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sich vielerorts, aber in besonders schlagender Form wieder bei Dostojewskij, diesmal in den Aufzeichnungen aus dem Untergrund4.

      Dieser kleine Beamte hat einen Freund, von dem er sagt: „Schickt sich dieser Herr zu einer Tat an, wird er ihnen sogleich wortreich und eindeutig darlegen, wie er nach den Gesetzen der Vernunft und der Wahrheit vorzugehen habe. Mehr noch: er wird Ihnen eine erregte und leidenschaftliche Rede über die wahren, normalen Interessen des Menschen halten, wird stotternd über die kurzsichtigen Dummköpfe herziehen, die weder ihre Vorteile noch den wahren Wert der Tugend zu erkennen vermögen, und – er kann eine Viertelstunde darauf ohne jede plötzliche äußere Ursache, vielmehr aus innerem Antrieb, der stärker ist als alle vorgetragenen Interessen, ganz anders handeln, das heißt deutlich wider seine eigenen Worte, wider die Gesetze der Vernunft, wider den eigenen Vorteil, kurz, gegen jede bessere Einsicht.“

      In einem Ausbruch der Verzweiflung attackiert Dostojewskijs kleiner Beamter all die „Statistiker, klugen Forscher und Freunde der Menschheit“, all die klugen und berechnenden Systematiker, und schleudert ihren Bemühungen seine einzige, seiner Meinung nach jedoch vernichtende Erwiderung entgegen. All ihre auf Vernunft gegründeten, sorgsam konstruierten Gebäude müssen einstürzen, so behauptet er, denn in ihrer Aufzählung der Ziele und Zwecke, die der Mensch verfolgt, fehlt ein Ziel und Desideratum zwangsläufig. Und ironischerweise ist es das Wichtigste; es ist der „über alles vorteilhafte Vorteil“. Dieses Gut, das „wichtiger und vorteilhafter ist als alle anderen, besteht genau darin, „gegen alle Gesetze zu handeln; das heißt, gegen Vernunft, Ehre, Ruhe und Wohlstand – mit einem Wort gegen alle herrlichen und nützlichen Dinge“, es ist der „eigene ungezwungene freie Wille, die eigene, womöglich ungezügelte Laune, die eigene mitunter bis zum Irrsinn aufgestachelte Phantasie … Woher nehmen all die klugen Denker ihre Weisheit, dass der Mensch ein ‚normales‘, tugendhaftes Wollen nötig habe? Wieso bilden sie sich unerschütterlich ein, er brauche unbedingt einen vernünftigen, vorteilbringenden Willen? Was der Mensch braucht, ist allein das selbständige Wollen, was diese Selbständigkeit auch kostet und wohin sie auch immer führt.“

      Freiheit als völlige Unabhängigkeit …

      Dass eine repräsentative Formulierung dieser Idee von Freiheit nicht in einem klassischen philosophischen Text vorkommt, sondern stattdessen bei einem Romancier wie Dostojewskij gesucht werden muss, sollte uns nicht überraschen. Sogar diejenigen Philosophen, die den Fähigkeiten der Vernunft Grenzen setzen, neigen nicht dazu, Freiheit nur mit solchen Handlungen zu identifizieren, die gegen sie verstoßen. In literarischen Werken jedoch finden sich Varianten dieser Idee ziemlich oft (etwa bei William Blake; oder in André Gides „acte gratuit“, „zweckfreier Handlung“; oder bei D. H. Lawrence). Außerdem, wenn es so etwas wie eine grundlegende erfahrungsmäßige Bedeutung der Idee der Freiheit gibt, dann ist sie von den Ansichten des Mannes im Kellerloch nicht weit entfernt – und eher als eine vorsichtige philosophische Definition neigt natürlich die Literatur dazu, solche archaischen Regungen festzuhalten. Die Idee, völlig ungebunden zu sein, sich keiner wie auch immer gearteten Autorität zu unterwerfen (nicht einmal der der Vernunft), ganz unbeschwert zu handeln – diese Vorstellung scheint der Grunderfahrung der Freiheit ziemlich nahe zu kommen und beinhaltet etwas von ihrer ursprünglichen Anziehungskraft. Und da in allem Reden über Befreiung noch die Erinnerung an diese Erwartung durchscheint, haben wir damit begonnen.

