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fehlt es hier wohl nicht“, sagte sie und schaute zum strahlend blauen Himmel.

      „Täusche dich da mal nicht, Lia, hier schlummern viel Unglück. Braucht neue Ideen. Du gerade richtig kommen.“

      Hielten sich hier alle für so etwas wie Hellseher, fragte Lia sich verdutzt.

      „Wie meinen Sie das?“

      „Wirst sehen“, sagte die Frau und wandte sich ab, als hätte sie schon zu viel gesagt, „wenn Kummer mit Pest, du zu mir kommen. Nicht einsam sein, ja?“

      Lia nickte und Pesha lächelte zufrieden.

      „Danke Pesha, bis bald“, sagte Lia und machte sich auf den Weg zum Wohngebäude. In ihrem Nacken meinte sie den kribbelnden Blick Peshas zu spüren.

      Als sie in ihrem Zimmer angekommen war, bemerkte sie mit Freude, dass Joe nicht anwesend war. Gut! Die Hitze staute sich in dem kleinen Raum, und als erstes öffnete sie weit das Fenster und die Eingangstür, um einen Durchzug zu erzeugen. Sofort blies ihr die leichte Brise Erfrischung zu und Lia nahm all ihren Mut zusammen, zog sich ihre kurzen Leggins an, die sie normalerweise nur während ihres Gymnastikkurses trug, und machte sich als erstes daran, das Badezimmer zu säubern. Anschließend widmete sie sich Joes immensem Kleiderhaufen, der in der Mitte des Zimmers den Durchgang versperrte. Sie fand einen Plastiksack und stopfte alles hinein. Ein Bild fiel hinunter. Lia bückte sich, um es aufzuheben und auf Joes Nachtisch zu legen, da stutze sie. Sie erkannte Flynn, der Joe umarmte. Ein Stich der Eifersucht durchfuhr Lia. Vielleicht war Joe deshalb so böse? Vielleicht hatte ihr Tess den Freund ausgespannt? Also war Flynn wirklich das, wofür sie ihn sofort gehalten hatte: Ein Herzensbrecher! Einer, der sich nicht um die Gefühle der anderen kümmerte. Unverständlicherweise wurde es ihr schwer ums Herz und sie legte das Foto auf den Nachttisch. Eigentlich sollte es ihr doch egal sein. Flynn interessierte sie nicht und damit Basta!

      Sie kehrte gründlich das Zimmer aus, auf dessen Boden sich Unmengen von Sandkörnern und Schmutz angesammelt hatten. Dann staubte sie die Möbel ab und putzte das Fenster. Zufrieden begutachtete sie das Ergebnis und nahm sich das Badezimmer vor und schließlich putzte sie gründlich den Boden. Da das Zimmer sehr klein war, kam Lia geschwind voran und fühlte sich gleich besser, als sie die Putzutensilien vor der Eingangstür abstellte, um sie Pesha zurückzubringen.

      Zuversichtlich kleidete sie sich aus und gönnte sich eine Dusche. Jetzt sollte ihr neues Leben beginnen. Doch sofort stellte sich eine Frage, die sie seit ihrer Ankunft am Morgen schon quälte: Was sollte sie anziehen? Noch immer kam es nicht infrage, das Kleid, das sie auf dem Markt gekauft hatte, zu tragen. Es war zu... provozierend! Lia entschied sich für eine dunkelblaue Shorts und ein weißes Polohemd. Mit einem letzten prüfenden Blick auf die neu errungene Ordnung setzte sich Lia den Strohhut auf - den ihre Mutter ihr mit Warnungen vor Hitzeschlag und Sonnenstich am Vorabend kurz vor der Abreise noch untergejubelt hatte - und verließ das Zimmer. Erst als sie im Erdgeschoss angelangt war, dachte sie an die Putzsachen, die sie vor der Tür vergessen hatte. Mach ich später, dachte sie und verfolgte weiter ihr Ziel.

      Eigentlich hatte sie sofort einkaufen gehen wollen, doch es gab vorher noch etwas, das sie erledigen wollte. Schnurstracks lief Lia über die schmalen Steinalleen der Anlage, zwischen Mobilheimen und Bungalows hindurch, in Richtung Strand. Die Mittagssonne brannte auf der Haut, und je näher sie dem Meer kam, desto stärker roch die Luft nach Algen und Seetang. Ein wohliges Kribbeln durchfuhr sie bei dem Gedanken, in wenigen Augenblicken am Meer zu stehen. Kaum mehr hatte sie Augen für die Anlage, die sie umgab, den riesigen Pool für die Besucher, den Kinderhort oder die Tennisanlage. Und dann war es endlich soweit und sie stand am Strand, der leer und einsam in der Mittagssonne lag. Er schien weniger verwildert, als der Strand, an dem sie am Vormittag mit Flynn vorbeigefahren war, war schmaler und sah auch insgesamt gepflegter aus. Soweit das Auge reichte, wurde er abwechselnd von Strandrestaurants und zweistöckigen Wohnanlagen mit Studios oder Surfschulen gesäumt.

