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Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren. Группа авторов
Читать онлайн.Название Kulturelle Nachhaltigkeit lernen und lehren
Год выпуска 0
isbn 9783706561921
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия Pädagogik für Niederösterreich
Издательство Bookwire
Wenn Kinder auf Blüten sitzen oder sogar, wie in diesem Beispiel, anstelle von Stempel und Staubgefäßen aus diesen herausragen, so gehen menschliche und vegetabile Natur bruchlos – wenn auch auf durchaus merkwürdige Weise – ineinander über. In Runges Werk Der Morgen (Abb. 2) sitzen drei einander umarmende Kinderpaare auf einer im Verhältnis riesigen Lilienblüte, die in den geröteten Himmel ragt.
Abbildung 2: Philipp Otto Runge: Der Morgen (1. Fassung), 1808, Hamburger Kunsthalle (Detail), aus: Walther, Ingo (1995) (Hrsg.), Malerei der Welt. Köln: Taschen, S. 453.
Runge imaginiert hier im Anschluss an Böhme die Beziehung zur übrigen Natur als Liebesbeziehung. Auch Tiecks Marie tritt im Elfengarten in eine Beziehung der Liebe mit der Natur ein. Nach den von Böhme inspirierten Lehren der Naturphilosophie, auf die Tieck im Phantasus immer wieder verweist,5 müsste sie beste Chancen auf ein gelingendes Leben haben. Doch Tiecks Märchen erzählt etwas anderes. Es berichtet davon, dass die Menschen nicht dazu in der Lage sind, solch ein Naturverhältnis für längere Zeit, auf nachhaltige Weise also, aufrechtzuerhalten. Sie sind mit der nichtmenschlichen Natur zwar in komplizierten Interdependenzen verwoben, haben jedoch kaum Handlungsmacht und können die Natur nie vollständig verstehen oder gar beherrschen; allenfalls vermögen sie ihre eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören.
4. Sibylle von Olfers: Etwas von den Wurzelkindern (1906)
Eine optimistischere Perspektive auf das Miteinander menschlicher und vegetabiler Natur vertritt Sibylle von Olfers in ihrem kinderliterarischen Klassiker Etwas von den Wurzelkindern (1906). Die Wurzelkinder sind jeweils einzelnen Pflanzen verschiedener Arten zugeordnet und personifizieren diese Pflanzen ähnlich wie manche antiken Nymphen (Daphne den Lorbeer, Syrinx das Schilfrohr, die Oreaden, Dryaden und Hamadryaden jeweils bestimmte Bäume). Im Frühling ziehen sie von ihren unterirdischen Schlafplätzen auf die Erdoberfläche und sorgen dadurch für das Erblühen der Natur; im Herbst flüchten sie vor Wind und Kälte mitsamt ihren Blumen wieder unter die Erde. Dabei sind, dem auch heute noch verbreiteten Stereotyp vom weiblichen als dem schönen Geschlecht entsprechend, die Wurzelmädchen den Blumen (Maiglöckchen, Veilchen, Seerose etc.), die Wurzeljungen dagegen den Gräsern (Weidelgras, Zittergras, Roggen-Trespe) zugeteilt. Während die Wurzelmädchen bunte Kleider in der Farbe der Blüte ihrer Blume tragen, sind die Kittel der Wurzeljungen allesamt grün. Alle Kinder tragen ein Exemplar der ihnen zugeordneten Pflanze vor sich her; einige der Gräser, welche die Wurzeljungen halten, sind in auffallend phallischer Form dargestellt (vgl. Abb. 3).
Abbildung 3: Sibylle von Olfers (o.J.): Etwas von den Wurzelkindern. Eßlingen am Neckar. 60. Aufl. München: J.F. Schreiber.
