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den Baum herum aufzugraben und ihn zu düngen. Vielleicht, dachte er, trägt er ja doch noch Früchte. Und Jeschua spürte die Gedanken des Winzers. „Ich sehe, Du hast einen Entschluss gefasst. Die Gottheit ist auch geduldig mit den Gebrechlichen.“ „Friede sei mit Dir, Schriftgelehrter“, sagte der Mann und beglückt ging er nach Hause. Tief in seinem Herzen und in seiner Seele, dort, wo noch keine Farben waren, bemerkte Jeschua mit den vergehenden Jahreszeiten eine Veränderung. Am Tag, da ihn Schriftauslegungen, Gespräche mit Ratsuchenden und Bauarbeiten bei seinem Onkel einnahmen, nahm er sie nicht bewusst wahr. Wenn er sich nach dem Abendessen zum Schlafen hinlegte, dagegen schon, obwohl er sie noch nicht hätte beschreiben können. Und die Müdigkeit verdrängte sie.

      Morgens, auf dem Weg von den Häusern seiner Mutter und seines Patenonkels zu den Weisen atmete er die kühle Luft. Im Frühling erfreute er sich am frischen Grün der Pflanzen und an den schwungvollen Gesten der Bauern bei der Aussaat, im Sommer am hellen Gold der Getreidefelder. Im Spätsommer blieb er manchmal stehen und er beobachtete die Bauern bei der Erntearbeit. Manche Bauern machten keine Nachlese, sodass die ärmeren Menschen noch etwas finden konnten. Im Winter trug er einen festen Mantel, der ihn wärmte. Wenn er sich dem Dorfplatz näherte, dort, wo auch der Markt stattfand, sah er die Armen, die von den reicheren Passanten milde Gaben erbettelten und sein Herz weinte mit ihnen, so wie mit den Kranken, denn die reicheren Menschen drängten die Armen zur Seite. Und Jeschua teilte mit den Armen, was er teilen konnte, so wie wenige andere Menschen auch. Stand nicht geschrieben: Denn ich kenne eure Freveltaten, die so viel sind, und eure Sünden, die so groß sind, wie ihr die Gerechten bedrängt und Bestechungsgeld nehmt und die Armen im Tor unterdrückt. (Amos 5, 10-15) Hatte das Volk Israel nicht in Ägypten und auf der Wüstenwanderung große Armut erlitten? Hatte die Gottheit seinem Volk nicht das Land als reiches Land geschenkt, in dem es keine Armut geben müsse? Waren es nicht die gleichen Menschen, die die Armen bedrängten und die am Sabbat im Gebetshaus gelobten die Armen gerecht zu behandeln? Wenn er bei den Weisen angekommen war oder wenn er seinem Patenonkel zur Hand ging zerstreuten sich seine Eindrücke und Fragen in ihm, und manchmal fragte er sich: Wer bin ich schon, dies zu beklagen? Doch Bruchstücke davon verblieben in ihm, dort, wo noch keine Farben waren.

      Was die Weisen ihm vermittelten nahm er in sich auf. Am meisten aber interessierten ihn die Menschen in der Gemeinde, mit ihren Handlungen, Worten und Gedanken. Da waren die Händler, die ihre Waren verkauften. Die Verschuldeten, die weitere Schulden machten, die Bittsteller, die ihm ihre Geschichten erzählten, und manche von ihnen waren nicht annähernd so mittellos wie er. (Angelehnt an: Hermann Hesse, Siddhartha, Eine indische Dichtung.) Die Kaufleute aus der Fremde, und selbst die Soldaten Roms und die Zöllner, begrüßte er nicht anders als den, der seine Haare und seinen Bart pflegte, oder den Wirtshausbesitzer. Er nahm sich Zeit für die Kranken und Gebrechlichen, sprach ihnen Mut zu. Viel Zeit verbrachte Jeschua mit den Ärzten, denn ihre und seine Wege zu den Menschen trafen sich oft bei Geburten, Kranken und Sterbenden. Er bemerkte die Handlungen der Ärzte und ihre Wirkung auf die Menschen genau und er schrieb seine Beobachtungen für sich auf.

      Wenn Gemeindemitglieder mit ihm über ihre Sorgen sprachen, so hörte er ihnen zu. Manchmal wunderte er sich über sie, manchmal konnte er ihre Handlungen nicht verstehen. Und es kamen viele Menschen zu ihm. Jeschua beriet sie, er sprach mit ihnen, er schenkte ihnen seine Aufmerksamkeit, und diese Leidenschaft, mit der alle Menschen sich immerfort untereinander beschäftigten, strengte ihn sehr an. Und obwohl ihn die Menschen liebten, sah er sich selbst nicht als ein Teil von ihnen. Ihr Herz und ihre Seelen waren mehr bei ihren Sorgen und Hoffnungen, als dort, wo er sein Herz und seine Seele wusste, bei der Gottheit. „Viele Menschen, oh Weiser,“ sagte er eines Tages zu seinem Lehrer „sind sie nicht wie Staubkörner, die vom Wind ziellos umhergetragen werden?“ Der Weise sah Jeschua an. „Was meinst Du?“ „Wenige leben nach der Schrift, die wie die Sonne ist.“ Jeschuas Mitschüler nickten eifrig. Und der Weise fragte: „Gibt es an diesem Ort einen, der jede Handlung, jeden Gedanken und jedes Wort getreu der Schrift zu jeder Stunde erfüllt?“ Und seine Hände deuteten auf alle Schüler um ihn. Und alle bis auf Jeschua schlugen die Augen nieder. Und der Weise sah in Jeschuas Augen und er wusste, dass dieser eine nach der Schrift lebte und es erfreute ihn sehr. „Warum schlagt ihr die Augen nieder?“ Fragte der Weise seine anderen Schüler. „Hat Euch jemand angeklagt?“ (Angelehnt an: Johannes 8,1–11, Jesus und die Ehebrecherin.) Und sie sahen den Weisen erstaunt an. „Geht nun an Eure Studien und an Eure Arbeit und lebt von nun an getreu der Schrift!“ Und sie gingen zu ihren Studien und an ihre Arbeit.