      Die Tragweite dieser Idee der Freiheit lässt sich besser erfassen, wenn die verschiedenen Arten, in denen sie eine äußere Grenze darstellt, ein Maximum, im Detail bestimmt werden:

      … als Verstoß gegen

      die Vernunft …

      Es ist nicht nur so, dass der Mensch in allen seinen unfreien Handlungen wie eine Marionette von den Fäden der Natur- und Vernunftgesetze gelenkt wird – „der verwünschten Gesetze“ –, so dass er eine „Klaviertaste“ ist, gleichgültig, anonym, abhängig, wogegen nur die willkürliche Handlung, die Handlung aus einer Laune heraus, anders ist, weil sie die Möglichkeit der Einzigartigkeit und der Identitätsbildung schafft – wir haben auch das extreme Beharren darauf, dass Freiheit notwendigerweise Verstoß gegen Rationalität heißt. In dieser Hinsicht ähnelt diese Vorstellung dem Standpunkt, den vielleicht ein Sohn im Kampf um seine Unabhängigkeit vom Vater einnimmt. Auch einem Sohn scheint vielleicht bloße „Unabhängigkeit“, die Tatsache, seine eigene Entscheidung zu treffen, nicht ausreichend. Er erlebt „wirkliche“ Freiheit nur, wenn er sich in direkter Opposition zu den Wünschen des Vaters befindet. Es ist, als ob nichts seinen Maßstäben genügen könnte, was zu solch demonstrativer Freiheit nicht taugt. Das ist ein wesentlicher Zug in den Ansichten des Untergrundmenschen, den ohne ihn könnten die „Systeme und Theorien“ nicht zu „Staub zertreten“ werden. Das geschieht nur, weil Freiheit für ihn gerade aus Handlungen besteht, die der Vernunft „zuwiderlaufen“ und weil diese Freiheit der „über alles vorteilhafte Vorteil“ ist.

      … als absoluter Wert an sich

      Diese Idee der Freiheit berührt noch eine andere äußere, nicht zu überschreitende Grenze, wenn er diese Widersetzlichkeit gegen die Vernunft nicht im Namen einer Spontaneität propagiert, die von zu viel Rationalität beschädigt werden könnte, und auch nicht zugunsten einer Emotion oder einer Sensibilität, sondern als absolutes und letztendliches Ziel.

      Dem könnte man hinzufügen, dass das Verstoßen gegen die Rationalität auch noch in anderer Hinsicht eine nicht mehr zu übertreffende Bedingung darstellt: Man könnte schiere Vernunft als letzten und am wenigsten lästigen von allen „Zwängen“ ansehen; sich sogar dagegen zu erheben stellt eine Art Maßstab dar. Wenn eine Handlung weniger ist als frei, bloß weil ein Grund für sie vorhanden ist, was zählt dann noch? Nur eine Handlung, die sich aus dem Nichts materialisiert. Es ist, als könnte es keinen wie auch immer gearteten Kontext geben, als könnte in diesem Sinne eine Handlung nur „frei“ sein im grenzenlosen Akt der Schöpfung – als Gott sprach: Es werde Licht.

      Frage nach dem Lebensgefühl eines solchen Menschen

      Diese Version der Freiheit provoziert offensichtlich zahlreiche Fragen, aber für den Moment wollen wir außer Acht lassen, wie sich dieses Konzept gegenüber anderen, konkurrierenden Behauptungen über die Freiheit irgendwie rechtfertigen ließe oder ob jemand dem Ausleben blindester und störrischster Launenhaftigkeit ernsthaft solch einen herausragenden Wert beimessen würde. Wir werden uns stattdessen auf einen einzigen Punkt konzentrieren: Welche Erfahrung bringt diese Idee der Freiheit mit sich? Was für eine generelle Beziehung zur „Vernunft“ muss jemand haben, wenn dieses Konzept für ihn stimmig sein soll? Anders gesagt, wie muss er seine Gedanken erleben, die ihm in einem bestimmten Fall einen „vernünftigen“ oder „umsichtigen“ Weg suggerieren, wenn das Einschlagen dieses Weges dann „unfrei“ ist, bloßer Gehorsam und Unterwürfigkeit?

      Entfremdete Vernunft

      Die Frage stellen heißt sie beantworten. Die Behauptung des Untergrundmenschen, dass man gegen die Vernunft handeln muss, um frei zu sein, impliziert, dass er seine Rationalität als etwas ihm Fremdes erlebt. Ich meine nicht, dass er buchstäblich glaubt, seine Gedanken seien die eines anderen (das wäre Wahnsinn), aber wenn er sich einem Zwang beugt, wenn er seinen Gedanken gehorcht, dann muss da eine gewisse Distanz existieren, ein Gefühl, dass sie kein intimer Teil seiner Person sind. Seine Vernunft kann ihn nur dann unfrei machen, wenn sie nicht zu seinem eigenen wahren Selbst

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