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1916, als Dada im Cabaret Voltaire erfunden wurde. Glaubt man den einschlägigen Berichten der Beteiligten, so lösten die künstlerischen Experimente, die dort zur Vorführung kamen, in einem unerwarteten Maße affektive Reaktionen aus. Bereits am 26. Februar, also nicht einmal einen Monat nach Eröffnung, notiert Hugo BallBall, Hugo: „Ein undefinierbarer Rausch hat sich aller bemächtigt. Das kleine Kabarett droht aus den Fugen zu gehen und wird zum Tummelplatz verrückter Emotionen.“1 Am 11. April endet die Ankunft einer „Gesellschaft holländischer Jungs“ mit dem allgemeinen Ausbruch einer Tanzwut, die „sich bis auf die Straße“ fortsetzt;2 und am 3. Juni gerät Emmy HenningsHennings, Emmy Tochter Annemarie bei einer Soiree „ob all der Farben und des Taumels außer Rand und Band.“3

      Es ist zugleich klar, dass man es bei Dada mit einer Bewegung zu tun hat, die in vielerlei Hinsicht mit dem sogenannten ‚Einsprachigkeitsparadigma‘ bricht, dem in der Forschung bescheinigt wird, in engem Verbund mit Kulturpolitiken der Nationalisierung das gesamte 19. Jahrhundert geprägt zu haben. Was läge also näher als die Frage, inwiefern die literarische Mehrsprachigkeit von Dada und die affektive Wirkung der Bewegung etwas miteinander zu tun haben: Wenn die affektive Wirkung eines der Ziele des Unternehmens ist – stellt dann Mehrsprachigkeit schlicht eines der poetischen Mittel dar, es zu erreichen, oder bemüht man sich vielmehr darum, die Affektivität von Sprache(n) selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken?

      Diesem Problemkomplex möchte ich mich im Folgenden widmen, ausgehend von der Frage, wie sich Dada zur Semantik der Muttersprache verhält, die eine enge affektive Beziehung zwischen Sprecherinnen und ihren Sprachen unterstellt. Die genauere Auseinandersetzung mit drei Dada-Gedichten aus dem Jahr 1916 soll die These plausibilisieren, dass Mehrsprachigkeit gezielt eingesetzt wird, um vor-muttersprachliche und daher in besonderer Weise affektbezogene sprachliche Kreativität freizusetzen. Um die Spezifik des Zugangs von Dada zu Affekt und Mehrsprachigkeit zu erläutern, werde ich u.a. auf ein Schweizer Parallelunternehmen der Jahre 1915/16 zu sprechen kommen, nämlich die Kompilation des Cours de linguistique générale von Ferdinand de SaussureSaussure, Ferdinand de durch Charles Bally und Albert Sechehaye in Genf. Das ursprüngliche Anliegen SaussureSaussure, Ferdinand des, wie man es seinen Notizen entnehmen kann, ist nämlich an eben jener vor-muttersprachlichen Kreativität interessiert, die auch Dada anzapfen möchte. Aus fachpolitischen Gründen wird diese Facette des SaussureSaussure, Ferdinand de’schen Denkens aber im Cours getilgt. Der Kontrast zwischen der Programmatik der Cours-Edition und dem seltsam konsequenzlosen Treiben in Zürich lässt besonders gut erkennen, was die von Dada anvisierte Kulturpolitik des Affekts auszeichnet.

      1 Dada und die Semantik der Muttersprache

      Die sich dem Dada zuordnenden Künstler haben von Beginn an mehr als nur eine Sprache verwendet und das eigene Tun vor dem Hintergrund eines internationalen Netzwerks gesehen.1 Nicht zuletzt haben die ersten Dada-Manifeste durchweg die plurivalente ‚Sprachigkeit‘ der Bezeichnung ‚Dada‘ hervorgehoben, also, wie man in Robert Stockhammers Terminologie formulieren kann, ihre Zugehörigkeit zu mehr als nur einer langue.2 Hugo BallBall, Hugo beansprucht in seinem Tagebuch die Autorschaft der Bezeichnung, die er folgendermaßen erläutert – und entsprechende Passagen finden sich danach bei anderen Autoren: „Dada heißt im Rumänischen Ja Ja, im Französischen Hotto- und Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen.“3 Man hat es also mit einer erklärtermaßen infantilen Lautfügung zu tun, wenn sie auch alles andere als unschuldig ist, sondern eher „zeugungsfroh“. Es liegt vor diesem Hintergrund geradezu auf der Hand, so folgenreiche von Dada ‚erfundene‘ poetische Techniken wie die sogenannte ‚Lautpoesie‘ oder das Simultangedicht als Verfahren zur Freisetzung von sprachlicher Kreativität zu deuten, die vor die Prägung durch Muttersprachlichkeit, und überhaupt durch Sprachigkeit, zurückgehen sollen.4

      Um hier noch klarer zu sehen, lohnen sich einige grundsätzliche Erinnerungen mit Blick auf den Begriff der ‚Muttersprache‘. In der jüngeren Forschung wird das Einsprachigkeitsparadigma – so die Bezeichnung von Yasemin YildizYildiz, Yasemin5 – als Zusammenführung der (mindestens) folgenden Annahmen beschrieben:

      1 Sprechen geschieht normalerweise in genau einer Sprache im Sinne von langue, also eines Sprachsystems, das es erlaubt zu entscheiden, was eine korrekt geformte Äußerung ist und was nicht.

