel in der Lage sind, damit die Schiebetür zu öffnen.“ Die Dame lächelte und ergänzte: „Ausnahmen bestätigen die Regel!“

      „OK. Wenn wir Ihnen ein Bild zeigten, könnten Sie sich dann vielleicht erinnern?“, schaltete sich Tom zum ersten Mal ein.

      „Schon möglich.“

      „Wäre es Ihnen aufgefallen, wenn Herr von Heesen nicht freiwillig mitgegangen wäre?“, übernahm Clara wieder.

      „Nicht unbedingt. Manche von den Demenz- oder Alzheimer-Patienten erkennen ihre Angehörigen nicht wieder und machen Szenen, wenn diese mit ihnen zum Arzt wollen oder sie zu einem Spaziergang abholen.“

      Tom meinte genervt: „Aber der alte Mann ist doch erst vor sieben Tagen verschwunden! Fällt Ihnen denn nichts ein?“

      „Nein, es gab nichts Auffälliges, das habe ich den anderen Beamten auch schon gesagt. Wir sind doch keine Anstalt, wo Ein- und Ausgänge überwacht werden!“

      „Zeichnet die Überwachungskamera Tag und Nacht auf?“, forschte Clara.

      „Ja, aber die Daten wurden von der Kriminalpolizei konfisziert.“

      „Danke, für Ihre freundlichen Auskünfte“, schloss Clara das Gespräch und verließ die Residenz.

      Widerwillig trottete Tom hinter ihr her: „Hey, warum gehst du? Wir müssen das Personal befragen!“

      „Tom, wir dürfen da nicht ermitteln. Das ist Sache der Kriminalpolizei, sonst handeln wir uns ‘ne Menge Ärger ein!“

      „Und jetzt? Das war’s?“, maulte der Jüngere.

      Clara schritt den Bürgersteig entlang, erst nach rechts bis über zwei Querstraßen hinaus, dann zurück und circa 200 Meter nach links. Die Seniorenresidenz befand sich in einem vornehmen Villenviertel, hier waren wenige Leute auf dem Bürgersteig unterwegs. Einmal sprachen sie eine ältere Dame an, die einen Malteser spazieren führte, ob sie vor ungefähr sieben Tagen etwas Ungewöhnliches bemerkt habe, aber die Dame verneinte höflich.

      Das ganze Gebiet war eine 30er-Zone. Am Straßenrand parkten nur vereinzelt Autos, da die meisten Grundstücke über eigene Garagen verfügten oder zumindest Stellplätze am Ende der meist mit Gittertoren verschlossenen Zufahrten aufwiesen. Fremde Autos würden hier eigentlich auffallen, aber Clara hatte keine großen Hoffnungen, dass ein Anwohner etwas bemerkt hatte, da die Villen ausnahmslos weit zurückgesetzt von der Straße, oft teilweise durch Hecken oder Bäume verdeckt, in den parkähnlichen Anlagen platziert waren.

      Tom stoppte: „Schau mal!“ Clara sah ihn fragend an, folgte dann seinem Blick. Halb verdeckt durch die ausladenden Äste einer Araukarie entdeckte sie eine schwenkbare Überwachungskamera an einem Stützpfosten, der einem der gigantischen Baumarme Halt lieferte.

      Clara nickte Tom anerkennend zu: „Gut gemacht! Während ich hier frage, ob wir die Aufzeichnungen bekommen, könntest du bei den um die Residenz gelegenen Grundstücken noch mal nach weiteren Kameras Ausschau halten!“

      „Aye, aye, Chefin!“

      „Dösbaddel!“, konterte Clara, bevor sie an dem Mäuerchen an der Zufahrt auf den Klingelknopf drückte.

      Nach kurzer Zeit ertönte eine weibliche, stark näselnde Stimme: „Sie wünschen, bitte?“

      „Polizei! Frau Stelling, kann ich Sie kurz sprechen, bitte?“

      „Können Sie sich ausweisen?“

      Die Polizistin hielt ihren Dienstausweis vor die kleine Kamera oberhalb der Klingel. Das Torschloss surrte und gab Claras Druck nach. Sie schritt die halbmondförmige Auffahrt zu einer strahlend weiß gestrichenen Villa hinauf, vorbei an diversen Gartenstatuen, kleinen Springbrunnen und in Kugelform geschnittenen Büschen.