      Auch das Riviera-Beach-Camping hatte seine eigene Surfschule, stellte Lia fest. Einer der Angestellten der Schule war gerade dabei, Segel auf dem Sand auszubreiten. Ob er jetzt schon Schüler hatte? Vielleicht Einheimische, mutmaßte Lia, zog ihre Ballerinen aus und machte ein paar Schritte über den Sand. Entzückt schloss sie die Augen. So weich, so warm, so unbeschreiblich sensuell!

      Sie hätte vor Glück jauchzen wollen. Sie war in Frankreich, am Strand! 1200 Kilometer trennten sie von ihrer Heimat. Dieser Gedanke war ebenso berauschend wie beängstigend. Nur wenige Schritte und ihre Füße berührten das Wasser, dass herrliche Nass, das ihre Fesseln umspielte. Mit einer Hand hielt Lia ihren Strohhut fest, an dem eine Böe zerrte und ihn davonzuwehen drohte.

      „Hi“, sagte der Mann, als Lia näher kam, „ich bin Marc, der Surflehrer. Du bist sicher die Neue?“ Sanfte braune Augen sahen ihr freundlich entgegen. Endlich einmal ein Mann, der nicht so ungehörig viel Testosteron ausstrahlte, obwohl auch er ungemein gut gebaut und braun gebrannt war, ein schönes, ebenmäßiges Gesicht hatte und schulterlanges, blond gelocktes Haar. Doch in seinem Ausdruck las Lia nichts weiter als Liebenswürdigkeit. Kein Angebergehabe, keine Prahlerei und keinen Zwang, unbedingt gefallen zu wollen. Nur Aufmerksamkeit.

      Lia nickte und lächelte ebenso freundlich zurück und nickte. „Ja, die Neue“, wiederholte sie.

      Er lachte. „Ja, du hast Recht, das klingt sehr vage. Neue Angestellte gibt es viele. Ich meine die Neue, der man den furchtbaren Streich gespielt hat, über den jetzt alle lachen. Ich meine... mit dem Stall und so ...“

      Lia spürte, dass sie rot anlief, fühlte sich von seiner Offenheit überrumpelt. In Marcs Augen konnte sie jedoch nur ehrliche Betroffenheit spüren. Aber das ärgerte sie auch. Sie hatte sich nicht wie ein Opfer gefühlt und wollte in den Augen der Anderen auch nicht als ein solches gelten.

      „Ich sehe, dass Neuigkeiten hier schnell herumkommen“, versuchte sie zu witzeln.

      „Oh, ja. Du musst wissen, dass Riviera-Beach so etwas wie ein kleines Dorf ist, in dem eine große Familie lebt. Jeder weiß alles über jeden, nichts bleibt verborgen. Wir sind alle betroffen von dem, was man dir angetan hat. Das war unfair.“

      „Oh, nein. Das darf man nicht dramatisieren“, sagte Lia hastig. War sie vielleicht zu naiv, weil sie die Angelegenheit nicht ernst nahm, „es war ein Missverständnis und zum Teil auch meine Schuld.“ Sie lächelte.

      „Ach so“, sagte Marc und nickte, „dann ist ja gut.“

      „Sag, Marc“, wechselte Lia das Thema, „hast du eine Ahnung, in welche Richtung ich laufen muss, wenn ich ein paar Besorgungen machen möchte?“

      „Klar. Gehe einfach weiter am Strand entlang in Richtung Hafen. Nach einem Kilometer wirst du auf einen Ort Namens La Capte treffen. Dort gibt es alles. Ansonsten kannst du auch an den Hafen gehen, dort gibt es viele Geschäfte und auch einen Supermarkt.“

      „Danke, Marc“, sagte Lia und wandte sich zum Gehen, „einen schönen Tag dir, bis später.“

      „Bis später“, sagte der Surflehrer und zurrte ein Segel fest, „und Lia?“

      „Hm?“ Sie drehte den Kopf, um ihn anzublicken.

      „Wenn du mal mit jemandem reden willst, dann bin ich da, okay?“

      Dankbar nickte sie ihm zu und Marc lächelte wissend zurück. Es fühlte sich gut an zu wissen, dass es hier auch Menschen gab, mit denen man ein Gespräch führen konnte, ohne dass es vor mutwilligen und verrücktspielenden Hormonen nur so knisterte. Bei diesem Gedanken musste sie unwillkürlich grinsen.

      Sie folgte dem Strand in Richtung Hafen, so wie Marc es ihr erklärt hatte und so wie es auf dem Plan eingezeichnet war. Und richtig, sie brauchte nicht lange zu laufen, da kam sie an den Strand von La Capte, von dem aus eine breite Allee mit vielen Läden und Restaurants bis hoch zur zum Strand parallel verlaufenden Hauptstraße führte. Schiefe Pinien, deren Wurzeln den Straßenbelag gesprengt hatten, entwuchsen direkt dem Asphalt. An anderen Stellen waren meterhohe Palmen in quadratische Erdkästen gepflanzt worden, die dem Dorf einen sehr exotischen Touch gaben.

      Es gab zwei Bäckereien, Modegeschäfte, ein

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