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die alles andere als gefällig ist. Ihre Konsequenzen machen das schnell klar. Wenn sich niemand „absichtlich irrt“, dann ist alles Böse (alles falsche Handeln) Resultat eines Irrtums oder höherer Gewalt. Damit stellt sie eigentlich also die radikale Behauptung auf, dass der „natürliche“ Impuls jedes Menschen immer auf das Gute gerichtet ist – denn nur das würde garantieren, dass der Mensch allein dann böse handelt, wenn er getäuscht oder gezwungen wird.

      Sokrates’ trügerisch harmlose Formel erteilt in Wahrheit eine universale Absolution: Niemand ist im Grunde schuldig. Alle sind Opfer von Unwissenheit oder Zwang. Wie wenig tautologisch dieses Diktum in Wirklichkeit ist, wird noch offensichtlicher, wenn wir es mit christlichen Ideen vergleichen wie etwa Calvins „Auserwählten“ oder Luthers „Nicht durch die Werke, sondern allein durch den Glauben“, die die völlig konträre Annahme verkörpern, dass die „natürlichen“ Impulse und auch Handlungen des Menschen zu nichts führen.

      Das tiefe Wohlwollen und die „Nächstenliebe“ seiner Position war für Sokrates wahrscheinlich nicht wichtiger als die subtil mit inbegriffene Konsequenz, dass Wissen – und vor allem das Wissen, das er vermittelte, die Kenntnis des Guten – von herausragender Wichtigkeit ist: Denn wenn der Mensch dieses Wissen einmal besitzt, wird – falls nicht Zwang herrscht – unvermeidlich das Gute getan werden. Dies muss Sokrates’ Sinn für Ironie sehr angesprochen haben.

      … und seine Weiter­entwicklung durch Platon

      Dass diese idyllische Vision, in der Freiheit und Wissen zusammen genügen, um den Menschen gut zu machen, die Geburt eben von Freiheit und Wissen begleitete, hatte weitreichende Konsequenzen für deren spätere Geschichte. Unser Anliegen ist jedoch die Wichtigkeit, die Sokrates’ Paradoxon für Platon hatte.

      Wir wissen, dass Platon sein philosophisches Projekt in einer Zeit grundlegenden Wertewandels unternahm. Das Ethos, das für uns beispielhaft in Homers Epen verkörpert ist, ein Gefüge von Tugenden, die einem kriegerischen, feudalen Volk angemessen sind, das noch nicht langfristig sesshaft geworden ist, passte für den Stadtstaat Athen nicht mehr. Seine Plausibilität war verblasst, neue Notwendigkeiten wurden spürbar. Tüchtigkeit, unbestreitbarer Erfolg, wie auch immer er erreicht wurde, war für das Überleben der früheren agrarischen Gesellschaft unverzichtbar gewesen, die für Bedrohungen von außen anfälliger gewesen war, und deshalb waren diese Qualitäten zu Tugenden erhoben worden. Innerhalb des alten Ethos hatte das Ansehen unter den Gleichrangigen, überhaupt die eigene Reputation, viel gegolten: Sie repräsentierte die Dankbarkeit der Gesellschaft gegenüber jenen, die zu ihrem Nutzen Hervorragendes leisteten; sie inspirierte zu glänzenden und mutigen Heldentaten. Aber jetzt, in der Polis, wurden andere Tugenden nötig. Ordnung, Verlässlichkeit und innerer Zusammenhalt mussten gestärkt werden, und das Augenmerk richtete sich auf „stille Tugenden“, vor allem die Gerechtigkeit.