      „Jeschua“. Der Angesprochene drehte sich um. „Bleibe noch einen Moment“. „Natürlich, mein Meister,“ entgegnete Jeschua ehrfürchtig. „Du lebst wahrlich getreu der Schrift. Ich konnte es in Deiner Seele sehen.“ Jetzt schlug Jeschua die Augen nieder. „Deine Beobachtung der Handlungen, Gedanken und Worte der Menschen ist wohl beobachtet und formuliert.“ Und Jeschua sah dem Weisen wieder in die Augen. „Doch ich frage Dich: Stellst Du mir mit Deiner Klage eine Frage?“ Und Jeschua antwortete: „Ja, Meister. Ich frage Dich, wie wir die Menschen auf den gerechten Weg bringen können. So wie Du, mein Meister, höre ich ihnen zu, spreche mit Ihnen und ich lege ihre Probleme getreu der Schriften aus. Sie nicken verständnisvoll, sie bedanken sich und gehen ihrer Wege. Doch wie es mir scheint nur, um am nächsten Tag mit einem anderen Problem und manchmal sogar mit dem gleichen Problem wiederzukommen.“ Und der Weise lächelte: „Was ist Deiner Meinung nach der Schlüssel, damit die Menschen unserer Gemeinde die Tür zum Weg der Gerechten öffnen können?“ Und Jeschua wusste keine Antwort drauf. „Nun, Jeschua,“ sagte der Weise und es war das erste Mal, dass ihn der Weise so ansprach „ich bin sicher, eines Tages wirst Du die Antwort auf diese Frage finden. Nun gehe auch Du an Deine Arbeit.“

      An einem anderen Tag heiratete seine älteste Schwester, die Rachel gerufen wurde, Jakob, den Sohn von Jakobus, dem Dorfschmied. Und Jeschua, der nun auch von den Weisen Schriftgelehrter gerufen wurde, leitete die Hochzeitszeremonie mit großer Freude, denn er liebte Rachel, seine älteste Schwester sehr. Und als er die sieben Segenssprüche sprach, weinte seine Mutter vor Glück. Und wie von unsichtbaren Fäden gezogen erinnerten sie sich zur gleichen Zeit an Momente ihres gemeinsamen Lebens. Maria sah das erste strahlende Lachen von Rachel, ihrer Tochter, Jeschua hörte den ersten Gesang von Rachel, seiner Schwester. Rachel dachte an die erste Lesung ihres Bruders, die die Luft und die Tiere verstummen ließ und die ihre Herzen und Seelen berührte. Und die Hochzeit von Rachel und Jakob wurde ausgelassen gefeiert. Für kurze Augenblicke sah Maria in die Augen von Jeschua, ihres erstgeborenen Sohnes und sie glaubte, darin eine Melancholie zu erkennen. „Jeschua, mein über alles geliebter Sohn,“ sprach sie ihn an. „Du bist zu einem Mann geworden. Deine Familie liebt Dich, Dein Patenonkel liebt Dich und schätzt Deine Arbeit und die Gemeinde liebt Dich und Deine Worte. Mit welcher Frau wirst Du Dich vermählen?“ Jeschua sah diese Frage seiner Mutter vorher. „Ich sehe viele kluge und schöne Frauen, Mama. Doch noch hat keine mein Herz berührt.“ Und Maria hatte seine Antwort erwartet und sie lächelte verständnisvoll. „Warte nicht zu lange, mein Sohn. Das Leben im Diesseits ist nicht von ewiger Dauer.“ „Ich weiß, Mama,“ antwortete er. Und sie feierten die Hochzeit von Rachel und Jakob bis spät in dieser Nacht. Am nächsten Vollmond kam ein Bote aus dem nächstgelegenen Dorf, das von den Menschen NaÏn genannt wurde, zum Ortsvorsteher von Nazaret.

      Kapitel 2

      Beim ersten Tageslicht berief der Dorfvorsteher die Versammlung der Dorfältesten, des Richters, des Arztes, des Weisens und des Schriftgelehrten ein. Der Weise, der Jeschua und die anderen jungen Schriftgelehrten nach ihrer Prüfung noch eine Weile begleitete, befragte sie: „Wer aus Eurem Kreis wird mich zur Dorfversammlung begleiten?“ Einer musste einen neugekauften Acker besehen, ein anderer ein neugekauftes Joch Ochsen und ein Dritter hatte gerade eben erst geheiratet. (Lk 14,15–24 EU: angelehnt an das Gleichnis vom großen Abendmahl.) Und so fiel die Wahl auf Jeschua.

      Und der Weise, der nach den vielen Jahren des Unterrichtens in die Herzen und Seelen seiner Schüler hineinschaute, fragte sie: „Kennt einer von Euch einen guten Grund, weshalb Jeschua mich nicht zur Dorfversammlung begleiten wird? Falls ja, so möge er jetzt sprechen oder für immer schweigen.“ Die jungen Schriftgelehrten schüttelten die Köpfe. Doch der Weise sah auch Zaghaftigkeit und Missgunst

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