Скачать книгу

      Vorüberlegungen

      Lassen Sie mich hier, bevor wir darauf antworten, schnell einwerfen, dass die fraglichen Thesen natürlich keineswegs auf Anhieb einleuchtend sind. Warum sollte eine Handlung „frei“ sein, bloß weil sie sich mit der Vernunft deckt? Oder „erzwungen“, weil sie irrational ist? Es ist keineswegs offensichtlich, weshalb solch eine Verbindung existieren sollte, weshalb das Eine auf irgendeine Weise das Andere beeinflussen sollte. Warum sollte es insbesondere unmöglich sein, dass die Gebote der Vernunft uns unterdrücken? Es ist ja ein wesentlicher Teil dieser Auffassung von Freiheit, dass das nicht geschehen kann, dass die Vernunft die Leidenschaften, den Willen und das Verhalten der gesamten Person beherrschen kann ohne das Risiko, dass das in eine Tyrannei umschlägt.

      Wie außergewöhnlich diese Behauptung im Grunde ist, wird klarer, wenn wir uns daran erinnern, dass sowohl Hegel (in seinen frühen Schriften über das Christentum und auch in der Phänomenologie) wie auch Friedrich Schiller genau deshalb gegen Kants Ethik polemisierten, weil Kant auf eindeutigem Gehorsam gegenüber den Imperativen der „praktischen Vernunft“ bestanden hatte – natürlich vor dem Hintergrund der Auffassung, dass man durch diesen Gehorsam gegenüber der Vernunft frei sei. Hegel und Schiller argumentierten beide, dass Kant der Vernunft tyrannische Vollmachten eingeräumt habe; dass er den Menschen in zwei Teile gespalten und den größeren Teil in eine Sklaverei unter der Herrschaft der Vernunft verkauft habe. Weiterhin sagten sie, dass diese Form der Sklaverei besonders niederträchtig sei, weil durch sie der Mensch sich gegen sich selber wende und völlig entwürdigt werde, eine Hälfte Tyrann, die andere Hälfte Sklave.

      „Platonische“

      Freiheit: Vernunft als wahres Selbst

      Aber zurück zu unserer Frage: Welche Erfahrung von Vernunft würde alle meine rationalen Handlungen frei erscheinen lassen? Wieder ist die Antwort nicht schwer. Es ist klar, dass das nur unter einer Bedingung der Fall ist: Ich müsste meine Rationalität (oder, wenn das klarer ist, die Gebote der Rationalität, wenn ich sie auf mich selber anwende) auf eine Art und Weise erleben, die das genaue Gegenteil zu unserem Untergrundmenschen ist – also nicht als unpersönliche Stimme, die mir fremdartige Befehle aufzwingt, sondern als genau das, was am wahrhaftigsten und authentischsten für mich spricht. Durch den Gehorsam gegenüber den Forderungen der Vernunft, wie sie auch aussehen mögen, bin ich nur dann frei, wenn die Vernunft und ich ein und dasselbe sind. Dann ist es offensichtlich unmöglich, dass sie mich unterdrückt.

      Andererseits werden all meine Abweichungen vom Kurs der Vernunft nur unter der Bedingung durch mich erduldete Zwänge sein, dass das, was sie auslöst, irgendwie etwas anderes ist als ich. Alles, was mit der Vernunft nicht im Einklang ist, das gegen sie wettert, muss von mir abgespalten sein, muss etwas sein, das mir im Weg steht und mit dem ich konfrontiert bin. Dann werde ich in all den Fällen, in denen etwas anderes als die Vernunft sich durchsetzt, das Opfer sein.

      These: Jede

      Freiheitsdefinition zieht eine

      bestimmte

      Erfahrungsqualität nach sich

      Die gegenseitige Abhängigkeit zwischen diesem Konzept der Freiheit und dieser strukturellen Aufteilung der Erfahrung ist eine einfache logische Verbindung. Sie wäre sogar dann stichhaltig, wenn niemand jemals diese Idee der Freiheit vertreten hätte. Und sie allein ist für unsere Unternehmung entscheidend. Die Tatsache, dass alle möglichen Variationen dieser Sichtweise in der Geschichte der Philosophie eine Rolle gespielt haben (und man könnte neben Platon, Rousseau, Kant oder Hegel noch andere nennen), und dass sie darüber hinaus einer Bedeutung von Freiheit entspricht, die in der Alltagserfahrung und -sprache häufig auftaucht, macht dieses Beispiel enorm interessant. Aber die sich entwickelnde Hauptargumentation hängt nicht von diesem Punkt ab. Sie befasst sich nur mit dieser Sichtweise als einem allgemeinen Typus. Natürlich erscheint diese Sichtweise in den verschiedenen historischen Philosophien nicht in solch simplen, holzschnittartigen Grundzügen. Aber die Details, wie Platon oder Rousseau („volonté générale“) oder Hegel die Grundzüge dieses „Modells“ gestalteten und modifizierten, wie auf seinem Schachbrettmuster die Kontroversen zwischen „positiver“ und „negativer“ Freiheit, zwischen Freiheit und Willkür ausgetragen wurden, werden wir diskutieren, wenn wir darauf vorbereitet sind. An diese Stelle möchte ich nur ein Beispiel anführen, um anzudeuten, wie viel Erklärungspotential in diesem von uns postulierten Muster steckt.

