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Spiegel“, sagte die Frau und Lia folgte ihr in den hinteren Teil des Standes, musterte sich mit dem vorgehaltenen Kleid in dem Standspiegel und spürte, dass sie rot anlief. Würde sie so ein Kleid jemals tragen, fragte sie sich. Viel zu ... viel zu ... naja, viel zu wenig, dachte sie. Tief klaffte der Ausschnitt, den sie mit Sicherheit nicht zu füllen wissen würde, und die Länge - wenn man das so nennen konnte - ging nur bis zur Mitte der Oberschenkel. Obendrein war das Wickelkleid vorne überschlagen und geschlitzt und würde bei jedem Schritt ihre Beine freilegen. Sie schluckte.

      „Kleid geschaffen für dich“, sagte die Verkäuferin, die ihr Handwerk wirklich zu verstehen schien. Lia zögerte.

      „Wie viel?“

      „Dreißig“, kam die Antwort prompt.

      „Gut, prima. Es ist wirklich sehr schön“, sagte Lia und hielt der Frau das Kleid hin, „aber ich komme nächste Woche wieder, einverstanden?“ Sie wollte keine dreißig Euro für ein Kleid ausgeben, das sie vielleicht nie tragen würde.

      „Dann weg! Zwanzig!“

      „Ich möchte erst noch nachdenken, ich -“

      „Fünfzehn, letztes Angebot!“

      Lia ließ resigniert die Arme hängen, seufzte und gab sich geschlagen. Ach und überhaupt: War sie nicht hierher gekommen, um etwas an ihrem Leben zu verändern? Um Dinge zu tun, die sie noch nie getan hatte?

      „Also gut“, sagte sie und kramte ihr Portemonnaie hervor, gab der Frau einen Zwanziger. Diese wickelte das Kleid in eine Tüte, gab ihr einen Fünfeuroschein zurück, den Lia sofort im Etui verschwinden ließ.

      „Danke, Mademoiselle, danke“, sagte die Verkäuferin, zwinkerte Lia zu, reichte ihr die Tüte mit dem Kleid und tätschelte ihre Hand. Plötzlich hielt die Frau inne, drehte Lias Hand um und legte sie in die ihre. Behutsam strich sie über Lias Handfläche und runzelte die Stirn.

      „Du einsam; du verstecken“, sagte die Frau. Verwirrt wollte Lia ihre Hand fortziehen, doch die Frau hielt sie sanft zurück, „du fliehen. Du Angst? Angst vor -“ Die Frau stutzte und schaute sie plötzlich überrascht an. „Angst vor Leben. Du Angst vor Leben!“

      Lia fühlte sich plötzlich unwohl. Was machte diese Frau da? War sie eine Art Hellseherin? Gab es so etwas überhaupt noch?

      „Ich glaube nicht an Vorhersagen, sorry“, sagte Lia, zog hastig die Hand zurück und wandte sich zum Gehen.

      „Du nicht fortlaufen. Viel schlecht kommen, doch du nicht sollen fortlaufen. Nicht Augen und Herz schließen, du richtig hinschauen -“, rief ihr die Verkäuferin krächzend hinterher, doch Lia wollte nicht mehr hinhören. Fast in Panik drängelte sie sich durch die kompakter gewordene Menge der Marktbesucher. Nur weg! Ihr Herz raste. Die raue Stimme der Wahrsagerin hallte noch in ihr nach. So ein Unfug!

      Wo war noch das Auto? Verflucht, dachte Lia, ich bin nicht mal in der Lage die Orientierung zu behalten. Von allen Seiten wurde sie geschubst und gedrängt. Erschrocken tastete sie nach ihrem Umhänge-Täschchen und stellte erleichtert fest, dass noch alles da war: Geld, Pass, Führerschein, Schlüssel. Sie klammerte ihre Hände darum und versuchte, sich einen Weg in die Richtung zu schlagen, in der sie das Auto vermutete. Ihr brach der Schweiß aus, als sie feststellen musste, dass die Menge sie in eine andere Richtung schob. Gab es da irgendwo ein Schauspiel, dass die Menschen so drängelten? Mit einem Ruck riss sie sich los, drehte sich um und prallte an einer harten Männerbrust ab. Im hohen Bogen flog ein Becher durch die Luft; der braune dampfende Inhalt wirbelte wie eine diffuse Lache hinterher und ergoss sich auf braune Haare und ein dunkelblaues T-Shirt. Erschrocken legte Lia die Hand vor den Mund, denn vor ihr stand ihr fluchender Chef, von dessen Haaren Kaffeetropfen troffen.

      „Es tut mir furchtbar leid, ich bin so ungeschickt“, stammelte sie. Die Menschen um sie herum lachten und schienen sich über Flynn lustig zu machen. Mit der rechten Hand wischte er sich die Haare und seine Mundwinkel zuckten leicht. Schließlich musste auch er über die Witzeleien schmunzeln. Lia wollte vor Scham im Erdboden versinken. So etwas Peinliches aber auch. So ungeschickt war sie doch sonst auch nicht. Sicher, dachte sie, sonst kommst du ja kaum aus dem Haus ...