      „Das ist ein Leben!“, dachte die Polizeibeamtin, die für einen Hungerlohn immer wieder ihr Leben riskierte und sich die Gesundheit mit den vielen Nachtdiensten und Wechselschichten ruinierte.

      Als sie gerade die fünf Stufen zur Haustür hinter sich hatte und nach einem Türklopfer oder Klingelknopf suchte, öffnete eine kleine Frau, weit in den Siebzigern, selbst die Tür. „Kommen Sie, Frau …?“

      „Polizeihauptmeisterin Schütt!“ Clara folgte der Seniorin in ein rundes Foyer mit einem hübschen Bodenmosaik aus Marmor.

      Die alte Dame hielt an. „Wie kann ich Ihnen helfen, Frau Polizeihauptmeisterin Schütt?“

      Das vornehme Näseln der alteingesessenen Hanseaten regte die Beamtin aus dem Ruhrpott jedes Mal auf, so fiel ihre Bitte etwas schroffer aus als beabsichtigt: „Wir benötigen Ihre Überwachungsdaten von der Kamera, die unzulässigerweise nicht nur Ihr Grundstück sondern auch den öffentlichen Bereich davor erfasst!“

      „Aber warum denn?“

      „Wir sind auf der Suche nach einem Wagen, der vor rund einer Woche in der Nähe geparkt gewesen sein könnte, um den Fahrer als Zeugen zu befragen.“

      „Ist irgendwo eingebrochen worden?

      „Nein, seien Sie unbesorgt, nichts ist passiert. Können Sie mir die Aufzeichnungen überlassen? Wie lange werden die denn gespeichert?“

      „Da fragen Sie mich was! Dafür ist mein Sohn zuständig. Ich bin Witwe, seither wohnt Jochen wieder hier, aber er ist bei der Arbeit. Ich kenne mich damit überhaupt nicht aus. Da müssen Sie wohl nochmals wiederkommen.“

      „Wann kommt Ihr Sohn denn heim?“

      „Das ist unterschiedlich. Heute ist Dienstag, da kommt er oft so auf die Sieben.“

      „Danke sehr, Frau Stelling! Wir melden uns.“ Vorne an der Haustüre verabschiedeten sich die beiden Frauen höflich voneinander. Die Besitzerin blieb vor der Tür stehen, bis das Gitter zur Einfahrt hinter der Besucherin zugefallen war.

      Clara winkte ihr kurz zu und dachte: „Wenn man reich ist, lebt man selbst hinter Gittern und Mauern und muss dauernd um Gut und Leben bangen.“

      Tom kam auf seine Kollegin zu: „Warst du Kaffeepause machen? Ich warte und warte hier.“

      „Und, gibt es noch mehr auf Straße oder Bürgersteig ausgerichtete Spione?“

      „Klaro! Wenn man genauer sucht, ist hier alles verwanzt.“

      „Dann haben wir ein Problem. Wir können nicht bei allen Anliegern unauffällig die Aufzeichnungen von einem so lange zurückliegenden Zeitraum sichten wollen, das schlägt Wellen bis zum Chef. Wo hättest du deinen Wagen abgestellt, wenn du jemanden entführen willst?“

      „Nicht hier, viel zu auffällig! Vielleicht in einer der Querstraßen! Oder ein Komplize wartet im Wagen und sammelt die beiden auf, das geht ruckizucki.“

      „Lass uns mal einen Blick in die Seitenstraßen werfen, du rechts, ich links!“

      „Jawohl, Chefin!“ Aber Tom zog Clara nur auf, denn im Grunde hatte er sich an ihren Befehlston längst gewöhnt, der anderen Kollegen, wenn sie ausnahmsweise mit Clara als Partnerin arbeiten mussten, gewaltig aufstieß. Andererseits bemutterte Clara Tom auch oft, deckte ihn, wenn er wieder nicht rechtzeitig zum Dienst erschienen war, brachte ihm etwas zu essen für zwischendurch mit, da er ständig über Hunger klagte. Sie waren ein eingespieltes Team mit klaren Strukturen.

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