Скачать книгу

es buchstäblich implodiert und zu einem Punkt schrumpft. Nur ein so reduziertes Selbst könnte „wirklich“ absolut frei sein.

      Freiheit als völlige Unabhängigkeit – eine gesellschaftliche Fata Morgana

      Unser Verständnis des Wunsches nach „absoluter Unab­hängigkeit“ kann nun einen Kritikpunkt in Bezug auf unsere Gesellschaft erhellen. Unserer technisch fortgeschrittenen Kultur wird vorgeworfen, dass sie, vor allem durch den planvollen Einsatz der Massenmedien, eine heimtückischere und raffiniertere Form der Tyrannei darstellt als frühere, blutigere Systeme der Unterdrückung. Gemäß dieser Ansicht – deren prominentester Vertreter vielleicht Herbert Marcuse ist – ließen die weniger verfeinerten, altmodischen Formen der Unterwerfung die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen wild wachsen. Sie mischten sich erst ein, „nachdem“ die Ziele und Neigungen der Menschen Gestalt gewonnen hatten, und da sie so spät kamen, mussten ihre Maßnahmen brutal sein: Bei voll entwickelten Bedürfnissen war es schwer, deren Umsetzung zu verhindern; wenn der Entschluss des Einzelnen mit dem Willen seines Herrn in Konflikt geriet, konnte nur noch schroffe repressive Gewalt Gehorsam sicherstellen.

      Unter den gegenwärtigen Verhältnissen, so behaupten diese Kritiker, sind sogar unsere frühesten und subtilsten Impulse bis hinein in unsere Träume manipuliert, und dadurch ist die Notwendigkeit offener Unterdrückung mit einem eleganten Manöver umgangen. Konflikte können gar nicht mehr entstehen. Warum einem erwachsenen Menschen die Beine abschneiden, wenn man das Wachstum des Kindes so verstümmeln kann, dass es in das Bett des Prokrustes passt? Menschen zur Anpassung zu zwingen ist ineffektiv, wenn man erreichen kann, dass ihr alle zustimmen. Etwas zu verweigern schafft zwangsläufig Widerwillen, und das lässt sich vermeiden, wenn nur nach dem Vorgegebenen und großmütig Zugestandenen gefragt wird. Die alte Tyrannei war erbarmungslos; unter der neuen haben die Untertanen nie einen Wunsch, der nicht in Erfüllung geht. Das macht die Situation des Sklaven nun wirklich hoffnungslos, denn nun rennt sein Wille nicht mehr gegen äußere Wände an, und deshalb klärt ihn nichts mehr über sein Unterdrücktsein auf, nichts mehr gibt ihm einen Maßstab dafür; seine Unterwerfung ist damit absolut. Die Prognose lautet: Dieses Mal werden die Sklaven noch um eine Zugabe klatschen.

      Heutige Industriegesellschaft: Mehr Manipula­tion, weniger Unterdrückung

      An dieser Geschichte ist natürlich etwas Wahres. Die Instrumente der Beeinflussung haben sich vervielfacht, und ihre Effizienz ist verfeinert und analysiert worden. Ich bin nicht sicher, ob sie mächtiger geworden sind – denken wir an die Kirche oder an die Geschlossenheit früher Kulturen –, aber man hat sie isoliert und verfügbar gemacht und in spezifische Werkzeuge verwandelt, die für exakt kalkulierte Zwecke eingesetzt werden können. Vor allem stehen sie in größerem Maß zur Verfügung und können als einsatzbereites Paket vom Meistbietenden eingekauft werden. Die Hersteller von Textilien und Möbeln wählen drei Jahre im Voraus einen bestimmten Grünton aus und bearbeiten dann die Öffentlichkeit, so dass die ihn „topaktuell“ findet, wenn die Waren mit dieser Farbe auf den Markt kommen. Wahlen werden durch einen Schuss von diesem oder jenem „Image“ entschieden, das bei bestimmten Händlern eingekauft werden kann. Unterschwellige Suggestionen sprechen unseren Sexualtrieb an. Aber die Entwicklung dieser Techniken hat nur die Täuschungen vergrößert, die hinter dem Schleier der Freiheit stattfanden. So zu tun, als ob eine Entscheidung allein vom autonomen Individuum getroffen würde, ohne eine Spur von Skepsis immer noch von „freien“ Wahlen zu sprechen, dazu muss man mittlerweile schon ein wenig unverfroren sein. Ohne Zweifel haben große geschichtliche Umwälzungen stattgefunden, und die Spannung zwischen der mystischen Ideologie der Freiheit und den offensichtlichen sozialen Fakten ist so gewachsen, dass der Faden nun reißen muss.

      Aber – der Unterschied ist nichtsdestotrotz krass überzeichnet. Keine Kultur lässt gegenüber der Innenwelt des Menschen die Zügel schleifen und untersagt nur die äußerliche Handlung. Keine Gesellschaft war je wie Marcuses altes System: Keine lehnte sich zurück und wartete, bis die Bedürfnisse und Wünsche sich komplett herausgebildet hatten. Alle fingen sofort nach der Geburt eines Menschen an, ihn zu formen. Das neue System der Unterdrückung ist deshalb nicht radikal neu: den Menschen unmerklich und dennoch unerbittlich zu verbiegen, damit er ins soziale Bett passt, der raffinierte Zaubertrick, bei dem man zuerst Wünsche weckt und dann verkündet: „Schau, wir geben dir, was du selbst verlangt hast, was du gewählt hast“ – das haben alle Gesellschaften immer getan, und es zu vermeiden ist ihnen auch völlig unmöglich.

