Скачать книгу

aus dem Schwäbischen Zeitalter. Berlin: Realschulbuchhandlung, S. 284 (Bayerische Staatsbibliothek München Res/P.o.germ. 1469).

      Wenn Kinder auf Blüten sitzen oder sogar, wie in diesem Beispiel, anstelle von Stempel und Staubgefäßen aus diesen herausragen, so gehen menschliche und vegetabile Natur bruchlos – wenn auch auf durchaus merkwürdige Weise – ineinander über. In Runges Werk Der Morgen (Abb. 2) sitzen drei einander umarmende Kinderpaare auf einer im Verhältnis riesigen Lilienblüte, die in den geröteten Himmel ragt.

illustration

      Abbildung 2: Philipp Otto Runge: Der Morgen (1. Fassung), 1808, Hamburger Kunsthalle (Detail), aus: Walther, Ingo (1995) (Hrsg.), Malerei der Welt. Köln: Taschen, S. 453.

      4. Sibylle von Olfers: Etwas von den Wurzelkindern (1906)

      Eine optimistischere Perspektive auf das Miteinander menschlicher und vegetabiler Natur vertritt Sibylle von Olfers in ihrem kinderliterarischen Klassiker Etwas von den Wurzelkindern (1906). Die Wurzelkinder sind jeweils einzelnen Pflanzen verschiedener Arten zugeordnet und personifizieren diese Pflanzen ähnlich wie manche antiken Nymphen (Daphne den Lorbeer, Syrinx das Schilfrohr, die Oreaden, Dryaden und Hamadryaden jeweils bestimmte Bäume). Im Frühling ziehen sie von ihren unterirdischen Schlafplätzen auf die Erdoberfläche und sorgen dadurch für das Erblühen der Natur; im Herbst flüchten sie vor Wind und Kälte mitsamt ihren Blumen wieder unter die Erde. Dabei sind, dem auch heute noch verbreiteten Stereotyp vom weiblichen als dem schönen Geschlecht entsprechend, die Wurzelmädchen den Blumen (Maiglöckchen, Veilchen, Seerose etc.), die Wurzeljungen dagegen den Gräsern (Weidelgras, Zittergras, Roggen-Trespe) zugeteilt. Während die Wurzelmädchen bunte Kleider in der Farbe der Blüte ihrer Blume tragen, sind die Kittel der Wurzeljungen allesamt grün. Alle Kinder tragen ein Exemplar der ihnen zugeordneten Pflanze vor sich her; einige der Gräser, welche die Wurzeljungen halten, sind in auffallend phallischer Form dargestellt (vgl. Abb. 3).

illustration

      Abbildung 3: Sibylle von Olfers (o.J.): Etwas von den Wurzelkindern. Eßlingen am Neckar. 60. Aufl. München: J.F. Schreiber.

      In den Wurzelkindern sind ähnlich wie in Philipp Otto Runges Pflanzendarstellungen die Größenverhältnisse so verändert, dass die Kinder auf Blättern von Blumen sitzen können, zum Beispiel denen der Seerose (Abb. 4).

illustration

      Abbildung 4: Sibylle von Olfers (o.J.): Etwas von den Wurzelkindern. Eßlingen am Neckar. 60. Aufl. München: J. F. Schreiber.

      Die Größe der auf fast jedem Bild dargestellten Insekten – Käfer, Libellen, Ameisen, Schmetterlinge – macht deutlich, dass hier nicht die Pflanzen größer, sondern die menschlichen Figuren kleiner als in der Realität gezeichnet werden. Die kleine Gestalt der Wurzelkinder, die auf die englischen fairies insbesondere der literarischen und volksmythologischen Tradition verweist (Williams 1984, 795), zieht die herkömmliche Hierarchie von Menschen und Pflanzen in Zweifel: Wenn die menschlichen Figuren nicht größer sind als die Blumen und Gräser, wenn sie mit diesen im Frühling erscheinen und im Herbst wieder unter der Erde verschwinden, dann ist ein Naturverhältnis denkbar, in dem die Menschen eher gleichgeordnete companion species (Haraway) als Herrscher über die Natur sind. Im Unterricht wäre eine lohnende Frage die nach den Veränderungen, die sich für das Verhältnis zu den übrigen Wesen der Natur ergeben würden, wenn Menschenkinder so klein wie die Wurzelkinder wären: Was wäre dann möglich, was wäre schwieriger?

      5. Annette von Droste-Hülshoff: Der Knabe im Moor (1841/42)

      Die Interaktionen menschlicher und nichtmenschlicher Wesen erkundet Annette von Droste-Hülshoff systematisch in ihren Naturgedichten (vgl. Detering 2020; Kramer 2021a). Darin stellt sie Pflanzen und Tiere nicht isoliert, sondern in ihren jeweiligen Umwelten dar, zu denen Wasser, Wind, Sonne, Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen und auch die Geister gehören. In Drostes wohl berühmtestem Gedicht, Der Knabe im Moor, nehmen die Pflanzen des Moors auf unheimliche Weise menschliche Züge an.

      O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,

      Wenn es wimmelt vom Haiderauche,

      Sich wie Phantome die Dünste drehn

      Und die Ranke häkelt am Strauche,

      Unter jedem Tritt ein Quellchen springt,

      Wenn aus der Spalte es zischt und singt,

      O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,

      Wenn das Röhricht knistert im Hauche!

      (Droste-Hülshoff 1985, S. 67f., v. 1–8)

      Wenn „die Ranke häkelt am Strauche“, „[w]enn aus der Spalte es zischt und singt“, wenn (in der dritten Strophe) das „Gestumpf “ am Ufer hervor „starret“ und die Föhre „[u] nheimlich nicket“, dann sind das Moor und seine Vegetation menschenähnlich beseelt, bevor noch die Geräusche am „Hage“ und im „Geröhre“ als Äußerungen individueller und mit einem Narrativ verknüpfter Gespenster identifiziert werden. Die Grenzen zwischen menschenähnlich handelnden – singenden, starrenden, nickenden – Pflanzen und menschlichen Figuren verschwimmen auf unheimliche Weise. Die Geister haben teil an den Wechselbeziehungen in Drostes Poetik der Natur und sind mit den übrigen Wesen der Natur verwoben. Anstatt aber der Wildnis der Heide einen heimeligen Kulturraum entgegenzusetzen, macht Droste im Rückgriff auf Figuren des Volksglaubens die wilden, unheimlichen und unbeherrschbaren Kräfte sichtbar, die das Menschliche

Скачать книгу