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Um das kleine Dorf herum und zwischendrin drängelten sich kleine verträumte Sommerresidenzen mit schiefen Klappläden, altmodischem Blumengehänge und zum Teil verrosteten Toren. Alle waren sie mit den gleichen weißen, niedrigen Gattern umgeben, die an amerikanische Farmen aus Western denken ließen.

      Lia nahm die vielen Eindrücke in sich auf, wie ein Schwamm Wasser aufsaugte: gierig, unaufhörlich und nimmersatt. Wogende bunte Tücher, lachende Kinder, im Singsang der französischen Sprache plappernde Menschen, ineinander verschmolzene Gerüche nach Strand, Crêpes, Pinien, Sonnenöl, gerösteten Meeresfrüchten und frisch gemahlenem Kaffee spielten mit Lias Sinnen. Sie fühlte Glück in sich aufwallen. In diesem Moment spürte sie die Anspannung von sich abfallen. Spürte, dass ihre Entscheidung nach Frankreich zu kommen doch richtig gewesen war. Es war auch in diesem Augenblick, dass sie sich entschied, etwas aus dieser einmaligen Gelegenheit zu machen, die Chance zu nutzen. Sie wollte sich öffnen, eine Yes-Woman werden, anstatt die artige Streberin zu bleiben. Sie wollte Dinge wagen, von denen sie als Jugendliche nur mit offenen Augen geträumt hatte, es aber nie geschafft hatte, über ihren eigenen Schatten zu springen. Ja, sie wollte springen, hoch und weit! Nur das wie war ihr noch nicht ganz klar. Sie fühlte sich wie jemand, der sich plötzlich dazu entschließt, Gitarre zu spielen, aber noch nicht weiß, ob er Unterricht nehmen oder im Internet lernen sollte, welchen Musikstil er spielen will und ob er auf einer akustischen oder elektrischen Gitarre lernen möchte. Alles, was sie sicher wusste, war, dass sie spielen wollte ...

      Doch alles brauchte seine Zeit. Also begnügte sie sich erst einmal damit, das Nötigste zu kaufen. In einem Strandwarengeschäft, das am Ende der Allee mitten an der Hauptstraße lag, kaufte sie Sonnencreme mit hohem Lichtschutzfaktor, ein langes, sehr einfach geschnittenes, weißes, ärmelloses Baumwollkleid, passende weiße Badeschlappen und einen neuen breiten Strohhut mit weißem Band, der ihr wesentlich besser gefiel, als der alte, den ihre Mutter ihr einpackt hatte. Für einen Tag waren das schon mehr Veränderungen, als sie es in den letzten zehn Jahren zugelassen hatte. Sie nickte zufrieden, trat den Heimweg an und kaufte sich einen Schokoladencrêpe. Frohen Mutes und ihren köstlichen Crêpe kauend, schlenderte sie die Allee zurück, an den Modegeschäften vorbei und wagte einen verträumten Blick in das Restaurant „Bistro La Capte“, das die Gäste zum größten Teil bereits verlassen hatten. Das flache, rostfarbene Gebäude schien neu. Weißer Kiesel lag wie ein einladender Teppich um die Anlage herum, auch dort, wo keine Tische standen, und bildeten eine weite, weiße Fläche. Etwas zu weit, zu leer, dachte sie und schaute verträumt ins Innere des Restaurants, in dem eine gemütliche Atmosphäre zu herrschen schien. Wer weiß, vielleicht würde auch sie einmal jemand in dieses schicke Restaurant ausführen?

      Plötzlich stutzte sie. Eine dunkle Haarpracht, die ihr bekannt vorkam und halblang über braune Schultern fiel, wurde energisch hin und her geschüttelt. Ein Streit schien in der Luft zu liegen. Beim genaueren Hinsehen erkannte sie Joe, die an der Theke stand und sich gestikulierend mit einem Mann unterhielt. Lia fühlte Misstrauen in sich aufsteigen, denn Joes Gesprächspartner sah nicht sehr vertrauenseinflößend aus. Er trug eine ausgefranste, ärmellose Lederweste, seine Arme waren bis zum Hals mit Tätowierungen übersät und sein tief gefurchtes Gesicht wurde von großen Narben durchzogen. Lia wollte sich abwenden, denn eigentlich war ihr Joe gleichgültig und sie wollte sich nicht die schöne Stimmung verderben lassen, weil sie sich in Dinge einmischte, die sie nichts angingen. Doch der Mann hielt Joe plötzlich am Handgelenk fest, schien kräftig zuzudrücken, denn Joe greinte.

      „Arrêtes, Diego“, zischte sie.

      „T’as plutôt intérêt à faire ce que je te dit, c’est clair?“, sagte er und fixierte Joes Augen eindringlich. Seine schlechten Absichten standen ihm ins Gesicht geschrieben. Als Joe nickte, ließ er ihren Arm abrupt und mit einer brutalen Geste los, fast als wollte er ihn fortwerfen. Joe rieb sich leise fluchend das Handgelenk, das trotz ihrer tiefen Bräune rötlich schimmerte. Jäh blickte der Narbige zu Lia, die zusammenzuckte. Ihr war im Nu klar, dass sie sich im falschen Moment am falschen Ort befand.

