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später: „Welche Handlungen wollen wir erzwungen nennen? Wir antworten, dass dies ohne Einschränkung Handlungen dann sind, wenn die Ursache in den äußeren Umständen liegt und der Handelnde nicht mitwirkt.“ Wir stehen, in anderen Worten, nur dann unter Zwang, wenn „das bewegende Prinzip“ einer Handlung sich physisch oder im wortwörtlichen Sinne außerhalb von uns befindet, und wir sind frei, wenn dieses bewegende Prinzip von uns selbst beigesteuert worden ist.8

      Vergleich mit

      den anderen

      Konzepten

      Vergleichen wir das mit den beiden anderen Auffassungen von der Freiheit. Für die erste ist die Freiheit einer Handlung bereits zunichte, wenn diese durch auch nur irgendetwas bedingt ist. Diese Auffassung stellt die höchsten Ansprüche, hinter die man deshalb auch am ehesten zurückfällt. Um wirklich zweckfrei zu sein, muss sich eine Handlung sozusagen aus heiterem Himmel materialisieren; schon bloße Rationalität disqualifiziert sie, und deshalb muss auch sie durchkreuzt werden. Das „platonische“ Konzept war einen Grad weniger extrem: Wenn ein Wunsch oder eine Leidenschaft oder irgendeine andere Kraft die eigenen Handlungen kontrollierte, dann war das „Tyrannei“. Nur die Vernunft war ausgenommen, und wir stellten fest, dass das nur möglich war, weil die Vernunft als das authentischste Selbst angesehen wurde. Unser drittes Beispiel, die „aristotelische“ Auffassung (ich verwende diese Bezeichnung nur der bequemen Einordnung halber; sie ist nicht die einzige Auffassung, die sich bei Aristoteles findet, genauso wenig wie die eben diskutierte immer von Platon vertreten wurde), ist noch einmal und gleich um einige Grade großzügiger. Laut ihrer Interpretation kann das „bewegende Prinzip“ einer Handlung nicht nur in der Vernunft liegen, sondern in allem, was dem Handelnden zuzurechnen ist, und solange dies der Fall ist, wird die Handlung immer noch frei sein. Sie ist so lange nicht „erzwungen“, wie das bewegende Prinzip im wörtlichen Sinne nicht außerhalb der Person des Handelnden liegt.

      Das „aristotelische“ Lebensgefühl: Kein Teil des Selbst wird als fremd erlebt

      Wenn wir nun zum dritten Mal unsere spezielle Frage nach der Erfahrung stellen, auf deren Basis diese neue Bedeutung von Freiheit formuliert wird, dann ist die Antwort wieder so offensichtlich wie zuvor. Wenn der Untergrundmensch sich seine Freiheit nur erhalten konnte, indem er gegen die Vernunft verstieß, und wenn das so war, weil er die Vernunft als etwas erlebte, das die Gesellschaft ihm aufzwang, so dass sogar sein eigenes rationales Denken eigenlich nicht ihm gehörte, sondern nur das Ausmaß bezeichnete, in dem er schon entmachtet worden war; wenn nach der „platonischen“ Auffassung Rationalität das genaue Gegenteil darstellt, die Garantie der Freiheit, weil rationales Denken nun als die einzige Veranlagung erlebt wird, die wirklich das Selbst ist – dann impliziert die „aristotelische“ Auffassung ganz klar, dass kein Teil des handelnden Subjekts als „fremd“ erlebt wird, als lediglich zu einem geringeren Grad Teil des Selbst und zu dem, was man „wirklich“ ist, in einer gewissen Distanz stehend. Nur wenn alle Teile des eigenen Selbst als gleichberechtigt akzeptiert werden, können die aus der eigenen Person entspringenden Handlungen frei sein und nur die, deren bewegendes Prinzip außerhalb liegt, als erzwungen gelten.

      Und wiederum stellen wir fest, dass Aristoteles tatsächlich dieser Ansicht war. Im ersten Teil des dritten Buches der Nikomachischen Ethik sagt er: „Die irrationalen Leidenschaften gelten als nicht weniger menschlich als die Vernunft, und die dem Zorn oder den Begierden entspringenden Handlungen sind deshalb die Handlungen der ganzen Person.“

      Aristoteles als Gegenpol zu Platon

      Diese Aussage bestreitet rundweg Platons Herabsetzung der irrationalen Leidenschaften, Emotionen und Begierden. Sie attackiert Platons Hierarchie der menschlichen Anlagen, die der Vernunft Priorität einräumte und die Leidenschaften auf einen niedrigeren Platz verwies. Fast klingt es sogar wie eine direkte Antwort auf Platon. Es ist, als hätte Aristoteles einen gravierenden Unterschied zwischen seiner Position und der seines Lehrers herausgestrichen. Zu sagen, dass „die irrationalen Leidenschaften nicht weniger menschlich sind als die Vernunft“, schafft eine Gleichberechtigung, die in den Ohren, die Platon gehört hatten, wie Blasphemie geklungen haben muss. Denn Platon hatte die Vernunft „göttlich“ genannt, und sogar die irrationalen Leidenschaften auf Augenhöhe mit ihr zu stellen bedeutete, dass Schweine und Reine nun gemeinsame Sache machten.