      „Ist schon gut. Kommen Sie, wir müssen zurück zum Wagen. Heute scheint mein Glückstag zu sein. Womöglich bekomme ich noch einen Knollen verpasst.“

      Seine große warme Hand packte sie am Handgelenk, und er zog sie hinter sich her, bahnte ihnen einen Weg aus dem Tumult heraus. Erst wollte sie über diese besitzergreifende Geste protestieren, doch entschied sie sich anders, denn sie wollte ihn nicht noch mehr gegen sie einnehmen. Sie spürte förmlich seine Enttäuschung und es berührte sie eigentümlich. Vielleicht hätte sie auf ihre Eltern hören und in Deutschland bleiben sollen. Welcher wilde Watz hatte sie gebissen, dass sie so dumm gewesen war, zu glauben, dass sie ein neues Leben anfangen können würde? Konnte man vor seinem eigenen Schatten fortlaufen? Jemand anderes werden, nur, weil man an einen anderen Ort, in ein fremdes Land floh? Sie dachte an die Worte der Tim-und-Struppi-Zigeunerin: „Du fliehen!“ Aber floh sie wirklich vorm Leben, oder vielmehr vor sich selbst? Ihrer eigenen Tollpatschigkeit? Ihrer Unfähigkeit, sich Freunde zu machen oder zu sich selbst zu stehen.

      Kaum hatte Lia sich’s versehen, saßen sie wieder im Auto, die Haare im Wind. Sofort fiel der Stress von ihr ab. Nach wenigen Minuten verließen sie den Ort und fuhren am Meer entlang.

      „Was hat Sie denn so aufgebracht“, fragte Flynn.

      „Oh, eine Dame spielte sich als Orakelfrau auf“, sagte Lia.

      „Und Sie glauben daran?“

      „Nein!“ Es klang empört. „Nein“, wiederholte sie ruhiger, „ich wusste nicht einmal, dass es so etwas noch gibt.“

      „Die Franzosen sind ganz wild nach Wahrsagerinnen und bereit viel Geld fürs Kartenlegen auszugeben.“ Erleichtert stellte Lia fest, dass er ihr die Ungeschicklichkeit nicht mehr übel zu nehmen schien. In Gedanken setzte sie auf ihre Liste den 4. Punkt: Franzosen glauben an Wahrsagerei!

      „Ach ja?“ Lia war wirklich erstaunt. Wie konnte man nur so abergläubisch sein und an so ein Gefasel glauben? „Es sind einstudierte Sätze, die auf jeden zutreffen“, setzte sie nüchtern hinzu. Er nickte, doch glaubte sie sein Unbehagen zu spüren. Sie stutzte. Ob auch er Wahrsagerinnen befragte?

      „Was hat sie denn gesagt?“

      Sie zögerte.

      „Du fliehen! Vor Leben“, äffte sie die Frau nach.

      Flynn lachte laut auf.

      „Auf mich trifft es nicht zu“, sagte er und zwinkerte. Gegen ihren Willen musste sie jetzt auch lachen.

      „Sicher. Aber ich meine, man braucht keine Hellseherin zu sein, um einen Menschen auf den ersten Blick einzuschätzen und ein paar gut klingende Sätze zu sagen.“

      „Na, dann versuchen Sie es doch mal mit mir“, sagte Flynn und schaute sie schelmisch aus den Augenwinkeln an. Versuchte er, etwas zu beweisen oder wollte er nur Spaß machen, fragte sich Lia. Sie wollte keine Spielverderberin sein. Zu oft hatte man ihr gesagt, dass sie sich nicht zu amüsieren wusste.

      „Also gut“, sagte sie und musterte ihn.

      „Du reich, du viele Frauen. Du aufpassen, sonst Herz brechen“, sagte sie. Flynn lachte und ein Schatten schien über sein Gesicht zu huschen. Nein, dachte sie unglücklich, bin ich schon wieder ins Fettnäpfchen getreten?

      „Ich glaube, Sie brauchen da noch ein wenig Übung“, sagte er und grinste sie schief an. Lia lächelte erleichtert.

      Sie kamen an einen Kreisverkehr und bogen nach rechts auf eine lange Straße ab, die am Litoral entlang verlief. Lia blieb der Mund offenstehen und sie zog die Sonnenbrille bis zu ihrer Nasenspitze hinunter. Auf der rechten Seite erstreckte sich ein kilometerlanger Sandstrand mit kleinen Dünen. Wild, verwegen und unberührt lag er sichelförmig in der Morgensonne, als verberge er tausend Geheimnisse und schien für Lia eine Nachricht bereitzuhalten. Ja, dachte sie, dies hier war der Grund, warum sie es gewagt hatte, aus ihren Schranken

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