      „Oui?“, fragte er mit öligem Grinsen.

      „Oh, nichts, äh, rien“, sagte Lia hastig. Joe fuhr herum. Lia hätte nicht sagen können, was in diesem Moment in Joes Blick überwog: Überraschung, Hass oder Angst. Es schien von allem etwas zu sein.

      „Tu la connais?“

      Lia verstand, dass er wissen wollte, ob Joe sie kannte.

      „Non“, sagte Joe, zog eine abfällige Grimasse und wandte sich dem Mann wieder zu, sagte etwas, das Lia nicht verstehen konnte. Der Mann lachte laut auf, musterte Lia höhnisch und nickte. Er schien zufrieden.

      Diesen Augenblick nutzend wandte Lia sich ab und ging in Richtung Strand, in der Hoffnung, dass die beiden ihr nicht weiter Beachtung schenken würden. Erst als ihre Ballerinen wieder im Sand einsackten, hielt sie inne und schaute sich um. Erleichtert atmete sie auf; keiner war ihr gefolgt. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie plötzlich so eine Angst befallen hatte. Irgendetwas an der Situation hatte sie gestört. Seine Stimme? Der Tonfall? Joes Angst? Das Mädchen schien Probleme zu haben und Lia versuchte, sich an den Satz zu erinnern. „... de faire ce que je te dit“, wiederholte sie die Wortfetzen, die hängengeblieben waren. Du sollst machen, was ich dir sage, musste es ungefähr heißen. Instinktiv spürte Lia, dass Joe in Gefahr war, schob den Gedanken aber wieder fort. Es war nicht ihr Problem, sondern Joes. Auf keinen Fall wollte Lia das erhebende Gefühl verlieren, in dem sie kurz zuvor noch geschwelgt hatte. Einmal tief ein- und ausatmend schob sie die Gedanken an ihre Mitbewohnerin fort und schlenderte sorglos den Strand zurück. Die Sonne, die mittlerweile den Zenit überschritten hatte, brannte ihr auf dem Rücken. Jetzt würde sie aufs Zimmer gehen, sich ihren Badeanzug anziehen und ihr erstes Bad im Meer nehmen.

      *

      Kapitel 8 – Mai – Flynn - Hoffnung

      Manchmal entwickelten sich Träume zu Hoffnung. Diese kann vielerlei Gesichter und Interpretation haben. Für Zeus, den griechischen Gott der Antike, gehörte die Hoffnung zu einer der Plagen, die er in der Büchse der Pandora versteckte, um die Menschheit damit zu quälen. Da gibt es die leere, unrealistische Hoffnung, der man lebenslang hinterherläuft, obwohl man doch weiß, wie unsinnig es ist. Es gibt die enttäuschte Hoffnung oder gar das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, die zu Dramen führen können oder die vorgegaukelte Hoffnung auf etwas, das es vielleicht gar nicht gibt. Dann wäre da noch die Hoffnung auf einen Glücksfall, der genauso abwegig und fern der eigenen Möglichkeiten scheint, wie die Hoffnung selbst.

      Zum Glück gibt es aber auch die berechtigte Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben, die sich aus einer extremen Not, einer aussichtslosen Lage oder einem tiefen Wunsch nach Änderung herauskristallisiert, zwar ebenfalls völlig unsinnig erscheint, den Menschen aber zu einem problemlösenden und zielorientierten Handeln verleitet. Helfe dir selbst, dann hilft dir Gott, lautet meist das Motto dieser Erwartungshaltung. Diese Hoffnung auf sein eigenes Können wollte Flynn nicht verlieren, war es doch noch das einzige, was ihn aufrechterhielt.

      Wie ein Schlafwandler irrte er durch die Tage, von einem dicken Nebel umgeben, der ihn von Freude und Lust am Leben fernhielt, wie eine hermetische Schutzkleidung das Regenwasser. Er wusste, dass es eine Lösung gab und er wusste auch, dass er sie in sich trug. Aber er kam einfach nicht drauf. Wurde er verrückt? Machte er sich etwas vor? Wollte er der Wahrheit nicht ins Gesicht blicken? Und doch ... Es war wie ein Schlüssel, den man suchte, genau wusste, dass er da war, sich aber nicht erinnerte, wo man ihn abgelegt hatte. Was hatte er übersehen? Ja, was?

      Vor lauter Grübeln schlief er nur noch ein paar Stunden pro Nacht und sah vor lauter Wald die Bäume nicht mehr. Tausende Gedanken und mögliche Lösungen schwirrten in seinem Kopf umher, wie Fische in einem kleinen, runden Aquarium, doch den erhofften Ausweg schien keine in sich zu bergen.

      Des Nachts, wenn er stundenlang wach lag und ins Leere starrte, wollte ihn immer öfter die Verzweiflung packen. Mit allen Mitteln stemmte er sich dagegen, doch sie bahnte sich Schritt für Schritt einen Weg in sein Herz und schien es mit dem schwarzen Dunst der Mutlosigkeit umhüllen zu wollen. Mit dem Morgen, wenn die nächtliche Düsternis dem Tageslicht wich, schien Flynn ein fast

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