      Freiheitsdefinition und Lebensgefühl hängenzusammen

      Auch das stellt wieder eine Art Bestätigung dar. Wie im Falle Platons schlossen wir von uns aus, dass eine bestimmte Theorie der Freiheit ein Konzept oder eine Art und Weise nach sich zieht, wie man das Selbst erlebt, und nun stellen wir fest, dass Aristoteles tatsächlich der entsprechenden Ansicht war. Wir argumentierten, dass seine Auffassung von der Freiheit das gleichberechtigte Akzeptieren aller Wesenselemente eines Menschen erfordere, und jetzt stellt sich heraus, dass er tatsächlich diese Einstellung vertrat. Aber der wichtige Punkt ist wiederum, dass dies eine logische Verbindung illustriert, die sogar dann existieren würde, wenn sie Aristoteles entgangen wäre. Die Idee, dass wir nur von äußeren Kräften gezwungen werden können, aber frei sind, wenn das bewegende Prinzip in uns liegt, impliziert von vornherein, dass die Leidenschaften und Begierden nicht in irgendeine äußere Sphäre verbannt werden, von wo aus sie uns überrennen. Warum sollten sie immer die Rolle feindlicher Kräfte spielen, und warum sollten wir (die wir plötzlich nur noch aus lauteren Motiven und hehren Absichten bestehen) nur die unschuldigen Opfer einer fremden Macht sein? Diese Ansicht macht es somit nötig, dass die Vernunft degradiert wird, dass ihr hegemonialer Anspruch als ein snobistisches Vorurteil verworfen wird. Nur eine Einstellung verträgt sich mit dieser Idee der Freiheit: nämlich, dass alles an uns gleichermaßen menschlich ist. Wir sind nicht nur unsere Vernunft, sondern der ganze Rest gehört ebenfalls zu uns und hat den gleichen Status. Wir sind alle unsere Bestandteile, und keines davon sind weniger wir als ein anderes. Es gibt keine Abstufung. Es erinnert an Sartres Satz „Du bist die Gesamtheit deiner Handlungen“, nur dass diese Einstellung weiter geht. Warum die Handlungen herausgreifen? Wir sind genauso unsere Selbsttäuschungen, Ängste, Hoffnungen, unser Zögern, unsere Gefühle, unser Körper. Wir können keines davon abschreiben.

      Der „richtige“

      Freiheitsbegriff?

      Sich selbst auf diese Weise zu verstehen erscheint so natürlich, so attraktiv und irgendwie so goldrichtig („natürlich sind wir unser gesamtes Selbst, es ist einfach Selbstbetrug oder Neurose, anderer Auffassung zu sein“), dass man versucht ist, in voreiliger Erleichterung den Schluss zu ziehen, dies sei die „korrekte“ Einstellung gegenüber der eigenen Erfahrung und die damit zusammenhängende Auffassung von der Freiheit sei „wahr“ und zeige uns, was Freiheit „wirklich“ bedeutet.

      Schwächen des „aristotelischen“ Modells

      Nur um anzudeuten, wie weit wir davon noch entfernt sind (wir müssen noch eine ganze Abstraktionsstufe höher klettern), sollten wir die Kehrseite dieser Auffassung betrachten. Denn sie steht tatsächlich in scharfem Gegensatz zum gesunden Menschenverstand. Letztendlich bestreitet sie das Phänomen der Zwanghaftigkeit, nicht nur im technischen, also etwa Freudschen Sinne, sondern auch im ganz gewöhnlichen und altmodischen Sinne. Gemäß dieser Position kann man sich niemals auf die Entschuldigung „Ich kann nichts dafür“ berufen, wenn eine Handlung „innerhalb der Person entsprang“. Die Kehrseite von dem, was zunächst lediglich wie eine willkommene Demokratisierung der Wesenselemente des Menschen aussah, ist die, dass wir nun zu allen unseren Handlungen ein und dieselbe Beziehung haben, dass wir für alle gleichermaßen verantwortlich sind. Und diese Zunahme an Schuld ist zumindest ein Nachteil oder eine Schwierigkeit, der sich stellen muss, wer dieser Auffassung zuneigt, und sie erhellt im Gegenzug die Motive, die den Alternativthesen zugrunde liegen.

      Was Aristoteles angeht, so könnte man vermuten, dass die geschilderte Konsequenz ihm gar nicht recht war. Wahrscheinlich hielt er die Gleichheit der Wesenselemente des Menschen für eine ganz grundlegende und wichtige Dok­trin und betrachtete die Konsequenz daraus einfach als eine Art Preis, der zu zahlen war. Aber das wäre ein bequemer und untypischer Standpunkt gewesen. Stattdessen könnte man (das ist aber, bei allem Nachdruck, nur ein Vorschlag) die Nikomachische Ethik im Hinblick auf dieses Dilemma lesen. Das könnte Licht auf die komplexen Zuschreibungen und Einschränkungen

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