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sagte er schlicht, als würde alleine diese Aussage die Lautstärke des Motors erklären. Sofort kam aus den Lautsprechern der Wagentüren eine angenehme Reggae-Musik, die Lia nicht kannte.

      Flynn fuhr vorsichtig an und konzentrierte sich auf die belebten Straßen Toulons. Es hupte und schimpfte aus allen Richtungen, als sie die große Avenue am Hafen entlangfuhren. Frauen in blumigen Kleidern und Männern in Shorts und T-Shirt tummelten sich auf den Bürgersteigen, schienen zur Arbeit zu gehen. Taten sie das wirklich? Erstaunt registrierte Lia, dass die Menschen nicht gehetzt wirkten, wie in Frankfurt, wenn sie um 8 Uhr morgens über die Zeil liefen.

      Bald schon kamen sie aus der Innenstadt mit den hohen Gebäuden heraus und bogen nach rechts ab, in ein pittoreskes Stadtviertel. Große viktorianische Gebäude säumten mit altmodischer Eleganz beide Seiten der Avenue und auf den Bürgersteigen ragten haushohe Dattelpalmen in die Höhe. Dattelpalmen! Wow! Lia versuchte, sich die Überraschung nicht anmerken zu lassen und schielte flüchtig zu Flynn, der sich weiterhin auf das Fahren zu konzentrieren schien. Nur seine Finger tippten im Rhythmus der Musik aufs Lenkrad. Er sprach kein Wort, was Lia sehr gelegen kam, denn endlich entspannte sie sich und ließ alle Eindrücke auf sich wirken.

      Über ihnen strahlte der Himmel so blau, dass Lia zum ersten Mal in ihrem Leben den Begriff „Azur“ zu verstehen glaubte. Ihre Sonnenbrille lag in ihrem Koffer, denn aus irgendeinem blödsinnigen Grund war sie davon ausgegangen, sie nicht sofort zu benötigen. Also kniff sie vor dem gleißenden Sonnenschein die Augen zusammen, wenn sie mal nicht gerade unter dem schattigen Schutz einer Palme an einer Ampel standen. Als Flynn sich über ihre Knie hinweg zum Handschuhfach vorbeugte, stieg der angenehme Duft seines Rasierwassers zu ihr auf.

      „Sorry“, sagte er und reichte ihr eine Sonnenbrille, die Lia dankbar lächelnd annahm. Gleich nahm sie sich vor, eine Falsch/Richtig-Liste von Klischees über Franzosen zu führen.

      Punkt Nummer 1: Die Straßen waren eher schmutzig - Richtig! Punkt Nummer 2: Die Menschen waren undiszipliniert - Richtig! Punkt Nummer 3: Die Männer waren einer Frau gegenüber galant und aufmerksam - Richtig! Sie grinste zufrieden in sich hinein. Ob der Rest, den man sich über sie erzählte, wohl auch stimmte? Sie räusperte sich verlegen, doch ein erwartungsvolles Kribbeln stieg in ihr auf, wie eine Verheißung, die ihre Ansage körperlich ausdrücken wollte.

      Als sie an einem kleinen Hafen an der Küste angelangten, nahm ihr der Anblick schier den Atem. Vor ihnen lag das tiefblaue Meer, das Mittelmeer! Sie schnappte nach Luft. Viele Fotos hatte sie schon gesehen und auch im Urlaub mit ihren Eltern waren sie schon ans Meer gefahren. Doch dieser Anblick übertraf ihre Vorstellungen bei Weitem. Glatt und schillernd lag die Méditerranée im Morgenlicht. Einladend, unvorstellbar schön und elegant. Kein Foto, kein Bild konnte ausdrücken, was Lia gerade empfand. Zum Weinen schön! Sie schluckte, und in diesem Moment wusste sie mit Sicherheit, dass sie ihre Entscheidung, was immer für Konsequenzen sie mit sich bringen würde, nicht bereuen würde.

      Kleine Boote lagen leicht wogend auf dem flachen glitzernden Wasser, und die Masten klimperten im Wind, auf denen Möwen saßen und sich ihr Gefieder putzten, während die Skipper die Boote startklar machten. Andere hingegen saßen gemütlich auf dem Deck und frühstückten.

      „Das ist le Mourillon“, erklärte Flynn, „einer der beliebtesten Stadtteile Toulons.“

      Sie fuhren den Hang der Bucht hoch, vorbei an kleinen Geschäften, die gerade erst zu öffnen schienen und Strandbedarf und Postkarten anboten. Dann ließen sie den wunderschönen Anblick des in der Morgensonne glitzernden Meeres hinter sich und fuhren an Luxusvillen und kleinen Dörfern vorbei, auf einer Straße, die sich am Litoral entlang schlängelte. Sie gewannen an Tempo und der Fahrtwind fuhr durch ihr Haar, das noch immer fest in einem Dutt zusammengehalten war. Vereinzelte Strähnen lösten sich und kitzelten ihre Wangen. Es roch blumig und fruchtig nach Frühling. Kristalline Hänge und Täler waren mit Kiefern bewachsen, hier und da standen Zypressen und Agaven, und der Boden war mit Pflanzen übersät, die wie kuschelige Teppiche wirkten und deren vielzählige Blüten im Morgenlicht wie weiße und lila Diamanten schimmerten. Andere Sträucher blühten im grellen Gelb.

