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Beginn ermahnte sich Simon seinen Großvater, seine Eltern und Lehrer zu allen Zeiten zu ehren und die Worte der Gottheit als einziges Gesetz anzuerkennen, gleich welche Verführungen auf ihn zukommen würden. Es folgten Lehrsprüche seiner Mentoren, die für ihn wichtig waren. „Konzentriere Dich jeder Zeit auf Deinen Auftrag,“ las Jeschua laut vor und „hüte Dich vor den Schwalben.“ Je mehr er las, umso mehr erschienen Jeschua die Texte unverständlich und er wollte seine Theorie schon verwerfen, als ihm etwas auffiel, dem er vorher keine Bedeutung beigemessen hatte: Über oder unter den Zeilen hatte Simon Abkürzungen von Orten oder Gebieten geschrieben. Er suchte in Claudius Arbeitsraum nach einer Karte der aramäischen Provinzen und fand schließlich eine. Er zeichnete die Karte sehr grob auf einen leeren Papyrus ab, in dem er vor allem den Jordan, das galiläische Meer im Norden, sowie Jerusalem und das Tote Meer im Süden hervorhob. Dann übertrug er die Ortsnamen aus Simons Texten in die Karte. Er begann im Norden mit Kapernaum. Als er fertig war, suchten Jeschuas Augen nach denkbaren Linien zwischen den Orten und am Ende seiner Suche sah er zwei ineinander verwobene gleichseitige Dreiecke vor seinem inneren Auge, ein nach oben weisendes und eines nach unten, mit identischem Zentrum. In der Mitte der Formen entstand so ein gleichmäßiges Sechseck. Er nahm einen Schriftkeil, tauchte ihn ein Tintenfass und er verband die Orte miteinander und am Ende sah er das Symbol vor sich. Sogar Nazaret und NaÏn wurden von den Linien berührt. Er kannte das Symbol, es wurde in vielen Häusern zur Dekoration verwendet. Die meisten Städte auf, oder ganz nah bei den Linien, waren in Galiläa und in Judäa. Simons Reisen waren einem Plan gefolgt. Sollte Claudius Theorie von einem Aufruhr richtig sein, so würde der Aufruhr hier am galiläischen Meer und in der Region um Jerusalem beginnen. Ziel war es, die Provinzen zu einem Reich zu vereinen. Er besah die Selbstermahnungen nochmals und nun verstand er sie völlig anders. Die Ermahnungen waren Botschaften, die Simon in die jeweiligen Orte gebracht haben konnte oder die er vielleicht aus ihnen mitnahm. Jetzt mussten die geschriebenen Worte nur richtig verstanden werden.

      Jeschua sah durch das große offene Fenster in Claudius Arbeitsraum. Die Schatten im Innenhof wurden länger, es war Nachmittag geworden. Claudius, Bezalel und Johannes kamen zurück und Jeschua zeigte ihnen, was er entdeckt hatte. Claudius fand die Worte zuerst wieder: „Ich kenne einen Mann, der eine Autorität auf dem Gebiet der Geheimsprachen ist. Doch er lebt und arbeitet in Rom.“

      „Jener Mann muss zu uns kommen,“ sagte Johannes. Claudius dachte kurz nach. „Mag sein, Johannes,“ sagte Claudius und „wir müssen einen Plan für unser Handeln entwickeln. Diese unsichtbaren Kräfte gehen offensichtlich methodisch vor, sie sind uns viele Schritte voraus.“

      Claudius vertrat bereits während seines Studiums des römischen Rechts Kläger und Angeklagte in Strafprozessen vor Gericht. Auch nach Abschluss des Studiums setzte er diese Tätigkeit fort, auch wenn ihm der Dienst in der römischen Armee dafür zunehmend weniger Zeit ließ. Doch die Prinzipien einer möglichst faktenbasierten Beweisführung waren in ihm tief verankert. So begann er, wie in einem Strafprozess, den Sachverhalt darzulegen. „Was wissen wir durch Beweise? An erster Stelle ist der unnatürliche Tod Simons, des Schriftgelehrten und Winzers, bezeugt durch den Weingärtner Daniel und durch den Arzt Gallech. Zweitens haben Bezalel und Kenan geheimnisvolle Fischzeichen an Innenwänden von verlassenen Häusern gesehen. Drittens sahen Jeschua, Johannes und Kenan das Fischzeichen bei zwei Männern aus Kapernaum, die sich nach dem toten Simon erkundigten. Viertens liegen dem Legaten Claudius Babillus und dem Rechtsgelehrten Bezalel Simeon Berichte von gefangenen parthischen Soldaten über rebellische Tätigkeiten im Grenzgebiet zwischen Parthien und Syria vor. Diese wurden jedoch auch durch peinliche Befragung gewonnen, was die Kraft dieser Aussagen meiner Erfahrung nach erheblich mindert. Fünftens erkannten wir durch die hervorragend dargelegte Analyse des Schriftgelehrten Jeschua, dass das Tagebuch des toten Simon, dem Anschein nach kein Tagebuch ist, sondern vermutlich eine Sammlung von geheimen Botschaften.“ Claudius holte kurz Atem, dann: „Was wissen wir nicht durch Beweise? Erstens, wir kennen weder den, oder die Täter, die Simon erschlugen, noch wissen wir ihre Beweggründe. Zweitens wissen wir nicht, ob die an drei verschiedenen Orten beobachteten Fischzeichen im Zusammenhang mit Simons Tod, oder den Aussagen der gefangenen parthischen Soldaten, oder mit den Schlussfolgerungen aus der Analyse des Jeschua stehen.“ Er holte nochmals Atem. „Ich frage Euch: Gegen wen erheben wir also, auf welchen Beweisen begründet, welche Anklage?“ Bezalel, Jeschua und Johannes sahen Claudius verwundert an.

