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Auf der Grundlage der Übers. von Eugen Rolfes hrsg. von Günther Bien, Hamburg: Meiner, 41985; Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. von Franz Dirlmeier, Stuttgart: Reclam, 1969.

      „Ich feiere mich selbst und singe mich selbst,

      Und was ich mir anmaße, sollst du dir anmaßen,

      Denn jedes Atom, das mir gehört, gehört auch dir.“

      Walt Whitman, „Gesang von mir selbst“

      3

      Freiheit und absolute Unabhängigkeit

      Die Hauptkategorien, die wir bisher eingeführt haben – Identität versus Abspaltung oder Dissoziation –, sollten auf die allersimpelste Weise verstanden werden. Zunächst wollen wir diese Begriffe ihrer reichhaltigen Assoziationen entkleiden und sie nur benutzen, um die als Teile des Selbst akzeptierten Elemente von den nicht akzeptierten abzugrenzen, und wir halten diese Zweiteilung für eine schlichte, unkomplizierte Tatsache. Mit jeder der verschiedenen Identitäten geht jedoch eine andere Art einher, die Gesamtheit der Erfahrung zu strukturieren.

      Konzentration auf den „Untergrund“-Typus

      Man könnte all die vielfältigen Muster studieren, die sich aus den verschiedenen Identifikationen für die Erfahrung ergeben, aber wir werden uns hauptsächlich auf die Konsequenzen aus der Struktur konzentrieren, die wir mit dem Untergrundmenschen in Verbindung brachten, in der kein Teil des Selbst akzeptiert wird und die Identität gleichsam ein bloßer Punkt ist.

      Einer der Gründe für diese Entscheidung ist die bereits angedeutete Möglichkeit, dass unsere Kultur die Ausprägung dieses Typus fördert. Tatsache ist aber auch, dass jedem Versuch, die Qualität echter Freiheit einzufangen, immer die Frage im Nacken sitzt: Ist das jetzt genug? Wäre das Zusammentreffen dieser Bedingungen ausreichend, um einen Menschen „wirklich“ frei zu machen? Diesen Typus zu studieren hat den Vorteil, dass im Falle einer vollständigen Dissoziation das Verlangen nach bedingungsloser und totaler Freiheit ans Licht kommt und Form annimmt. Deshalb liegen darin vielleicht Hinweise verborgen, was unter „wirklich frei“ und „absolut unabhängig“ zu verstehen sein könnte.

      Wie sieht also die Psychologie dieser Minimal-Identifikation aus? Ein Merkmal ist offensichtlich grundlegend für diesen Typus: Es dürfte das unausweichliche und nahezu konstante Gefühl herrschen, dass die eigenen Qualitäten und Handlungen alle nur aufgesetzt sind, dass sie keiner tief verwurzelten, soliden Notwendigkeit erwachsen, sondern irgendwie zufällig sind. Man könnte unschwer auch ein ganz anderer sein, man ist lediglich aufgrund einiger zufälliger Umstände in diese statt in irgendeine andere Rolle gefallen.

      Im Untergrundmenschen äußert sich dieses Gefühl der Inauthentizität als Klage, er „habe keine Eigenschaften“, was ihn zu dem Gedanken verleitet, es wäre doch so tröstlich und beruhigend, wenn er wenigstens ein regelrechter Taugenichts wäre oder zumindest eine Säufernase hätte. Ein Taugenichts zu sein würde seiner ganzen Existenz Kontur und Substanz verleihen – es wäre wie ein Beruf. Dieses Gefühl, keine Eigenschaften zu haben oder sie als fremd zu empfinden, so dass sie das Selbst nicht definieren können und es daher leer und farblos erscheinen muss, ist fast wie eine nochmalige Formulierung oder erweiterte Beschreibung dessen, was wir Nicht-Identifikation genannt haben.