      Ich bin an der Côte d’Azur, dachte Lia. Für einen kurzen Augenblick vergaß sie ihre Hemmungen, legte den Kopf zurück, schloss die Augen und genoss den Gedanken, dass sie es tatsächlich geschafft hatte. Sie war im Land ihrer Träume. Bislang wurden ihre Erwartungen keinesfalls enttäuscht. Im Gegenteil! Saß sie nicht gerade in einem Traumauto neben einem, wie sie zugeben musste, sehr gut aussehenden Mann? Als sie die Augen wieder öffnete, wagte sie einen Blick zu Flynn, der sich weiterhin auf die kurvige Straße konzentrierte und ihr nur ein flüchtiges Lächeln zuwarf.

      Ja, jetzt würde sie fünf Monate an der berühmten Côte d’Azur verbringen, noch dazu mit einem so gutaussehenden und coolen Chef. Alles schien schön in diesem Land. Die Sonne, die Palmen, die Wärme, das Meer, der Himmel, die kleinen verträumten Häuser mit ihren in Lila-, Gelb- und Rottönen blühenden Hecken ...

      Heftiges Herzklopfen überkam sie und ihre innere Aufregung stieg an.

      Als sie erneut einen Ort, der sich Carqueranne nannte, durchfuhren, hielt Flynn den Wagen nahe bei einem Markt an und stellte ihn mitten auf der Straße ab.

      „Kommen Sie, Lia, ich muss noch etwas besorgen“, sagte er und stieg aus. Etwas überrumpelt löste Lia ihren Sicherheitsgurt und erhob sich ebenfalls aus dem Sitz.

      „Wollen Sie den Wagen einfach hier stehen lassen?“

      „Oh, das? Das machen hier alle so. Aber Sie können auch auf mich warten, wenn Ihnen das lieber ist. Ich brauche nicht lange.“

      „Und das Gepäck?“

      „Das ist sicher im Kofferraum eingeschlossen“, sagte er und rüttelte wie zur Bestätigung an der Haube.

      Schon war Flynn im Gewühl der Menschen verschwunden. Lia seufzte und blickte sich um. Tatsächlich war es nicht das einzige Auto, das so unglücklich in der Doppelreihe geparkt war. Kein Mensch schien sich daran zu stören.

      Sie überlegte, schaute sich weiter um. Auf dem Markt herrschte ein buntes Treiben. Neben Blumen, Gemüse und Spezialitäten wurden auch Teppiche, Hüte und Schuhe angeboten. Marktschreier priesen ihre Waren an, doch Lia verstand kein Wort. Plötzlich fiel ihr Augenmerk auf einen Marktstand, an dem Sommerklamotten angeboten wurden. Schnurstracks schritt sie auf die Bude zu. Ein schwarzes Wickelkleid mit weißen großen Blumenmustern, das mit anderen Kleidern an einer Stange am riesigen Überschirm hing, fiel ihr besonders ins Auge. Eine Dame Mitte Fünfzig, die ein rotgemustertes Tuch um den Kopf gebunden trug, näherte sich Lia.

      „Très belle robe pour très belle femme“, sagte die Frau, nickte ihr zu, holte das Kleid sofort mithilfe einer Stange und einer geschickt eingeübten Geste herunter und reichte es Lia. Selbst trug die Verkäuferin ein langes buntes Kleid aus Seide oder Satin, dessen vorwiegend rote Muster gut zu dem Kopftuch passten. Ihre langen schwarzen Haare waren mit grauen Strähnen durchzogen und ihre schwarz umrandeten Augen funkelten Lia fröhlich an. Die Frau erinnerte sie an eine Zigeunerin aus den Comics „Tim und Struppi“, Geschichten, die Lia als Kind gerne gelesen hatte.

      „Oh, merci“, sagte Lia, auch wenn sie nicht wirklich ganz verstanden hatte, was die Frau von ihr wollte. „Belle femme“, das hieß wohl „schöne Frau“, soviel wusste sie noch. Ob die Verkäuferin sie damit gemeint hatte? War die Frau blind?

      „Vous ne parlez pas français?“

      Lia schüttelte den Kopf, wollte etwas sagen, doch die Frau kam ihr zuvor.

      „Espagnol? Spanish?“

      „Non,...äh ... allemand!“

      „Ahhh“, sagte die Frau, „Deutsch.“

      Lia nickte.

      „Schöne Kleid für schönes Frau“, sagte die Verkäuferin im schlechten Deutsch und mit einem harten Akzent, der nicht dem französischen ähnelte.

      „Oh, Sie sprechen Deutsch?“

      „Ein bichsen, ein bichsen.“

      Lia schmunzelte.

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