      Von den „äußeren“ zu den „inneren“ Tugenden

      Zwei Faktoren, die diesen Wandel begleiteten, erfordern besondere Aufmerksamkeit. Da ist zum einen die Tatsache, dass die älteren Werte von kriegerischer Tüchtigkeit und sichtbarem Erfolg ihren Lohn ganz offensichtlich in sich tragen. Das tun sie auch für uns noch, wenn auch vielleicht nicht so extrem wie für die Griechen. Das Streben nach den Zielen, die von diesen Tugenden hochgehalten werden, ist in der Tat so „natürlich“, dass keine weitere Rechtfertigung nötig scheint, vor allem dann nicht, wenn hinter ihnen alte und farbenprächtige Traditionen stehen. Im Hinblick auf diese Werte könnte man wirklich sagen, dass „niemand sich absichtlich irrt“. Niemand würde mit Absicht Schwäche, Inkompetenz oder den Niedergang anstreben oder dem Erfolg willentlich das Scheitern vorziehen – das könnte man tatsächlich als unschuldige Tautologie stehen lassen. In Bezug auf die neueren Werte der Polis ist es aber zumindest nicht selbstverständlich, dass ordentliches Benehmen, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit „von Natur aus“ befriedigend sind, vor allem nicht, wenn sie Opfer verlangen. Es leuchtet überhaupt nicht ein, dass man diese neuen Werte nicht absichtlich vernachlässigen könnte. Diese Werte verlangen deshalb eine Rechtfertigung in einer Art und Weise, wie sie die früheren nicht brauchten.

      Der zweite Unterschied betrifft die Sichtbarkeit, die „Greifbarkeit“. Die älteren Werte von Tüchtigkeit und Erfolg erforderten Handlungen, die im Grunde öffentlich waren, die sich zur Schau stellten und in der Sonne glänzten. Nicht so die neuere Ethik der Polis. Nach Gerechtigkeit und Ehrlichkeit muss man sich richten, auch wenn niemand das sieht, wenn niemand anders anwesend ist. Diese Tugenden müssen auf die Verlockungen des „Ansehens“ verzichten, und das macht ihre Rechtfertigung notwendiger und zugleich schwieriger. (Daher die Sage von Gyges’ Ring in Buch II der Politeia/Der Staat.)

      Platons Ansatz: Die neuen Werte nach dem alten Muster legitimieren

      Die Komplexität von Platons Auseinandersetzung mit dem sokratischen Paradoxon und mit der darin enthaltenen Idee der Freiheit sollte nun deutlich werden. Im Grunde machte Platon dieses Paradoxon zur hauptsächlichen Prämisse seines überragenden Versuchs, die bitter notwendige philosophische Legitimation der neueren, stilleren Tugenden zu entwerfen. Seine Strategie ergab sich auf natürliche Weise, war vielleicht die einzige, die ihm offenstand. Sein grundlegender Plan war, einfach die Kluft zwischen Alt und Neu zu überbrücken, zu zeigen, dass dieselbe Argumentation, die für die alten Werte so offensichtlich zutraf, auch für die neuen galt – wenn auch auf subtilere Weise. Sein Ziel war, zu veranschaulichen, dass Gerechtigkeit und die stillen Tugenden letztendlich genauso „natürlich“ erwünscht waren wie Erfolg und Spitzenleistungen, dass sie, wenn man sie eingehend prüfte, ebenfalls „ihren Lohn in sich trugen“, dass man sie, wenn man sie richtig verstand, ebensowenig „absichtlich“ vernachlässigen würde, wie man „freiwillig“ Schande und Scheitern erstreben würde. Das sokratische Diktum war somit der archimedische feste Punkt, um den sich das ganze Unternehmen „Rechtfertigung der neuen Werte“ drehen sollte.

      Eine falsche

      Psychologie …

      Damit ersetzte Platon eigentlich im sokratischen Paradoxon die alten durch die neuen Werte. Er verschob seine Bedeutung – weg von der Idee, dass der Mensch freiwillig nach Ehre und Größe strebe, hin zu der ziemlich andersartigen Idee, dass er freiwillig der Gerechtigkeit folge. Auf diese Weise schuf er den Eindruck, dass die neue Moral nicht eine gesellschaftlich erzeugte Forderung war, sondern nur repräsentierte, was der Mensch „wirklich“ wollte. Dabei zwang er ihm im Endeffekt eine falsche Psychologie auf. Er opferte eine genaue Wahrnehmung der tatsächlichen menschlichen Antriebe, um den neuen Werten den Anschein der Natürlichkeit und Legitimität zu geben – mit den Resultaten dieses Konzepts leben wir noch heute.

      … als Fundament einer mächtigen Idee: Freiheit ist Gehorsam gegen­über der Vernunft

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