Die Zuordnung der Mädchen zu Blumen und der Jungen zu Gräsern bietet im Unterricht die Gelegenheit, den tradierten Topos von Frauen als Blumen vorzustellen und zu hinterfragen. Wieso sind in Olfers’ Bilderbuch keine Gräser Mädchen und keine Blumen Jungen zugeordnet (erst im letzten Bild des Buchs, das die chaotische Wirkung des Herbstwinds zeigt, ist diese sonst streng durchgehaltene Ordnung andeutungsweise aufgelockert)? Was sagt dies über die dadurch vermittelten Vorstellungen davon aus, wie Jungen und Mädchen sein sollten? Welche Auswirkungen haben diese Vorstellungen für die Menschen – könnte ein Zusammenhang dieser Vorstellungen von Geschlecht mit der Tatsache bestehen, dass Frauen beim Erscheinen dieses Bilderbuchs noch kein Wahlrecht hatten? Ist von diesen Vorstellungen auch heute, über hundert Jahre später, noch etwas zu bemerken? Hier wie in vielen anderen Fällen zeigt sich, dass die pflanzenorientierte Literaturdidaktik Teil eines gendersensiblen Literaturunterrichts sein muss.6 Die Perspektive auf die Pflanzen kann dazu beitragen, bereits im Literaturunterricht der Grundschule den Konstruktionscharakter von Geschlecht und der damit verbundenen Rollenerwartungen ins Bewusstsein zu rufen, anschaulich werden zu lassen und in seinen Wirkungen und Konsequenzen zur Diskussion zu stellen.
In den Wurzelkindern sind ähnlich wie in Philipp Otto Runges Pflanzendarstellungen die Größenverhältnisse so verändert, dass die Kinder auf Blättern von Blumen sitzen können, zum Beispiel denen der Seerose (Abb. 4).
Abbildung 4: Sibylle von Olfers (o.J.): Etwas von den Wurzelkindern. Eßlingen am Neckar. 60. Aufl. München: J. F. Schreiber.
Die Größe der auf fast jedem Bild dargestellten Insekten – Käfer, Libellen, Ameisen, Schmetterlinge – macht deutlich, dass hier nicht die Pflanzen größer, sondern die menschlichen Figuren kleiner als in der Realität gezeichnet werden. Die kleine Gestalt der Wurzelkinder, die auf die englischen fairies insbesondere der literarischen und volksmythologischen Tradition verweist (Williams 1984, 795), zieht die herkömmliche Hierarchie von Menschen und Pflanzen in Zweifel: Wenn die menschlichen Figuren nicht größer sind als die Blumen und Gräser, wenn sie mit diesen im Frühling erscheinen und im Herbst wieder unter der Erde verschwinden, dann ist ein Naturverhältnis denkbar, in dem die Menschen eher gleichgeordnete companion species (Haraway) als Herrscher über die Natur sind. Im Unterricht wäre eine lohnende Frage die nach den Veränderungen, die sich für das Verhältnis zu den übrigen Wesen der Natur ergeben würden, wenn Menschenkinder so klein wie die Wurzelkinder wären: Was wäre dann möglich, was wäre schwieriger?
5. Annette von Droste-Hülshoff: Der Knabe im Moor (1841/42)
Die Interaktionen menschlicher und nichtmenschlicher Wesen erkundet Annette von Droste-Hülshoff systematisch in ihren Naturgedichten (vgl. Detering 2020; Kramer 2021a). Darin stellt sie Pflanzen und Tiere nicht isoliert, sondern in ihren jeweiligen Umwelten dar, zu denen Wasser, Wind, Sonne, Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen und auch die Geister gehören. In Drostes wohl berühmtestem Gedicht, Der Knabe im Moor, nehmen die Pflanzen des Moors auf unheimliche Weise menschliche Züge an.
O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Haiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritt ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt,
O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!
(Droste-Hülshoff 1985, S. 67f., v. 1–8)
Wenn „die Ranke häkelt am Strauche“, „[w]enn aus der Spalte es zischt und singt“, wenn (in der dritten Strophe) das „Gestumpf “ am Ufer hervor „starret“ und die Föhre „[u] nheimlich nicket“, dann sind das Moor und seine Vegetation menschenähnlich beseelt, bevor noch die Geräusche am „Hage“ und im „Geröhre“ als Äußerungen individueller und mit einem Narrativ verknüpfter Gespenster identifiziert werden. Die Grenzen zwischen menschenähnlich handelnden – singenden, starrenden, nickenden – Pflanzen und menschlichen Figuren verschwimmen auf unheimliche Weise. Die Geister haben teil an den Wechselbeziehungen in Drostes Poetik der Natur und sind mit den übrigen Wesen der Natur verwoben. Anstatt aber der Wildnis der Heide einen heimeligen Kulturraum entgegenzusetzen, macht Droste im Rückgriff auf Figuren des Volksglaubens die wilden, unheimlichen und unbeherrschbaren Kräfte sichtbar, die das Menschliche