      Claudius wusste auch, dass auf den Gebieten der Politik und des Militärs oft genug viel weniger als ein Beweis ausreichte, um ganze Völker ohne Anklage und Gerichtsverfahren auszurotten. Das römische Kaiserreich und dessen Vorgängerin, die römische Republik, aber auch die Reiche des großen Griechen oder die der Ägypter hatten dies in ihrer jeweiligen Vergangenheit vielfach praktiziert, mit wechselnden Erfolgen. Sie standen ihren zeitweiligen Gegnern darin in Nichts nach. Die Motive, meist eine Mischung aus Gier, Machtstreben, Neid und Hochmut der Herrschenden, ersetzten einfach Anklage, Beweisführung und Schuldspruch. Er erinnerte sich an heftige Debatten im Senat, als es die schwierige militärische Lage in den nördlichen Provinzen zum wiederholten Male erforderte neue Legionen auszuheben und sich etliche Senatoren wohlbegründet, aber erfolglos, dagegen aussprachen. Und er erinnerte sich an die bitteren Tränen und Anklagen römischer Mütter und Ehefrauen, als ihre Söhne und Ehemänner nicht aus den Kriegen zurückkehrten. Dann holte Bezalel Claudius von seinen ausschweifenden Gedanken in die Gegenwart zurück: „Claudius? Was willst Du uns sagen?“

      „Verzeiht,“ sagte Claudius und „ich brauche eine Pause, lasst uns bitte beim Abendessen weiterreden.“ Claudius wandte sich an Jeschua und Johannes: „Wo werdet Ihr heute nächtigen?“

      „Wir hatten, ehrlich gesagt, noch keine Gelegenheit darüber nachzudenken. Doch auf dem Weg zum Palast sahen wir einige Herbergen und es erschien uns, dass in ihnen noch freie Zimmer waren.“

      „Das kommt nicht in Frage, Jeschua! Es wäre mir eine Freude, wenn Ihr in meinem Haus übernachtet.“ „Claudius,“ sagte Jeschua. „Wir danken Dir für Deine Großzügigkeit. Doch, wir sind einfache Aramäer. Werden die Leute um Euch nicht reden, wenn wir bei Euch übernachten?“ Claudius war wieder vollständig im Jetzt angekommen. „Bei mir gehen jeden Tag viele Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Standes ein und aus. Die Leute würden sich mehr Gedanken um mich machen, wenn es nicht so wäre.“ Jeschua und Johannes nickten. „Begleitest Du uns Bezalel?“ Fragte Claudius. „Mit Vergnügen, Claudius,“ sagte Bezalel.

      Auf dem Weg zum Haus des Claudius musste Johannes Bezalel einfach fragen: „Herr, wird Deine Frau von Dir nicht Erklärungen fordern, warum Du nicht zum Abendessen bei der Familie warst?“

      „Johannes,“ sagte Bezalel. „Ich nehme an, Du sprichst aus eigener Erfahrung, doch: Nenn mich bitte bei meinem Namen. Denn erstens, Du bist Aramäer, wie ich es bin, und zweitens sind wir beide Bürger des Römischen Reiches und damit sind wir vor den Gesetzen gleichgestellt. Drittens, und damit zurück zu Deiner Frage: Ich bin nicht verheiratet und auf mich wartet keine Familie. Meine Arbeitstage sind lang, keine Ehefrau könnte das auf Dauer ertragen. Und damit spreche ich aus eigenen Erfahrungen.“ Jeschua und Claudius schmunzelten. Johannes beließ es bei einem einfachen „Ja.“ Bezalel spürte Johannes Unbehagen. „Claudius und ich durften Dich als einen unerschrockenen und umsichtigen Mann kennenlernen und ich verstehe gut, warum Jeschua Dich seinen besten Freund nennt. Bleibe so, wie Du bist. Alles andere ist Wille der Gottheit.“

      „Ja,“ sagte Johannes. Jeschua konnte sich nicht daran erinnern, mit Bezalel jemals über seine Gefühle für Johannes gesprochen zu haben, auch gegenüber Johannes hatte sich Jeschua nie offenbart. Doch Bezalel hatte recht, sagte sich Jeschua. Nachdem sie sich gründlich gewaschen hatten, legten sie sich zum Abendessen nieder. Claudius Diener brachten einfache Speisen, die Jeschua und Johannes gut kannten. Claudius erriet Jeschuas Gedanken: „Es ist so, wie ich es in NaÏn sagte: Ich esse, was Ihr esst, und trinke, was Ihr trinkt.“ Dann sagte Bezalel: „Claudius, Du sagtest, wir wollen beim Essen weiterreden. In der Zwischenzeit dachte ich über Deine Rede nach, als Du in den Rollen des Anklägers und des Verteidigers des Beklagten zugleich warst. Darf ich fortfahren?“

      „Gerne, Bezalel,“ sagte Claudius und „Du weißt, ich schätze Deine Gedanken sehr.“ „Nun,“ begann Bezalel.

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