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      Vorwort

      Es gibt Momente im Leben, die das Dasein eines Menschen verändern können. Momente, die – wenn man nicht aufpasst – zu schnell vergehen und einem mit dem bitteren Nachgeschmack des Bedauerns zurücklassen. Bedauern über etwas, was hätte sein können, etwas, das man sich lange erträumt, aber nie gewagt hatte, in Angriff zu nehmen. Wenn man einen solchen Augenblick verstreichen lässt, kommt er nie wieder zurück. Und manchmal liegt es nur an einer Kleinigkeit, dass man ihn verpasst ...

       Sibylle Baillon

      Prolog

       März – Hyères – Frankreich

      „Du in Gefahr“, sagte sie und schaute den jungen Mann bedeutungsschwer an. Dieser runzelte nur unwillig die Stirn und entzog ihr seine Hand, die sie sich kurz zuvor geangelt hatte, ohne ihn vorher um Erlaubnis gefragt zu haben, so wie sie es immer hielt. Seine stahlblauen Augen blickten sie prüfend an. Er wusste es, schoss es ihr durch den Kopf.

      „Ja, ja, ich bin in Gefahr und morgen fällt mir der Himmel auf den Kopf, der Weltuntergang wird kommen und uns alle in ein schwarzes, tiefes Loch aufsaugen.“ Er wusste es, aber er verleugnete es auch ...

      Sie hob stolz das Kinn an. Ihr rechter Mundwinkel schnellte in die Höhe, und sie schaute ihn teils belustigt, teils tadelnd an, wie eine Mutter ihren Sohn, der sich über die Warnungen seiner Alten lustig machte, anstatt sie ernst zu nehmen. Hatte hergemusst sie

      „Sarkasmus nicht gut sein“, sagte sie ruhig, „denn nichts ändern an Tatsachen.“

      Schnaubend stemmte er die Hände in die Hüften, warf einen kurzen Blick um sich herum und schaute sie schließlich genervt an.

      „Was für Tatsachen?“

      Er schien sich zu ärgern, weil sie ihn neugierig gemacht hatte, oder weil er wusste, dass sie recht hatte. So erging es vielen, die sie in ihr Netz lockte, und sie spürte, dass sie ihn genau da hatte, wo sie ihn haben wollte. Fast ein wenig schadenfroh zupfte sie an ihrem langen Rock herum und hob die Augenbrauen in die Höhe; es ließ ihre ohnehin schon geheimnisumwitterte Erscheinung noch mysteriöser wirken, das wusste sie.

      „Ich sehe Wasser, viel Wasser ...“

      „Ja, wir leben am Meer, das ist also normal.“ Er verschränkte die Hände vor der Brust und schüttelte missmutig den Kopf. Ein Hauch seines teuren Aftershaves wehte zu ihr hinüber.

      „Nein, das Wasser, das ich sagen, nicht normal.“

      „Sie meinen die Überschwemmungen?“ Seine Gesichtsfarbe änderte sich. „Wird es wieder eine geben?“ An seinem Hals konnte sie die Ader erkennen, die plötzlich schneller pulsierte.

      „Nein, ich meinen die alte ...“

      „Ach so“, sagte er und es klang erleichtert. Auch die Farbe kehrte allmählich wieder in sein Gesicht zurück. „Das grenzt an Betrug, wenn Sie mich vor Umständen warnen, die der Vergangenheit angehören“, sagte er und runzelte die Stirn.

      „Nein, Wasser nicht Vergangenheit. Es dich verfolgen, dich überschwemmen. Du in Gefahr.“

      Jetzt schien er zu verstehen. Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. „Du Dich in Schwierigkeiten bringen, große Schwierigkeiten, wenn Hilfe annehmen. Keine Hilfe annehmen, ja?“

      „Hmm“, sagte er, „ich wüsste nicht, von wem ich diese zu erwarten hätte. Aber trotzdem vielen Dank für die Warnung. Versprochen, ich werde sie mir zu Herzen nehmen und sie nicht vergessen. Hier -“, sagte der junge Mann und drückte ihr einen Zehn-Euro-Schein in die Hand. Er meinte nicht wirklich, was er sagte, aber das war sie gewohnt. Manchmal kamen die Menschen erst Jahre später wieder zu ihr, um ihr zu sagen, dass sie mit ihren Vorhersagen richtig gelegen hatte. Auch er würde zurückkommen ...