      2 Sprecher besitzen normalerweise genau eine Muttersprache, die sowohl mit der Sprache ihrer Erstsozialisation als auch mit der Sprache der Nation identisch ist, der sie angehören.

      3 Muttersprachler beherrschen ihre Muttersprache und gelten als deren Verkörperung sowie auch als originärer Motor ihrer Weiterentwicklung bzw. ihrer kreativen Verwendung. Einbegriffen ist hier, dass der Muttersprachler ein untrügliches Gefühl für seine Sprache hat und ihr – denn es handelt sich ja um die Sprache, die die Mutter repräsentiert – auf einzigartige Weise affektiv verbunden ist. Keine sogenannte Fremdsprache kann diese Bindung ersetzen.

      Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen zu erläutern, woher diese Semantik stammt und welche Wirkmächtigkeit sie wann wo genau gehabt hat. Als ihre Urheber werden, halb zu Recht, halb zu Unrecht, immer wieder Dante und Herder gehandelt. Dazu gibt es genug Forschung, vor allem von Thomas P. Bonfiglio und David Martyn.6 Es ist wichtiger zu sehen, welche Spannung der Begriff der ‚Muttersprache‘ im Rahmen des Einsprachigkeitsparadigmas überdeckt: Diejenige nämlich zwischen der vermeintlichen Natürlichkeit des Spracherwerbs und der Tatsache, dass die Überführung der Erstsozialisierungssprache, also der eigentlichen Muttersprache, die man auch als ‚dada‘-Rede bezeichnen könnte, in eine kodifizierte nationale Standardsprache ganz erheblicher kultur- und sprachpolitischer Maßnahmen bedarf. So betrachtet handelt es sich bei der Semantik der Muttersprache um ein Narrativ, das in doppelter Art und Weise dazu dient, an entscheidender Stelle Komplexität unsichtbar zu machen: Die Anstrengungen von Spracherwerb und schulischer Standardisierung, die jeweils als Zusammenspiel von Nachahmungs- und Korrekturversuchen mit grundsätzlich unwahrscheinlichen Erfolgsaussichten zu beschreiben wären, kommen nicht vor. Stattdessen erscheint Sprache mit Blick auf die einzelne Sprecherin als eine Kompetenz, die natürlich und komplikationsfrei aus dem Familienzusammenhang erwächst, mit Blick auf die Sprechergruppe – lies: die Nation – aber als Organismus, in dem und durch den sich das gemeinschaftliche Leben ebenso komplikationslos fortentwickelt. Beides scheint darauf abzuzielen, gesellschaftliche Kohäsion auch angesichts einer Gesellschaftsstruktur zu ermöglichen, die auf funktionaler Differenzierung, Selbstorganisation und massenmedialer Informationsvermittlung aufbaut – lauter Faktoren, die der emotionalen Bindung des Einzelnen an Gesellschaft eigentlich eher zuwiderlaufen. Und affektive Kohäsion, so könnte man vermuten, erleichtert wiederum die Durchsetzung zweckrationaler Motivation (‚für das Vaterland‘ zum Beispiel).7

      Damit ist nichts anderes gesagt, als dass das Narrativ ‚Muttersprache‘ affektive Bindung durch die systematische Ausblendung eines ebenfalls, allerdings auf ambivalente Weise, affektträchtigen Geschehens erkauft. Vor diesem Hintergrund wäre der affektive Durchbruch von Dada in die Vor-Muttersprachlichkeit – oder: die eigentliche ‚dada‘-Muttersprachlichkeit – als Befreiung von diesen Ausblendungsmaßnahmen zu beschreiben oder zumindest als deren Dekonstruktion, als Versuch, die Kulturpolitik des Einsprachigkeitsparadigmas außer Kraft zu setzen. Entsprechend lassen sich zumindest Hugo BallBall, Hugos programmatische Erläuterungen zu seinen Lautgedichten verstehen, die er laut Tagebuch dem Vortrag von „gadji beri bimba“ vorausgeschickt hat:

      Man verzichte mit dieser Art Klanggedicht in Bausch und Bogen auf die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache. Man ziehe sich in die innerste Alchimie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis, und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk.8

      Die „innerste Alchimie des Wortes“ bzw. der Sprache (langage) bezeichnet ganz offenkundig eine Form sprachlicher Kreativität, die jeder Muttersprachlichkeit vorausgeht. In den Lautgedichten möchte BallBall, Hugo die Kreativität dieser „Buchstaben-Alchimie“, so schreibt er später an Hans ArpArp, Hans, „mit der emotionalen Zeichnung zusammenbringen“9.

      2 Exkurs: Die Kulturpolitik der langue-Linguistik

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