      Beispiel Platon

      Betrachten wir Platons bekannte Hierarchie der menschlichen Fähigkeiten, in der der Vernunft der höchste Platz zugewiesen wird, weil sie den Menschen über den Rest der Natur hinaushebt und nur ihr umfassender Gebrauch den Menschen wirklich menschlich macht. Hier ist die Vernunft die Quintessenz des Menschlichen; die Emotionen und der Körper gehören definitiv zu einer niedrigeren Ebene. Diese Einstellung gegenüber der Vernunft entspricht ganz klar der Grundannahme, die wir hinter der allgemeinen Auffassung von Freiheit, wie sie in Sokrates’ Paradoxon steckt, selbst schon entdeckt haben. Das könnte man einerseits als eine Art Bestätigung betrachten. Wir argumentierten, dass eine bestimmte Auffassung von der Freiheit eine gewisse Art und Weise voraussetze, wie man die Vernunft erlebt, und nun stellt sich heraus, dass Platon, der bezüglich der Freiheit dieser Auffassung war, auch die entsprechenden Ansichten über die Vernunft vertrat. Es ist ein wenig, als hätten wir eine Vorhersage gemacht, die sich jetzt bewahrheitet. Aber wir könnten es auch als eine Erklärung betrachten, die uns ein tieferes Verständnis Platons liefert. Wir können jetzt sehen, wie zwei scheinbar getrennte Teile seines Denkens zusammenpassen. Dass der Vernunft die Spitzenposition in der Hierarchie der Bestandteile des Menschen zugewiesen wird, steht nun im Zusammenhang mit der These, dass der Mensch nie frei ist, wenn er bewusst eine böse oder irrationale Tat begeht. Diese beiden Behauptungen können nun als Ausdruck ein und derselben grundlegenden Sichtweise betrachtet werden.

      Um den springenden Punkt an der Sache noch zu betonen und zu erhärten, könnten wir ein einfaches Diagramm zu Hilfe nehmen. Der Kern der Argumentation war bis jetzt die These, dass man die Vernunft als sein wahrstes und intimstes Selbst erleben muss, wenn alle rationalen Handlungen frei sein sollen, und dass im Umkehrschluss alle anderen Elemente einer Person, wie etwa Wünsche, Körperliches oder Leidenschaften, als „fernstehend“ erlebt werden müssen, wenn alle durch sie ausgelösten Handlungen als erzwungen gelten sollen.

      Wir können das mit zwei konzentrischen Kreisen darstellen (siehe Diagramm). Zunächst könnten wir einfach sagen, dass dies das Selbstbild, oder besser die Identifikation repräsentiert, die durch diese Auffassung von der Freiheit – von uns bis Platon zurückverfolgt – vorausgesetzt wird.

      Ein drittes Konzept der Freiheit: Aristoteles

      Aber es wartet noch ein drittes Konzept der Freiheit auf uns. Es hat etwas Schlichtes, Hausbackenes. Es besteht aus einem einfachen Stoff ohne schillernde Reflexe und ist für starke Beanspruchung gedacht. Wie die anderen beiden stellt es einen allgemeinen Typus dar, der in einer Vielzahl von Varianten auftritt, die die Umrisse dieses Prototyps bestimmen. Fundamental zieht es die Grenze zwischen dem Freien und dem Erzwungenen da, wo es auf plumpe Weise offensichtlich scheint: Man wird gezwungen, wenn buchstäblich außerhalb der eigenen Person stehende Kräfte eine Handlung veranlassen; man ist frei, wenn das nicht der Fall ist, wenn das, was man tut, von einem selbst kontrolliert oder veranlasst wird. Natürlich ist auch diese holzschnittartige Vorstellung von der Freiheit wieder unzählige Male anzutreffen. Wie ein Hackbeil durchtrennt sie die Gelenke von praktischen, alltäglichen Entscheidungen, ihre Grundzüge werden vor Gericht zur juristischen Beurteilung von Schuld und Unschuld herangezogen, und natürlich könnte man demzufolge ohne Ende literarische und philosophische Belege finden, die sich damit beschäftigen. Einer der ersten und aufschlussreichsten findet sich allerdings bei Aristoteles.

      Aristoteles’

      Definition

Скачать книгу