      „Jetzt muss ich aber los, denn wenn ich hier noch länger herumlungere, wird Ihre Vorhersage noch wahr, nur weil ich Wahrsagungen lausche, anstatt zu arbeiten.“

      Er grinste und sie lächelte ihn nachsichtig an. Doch hinter der Fassade des selbstsicheren, jovialen Burschen erkannte sie die Wahrheit. Durch seine blauen Augen konnte sie in seine Seele schauen. Er war einsam. So einsam wie nur jemand sein konnte, der unter Bergen von Problemen versank, sie aber mit niemandem teilen konnte oder wollte. Einsam wie es nur ein Geschäftsmann sein konnte, der davon überzeugt war, dass sowieso niemand seine Sorgen verstehen könne, was auch oft stimmte, denn von außen kann niemand wissen, wie es ist, Verantwortung zu tragen. Aber auch einsam wie jemand, der sich ein privates Vergnügen untersagte, aus Angst, es könne seine Konzentration beeinträchtigen und die klaren Gedanken vernebeln, die er so nötig brauchte.

      „Danke, Junge“, sagte sie, „du gut. Auf dich aufpassen.“

      Er nickte und eilte davon.

      Seufzend schaute sie ihm hinterher. Hübscher Mann, dachte sie. Leider trug er eine schwere Last auf den Schultern, unsichtbares Gepäck, das Tonnen wiegen musste, und sie wollte um nichts in der Welt mit ihm tauschen. Aber sie hatte noch etwas anderes gesehen, etwas, was sie ihm absichtlich vorenthalten hatte. Auch ohne ihre Vorhersage würde es ihn noch früh genug von seinen geschäftlichen Anliegen ablenken ...

      Zufrieden steckte sie den Schein in das Ledersäckchen, das sie unter dem Rock versteckt trug und rieb sich die Hände. Sie liebte ihre Visionen, aber noch mehr liebte sie den Gedanken, Menschen mit ihrer Gabe zu retten ...

      *

      Kapitel 1 – April - Bienvenue

      Träume sind dazu da, uns in eine hoffnungsvolle Erwartungshaltung zu versetzen, uns den Alltag zu versüßen und uns glauben zu lassen, dass alles besser werden kann. Es gibt viele Arten von Träumen.

      Träume, die einem im Schlaf einholen, unsere Nächte bevölkern und am nächsten Morgen oft ein sonderbares Gefühl hinterlassen. Manche von diesen Träumen sind sehr irreal und andere - im Gegenteil - scheinen so wirklich wie das Leben selbst. Die Erinnerungen an diese Träume hallen manchmal noch den ganzen Tag über nach, wie die Klänge eines riesigen Gongs, deren Schwingungen in der Unendlichkeit zu zerfließen scheinen, und können wohlige oder auch traurige Gedanken in uns auslösen. Weiter gibt es Tagträume, denen wir mit offenen Augen nachhängen, oft ohne es zu bemerken. Auch die verschönen unser Dasein, geben uns Freude, Kraft und Hoffnung, erlauben uns, kreativ zu werden.

      Aber der realistischste aller Träume ist der, den man wie ein Projekt in seinem Herzen trägt, manchmal über Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg. Wir hegen und pflegen ihn, wie ein kostbares Juwel, das wir uns für eine große Gelegenheit aufbewahren, auch, wenn wir nicht wirklich wissen, ob diese jemals kommen wird. Es kommt aber auch vor, dass uns das Leben diesen Traum vergessen lässt, dass er in die Ferne rückt, wie ein Boot, das man verpasst hat und gen Horizont davongesegelt ist. Wir wenden uns von ihm ab, wahrscheinlich, weil es zu schmerzhaft ist, sich den Verlust vor Augen zu führen, und wir glauben ihn tot, begraben, bis ...

      Ja, bis eines Tages ein winziges Zeichen einem zeigt, dass ein solcher Traum nie wirklich stirbt, sondern nur vor sich hinschlummert, gleich einem alten, trägen Murmeltier im Winterschlaf, das, durch ein Signal plötzlich hellwach wird, die Steifheit abschüttelt und munter durch die Gegend läuft.

      Dann stehen wir da, das Herz in Flammen, den Kopf voller Fragen. Und doch scheint alles so grell und klar wie nie. Jäh geht es ums Überleben, um das eigene Überleben, um das Überleben des Traumes und um die Unglaublichkeit der plötzlichen Einsicht. Wenn man sich so lange heimlich gefragt hat, ob das jetzt alles gewesen sein soll, ob das Leben wirklich nur das zu bieten hat, was man zur Zeit gerade tagein, tagaus lebt, dann weiß man, dass der Moment gekommen ist, der Moment des „Jetzt-oder-nie“. Der Moment, an dem man sicher weiß, dass es keine neue „zweite Chance“ danach mehr geben wird. Warum man das weiß? Das ist und bleibt ein Rätsel, aber wer diesen Moment schon einmal durchlebt hat, der weiß genau, worum es geht.

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