      Aber dieser scheinbar simple Grundzug kann eine ganze Reihe von Konsequenzen haben. Nehmen wir zum Beispiel die Bosheit, die Dostojewskij seinem Untergrundmenschen zuschreibt, die Hand in Hand geht mit der Feindseligkeit, die er allen anderen entgegenbringt, und dem Hass, den er auf sich selbst hat. Man könnte diese Merkmale unmittelbar aus dem durch seine Identität erzeugten Freiheitsverständnis ableiten. Denn dieser Typus fühlt sich nur in einer völlig willkürlichen Handlung wirklich frei, wenn also die Handlung weder durch rationale Überlegung noch durch irgendetwas anderes in oder außerhalb von ihm ausgelöst wird. Die Kehrseite davon lässt uns ahnen, wodurch sein Selbsthass genährt wird: Wenn er sich nur in solchen Handlungen frei fühlt, dann muss er mit dem ständigen Gefühl leben, Opfer und Manipulationsobjekt zu sein. Niemand kann eine große Anzahl rein willkürlicher Handlungen ausführen; sie sind von Natur aus ziemlich selten. Die meiste Zeit wird er auf einen Impuls reagieren oder einer rationalen Überlegung gehorchen. Er muss über die Straße gehen und seinen Magen füllen. Und wenn er all das als heimtückischen Zwang empfindet, als etwas, das ihm aufgezwungen wird, etwas, das er nur tut, weil er nicht stark genug ist, ihm zu widerstehen, dann muss er zwangsläufig eine nicht enden wollende Verzweiflung empfinden. Die meisten Leute reagieren schon empfindlich, wenn auch nur kleine Elemente in ihrem Erleben den Unterschied verwischen zwischen dem, was sie wollen, und dem, was offensichtlich äußerlicher Druck ist – wenn sie nicht mehr wissen, ob sie ihrem eigenen Willen folgen oder dem eines anderen. Und doch würde sich diese Konfusion durch das gesamte Erleben dieses Menschen ziehen. Würde eine Situation von ihm die banalsten, natürlichsten Reaktionen verlangen oder würde er ein gewöhnliches, alltägliches Bedürfnis befriedigen, könnte er niemals sagen: „Ja, das habe ich gewollt.“ Die ruhige Abgeklärtheit solch einer bündigen Aussage wäre unerreichbar für ihn. Seine Welt wäre voller verborgener, höhnischer Mächte.

      Auf diese Weise würde seine Feindseligkeit gegenüber allen anderen zu etwas Natürlichem, und so würde sich erklären, warum er seinen Spleen und seine Launenhaftigkeit an jedem auslässt, der ihm in die Finger gerät. Er fühlt sich ständig unter Druck gesetzt. Er sieht sogar hinter dem üblichen Austausch von Höflichkeiten eine Strategie, in der ein Teil seines Wesens von dem Bekannten aktiviert wird, den er grüßt, und der auf diese Art gegen seinen Widerstand eine kleine Nettigkeit aus ihm herauszwingt. Wenn er schon die Kleinigkeiten des sozialen Verkehrs so empfindet, dann gnade ihm Gott in komplizierteren Situationen. Was für eine Menge an Wut und Zorn muss sich, gespeist von einem unaufhörlichen Strom von Demütigungen, in ihm aufstauen. In seinen Augen besitzen alle anderen ein dämonisches Wissen über seine inneren Regungen, wodurch sie ihn immer dazu bringen können, ihren Willen zu tun. Was könnte sie auch daran hindern? Egal, welche Reaktion sie hervorrufen, sie wird nie das sein, was er will, denn jeder Einfluss, jede Ursache, jeder Grund ist eine Einmischung. Solch ein Mensch wird also genau wie der Untergrundmensch sein ganzes Leben lang hinter einem Schreibtisch lauern, um sich auf einen Bittsteller zu stürzen. „Ein einziges Mal jemandem meinen Willen aufzwingen“ – das ist vielleicht sein großer Traum. Er würde sich wie der Untergrundmensch den hochnäsigen, blasierten Schulkameraden von früher aufdrängen, obwohl er weiß, dass sie ihn verachten; und er würde es genau deswegen tun, weil er nicht eingeladen ist, und vor allem: eben weil sie ein Abschiedsessen geben, bei dem er auf groteske Weise fehl am Platz ist. Er wird alles tun, um das Wissen zu ersticken, dass er an einem Nasenring herumgeführt wird, den andere ihm eingehängt haben.

      … Selbsthass …

      Man könnte

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