      Gesellschaftskritik auf Basis des verfehlten Freiheitsbegriffs führt in die Irre

      Wenn die Idee der Freiheit diesen doppelten Boden hat, dann ist das nicht eine Eigenheit unseres technisch fortgeschrittenen Zeitalters, sondern hat tiefere Ursachen: Im Grunde war es immer so. Der Unterschied ist nur ein gradueller. Und hier liegt der Hauptdenkfehler in diesem Vergleich der zwei Herrschaftsweisen: Das wirkliche Problem ist nicht, dass wir die Freiheit wieder nicht erreicht hätten; dass wir uns ihr näher wähnten, als es tatsächlich der Fall war. Die tatsächliche Situation ist ganz anders: Der wirkliche Fehler liegt in dieser Denkweise. Das Bild von Autonomie und Unabhängigkeit, das sie verbreitet, war von vornherein eine Illusion. Ja, die Methoden, mit denen wir heute manipuliert werden, sind vulgärer, aber das bedeutet auch, dass eine Täuschung, die sich früher aufrechterhalten ließ, sich jetzt nicht mehr verbergen lässt. Wir haben deshalb nicht so sehr den Punkt erreicht, an dem die Realität der Freiheit sich endgültig verfinstert, sondern den Punkt, wo sich der Bankrott dieser Idee nicht länger verheimlichen lässt.

      Und das ist die Schlussfolgerung, die diejenigen sich weigern zu ziehen, die den Vorwurf von der neuen, heimtückischeren Tyrannei erheben. Ihre Opposition beruht immer noch auf einer Idee, für die Freiheit die Negation jeglichen Einflusses ist. Sie erkennen nicht, dass die Messlatte, die sie anlegen, nicht etwa überzogen oder utopisch wäre, sondern ein in der Sonne glitzerndes Phantom ist: Sogar, wenn wir dort hingelangten, gäbe es nichts als Sand.

      Es ist das Trügerische dieses anvisierten Zieles, das auch die allgemein resignative Haltung dieser Kritiker hervorbringt. Wenn man nämlich einmal die Vorstellung akzeptiert hat, dass unsere Handlungen und die sozialen Einflüsse sich im Kreis drehen, und man davon „frei“ sein will, dann gibt es keinen Ausweg mehr. Je mehr man freizukommen versucht, desto schneller wird man sich in diesem Strudel drehen. Und hierin liegt das Hinterhältige dieser speziellen Form der Freiheitsidee, denn nicht nur färben sich alle Teile eines sozialen Gefüges auf einförmige und monotone Weise schwarz, wenn jede Form des Einflusses pauschal als Unterdrückung betrachtet wird; daraus muss sich auch eine systematische und buchstäbliche Selbstzerstörung ergeben. Denn wenn jede Schicht des eigenen Selbst, die ein wenig beeinflusst wird, ein „Anderes“ repräsentiert und Gefangenschaft signalisiert, so dass man sich aus ihr zurückziehen muss, so wird Schicht um Schicht aufgegeben werden müssen, bis kein Selbst mehr übrig ist.

      Die Fesseln durchtrennen

      Und doch – dieses Gewirr von Fesseln kann durchschnitten werden. Freiheit ist nicht die Abwesenheit von Beeinflussung, und einem Einfluss ausgesetzt zu sein heißt nicht, zum Sklaven zu werden. Freiheit und Beeinflussung widersprechen sich nur in einem ganz besonderen und darüber hinaus pathologischen Fall. Nur wenn man sich von vornherein „allem“ widersetzt, läuft jeder Einfluss auf Unterdrückung hinaus, und nur dann wird man nur in der Abwesenheit jeglichen Einflusses frei sein. Diese „Definition“ von Freiheit kann also nicht nur zugunsten anderer, stichhaltigerer Denkmodelle zurückgewiesen werden: Diese Sichtweise kann subsumiert werden. Sie kann als der Extremfall erklärt werden, den unsere „Theorie“ vorsieht: Nur wenn man sich weigert, sich mit irgendetwas zu identifizieren, nimmt die Idee der Freiheit diese extreme Bedeutung an – dann aber zwangsläufig. Anders ausgedrückt, ist „Freiheit von Beeinflussung“ keine andere „Bedeutung“ von Freiheit, es ist lediglich ein weiteres Beispiel für unsere frühere Darstellung. Wir können mehr sagen als einfach nur, dass wir etwas anderes unter Freiheit verstehen; wir können sagen: Nur für Untergrundmenschen ist dieses Extrem die Phantasie, die sie von der Freiheit haben.

      Fazit: Freiheit heißt nicht Abwesenheit jeglicher Beeinflussung oder „absolute Unabhängigkeit“

      Noch einmal

Скачать книгу