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Was hat an diesem Punkt die Durchsetzung von Individualität und Freiheit geschwächt und erlaubt, dass der natürliche Drang nach Anpassung sich ungehindert entfaltete?

      Zwiespältige Freiheit

      Es gibt keinen Grund, warum wir von einem Mann, der seiner Pensionierung mit Bangen entgegensieht, nicht sagen sollten, dass er sich vor einer gewissen Freiheit fürchtet, oder nicht von einer Mutter, die sich an ihre Kinder klammert, dass sie an einer Form von Knechtschaft festhält. Diese Krisen sind teilweise deshalb so schmerzlich, weil man entdeckt, dass die Anforderungen des Berufslebens oder der Kindererziehung, die bis dato als Einschränkungen erlebt wurden, vielmehr dem Leben eigentlich Struktur und Zusammenhalt gegeben haben. Das Gefühl der Sinnlosigkeit, die Gereiztheit, weil es keine äußere Instanz mehr gibt, die unsere Dienste verlangt, die ganze Erfahrung, nun „für sich selbst“ leben zu müssen – für nichts außer die Fortsetzung der eigenen Existenz –, all diese Dinge sind die Auswirkungen einer bestimmten Art von Freiheit. Sogar völlig übertrieben wirkende Aussprüche werden plötzlich plausibel, wenn sie in diesen Zusammenhang gerückt werden. Sartre hat gesagt, dass wir „zur Freiheit verurteilt“ sind, und in einem seiner Dramen (Die Fliegen) sagt Orest, dass die Freiheit ihn getroffen habe „wie der Blitz“. Würde man dies von einem Mann sagen, dessen Lebenswerk ihm gerade weggenommen worden ist, würden wir es sofort verstehen.

      Ein letztes Beispiel. Betrachten wir einmal, wie wir für unser Handeln Rückendeckung und Unterstützung bei abstrakten Begriffen suchen. Wir haben die Neigung, „im Namen von irgendetwas“ zu handeln. Wenn nichts Plausibles zur Hand ist, halten wir nach windigen, fragwürdigen Ideen Ausschau; wir werden zu Bannerträgern des Fortschritts, der Aufklärung, der Ordnung, der Vernunft. Es ist, als bräuchten wir etwas, und sei es nur eine abgehalfterte Illusion, dem wir unser Handeln unterordnen können; etwas, das ihm den Anschein eines Instruments geben wird, das einem Zweck dient. Auch die Moral können wir aus dieser Perspektive betrachten und sie uns als eine Art letzter Zuflucht vorstellen: Wenn alles andere versagt, können wir immer noch ihre ehernen Kategorien beschwören und wenigstens im Namen des Guten handeln. Das ganze Phänomen stellt wieder eine neue Taktik dar, mit der wir die Freiheit vermeiden. Dass wir darin so erfinderisch sind und das Bedrohliche einer autonomen, nackten Tat mit solchen Verbrämungen verschleiern, zeigt, wie tief unsere Furcht vor der Freiheit wirklich sitzt.

      Vorgefasste Meinungen, kulturelle „blinde Flecke“

      Die Erkenntnis, dass uns die Freiheit, wie man sie auch definiert, nicht uneingeschränkt willkommen ist, bringt uns der Möglichkeit, sie von Grund auf neu zu überdenken, nur einen Schritt näher. Ein nächster und dennoch vorläufiger Schritt muss sein, ein paar weitere vorgefasste Meinungen zu entkräften.

      Freiheit und Sklaverei

      Wissenschaftliche Methodik verlangt, die Eigenschaft zu isolieren, die man untersucht. Das heißt zum Mindesten, dass man nicht ein Leben, das unfrei, aber auch in anderer Hinsicht unerträglich ist, mit einem vergleichen sollte, das Freiheit und dazu eine Anzahl weiterer Annehmlichkeiten beinhaltet. Schon das kleine Einmaleins der Fairness und der Vernunft erfordert, dass die zwei Lebensformen in jeder anderen Hinsicht zumindest annähernd gleich sind. Wir sollten mit dem Herrn also jemanden vergleichen, der ein leichtes Leben mit ähnlichen Annehmlichkeiten hat, und uns dann fragen, wie viel besser dieses Leben wäre, wenn wir noch Freiheit hinzufügten, und wie viel schlechter, wenn der Rest gleich bliebe und nur die Freiheit weggenommen würde.

      Freiheit und Klosterleben

      Oder wir könnten einen Vergleich mit Mönchen ziehen. In bestimmten strengen Orden fordern die Regeln nicht nur sexuelle Kasteiung, sondern auch in der Ernährung, nahezu ungebrochenes Schweigen, völlige Unterordnung unter Vorgesetzte und strenge Disziplin sogar hinsichtlich der eigenen privaten Gedanken. Ohne Frage gibt es in solch einem Leben noch weniger Freiheit als in dem eines Sklaven, und dennoch ist das Leben von Mönchen zumindest manchmal beeindruckend.

      (Der Einwand, dass Mönche bewusst auf ihre Freiheit verzichten, trifft zunächst auf die Gegenfrage: Wirklich? Wie viele sind ins Kloster eingetreten, weil ihre Eltern ein Gelübde abgelegt haben? Was ist mit den Gefahren in dieser und in der jenseitigen Welt? Aber auf jeden Fall, sogar wenn er die Wahl hätte, und sogar wenn ein Trappisten-Mönch in gewissem Sinn die Freiheit hätte, sein Habit abzulegen – mit demselben Recht könnte man argumentieren, ein Sklave habe das Recht zu rebellieren –, würde das den fraglichen Punkt nur untermauern: Denn genau die Tatsache, dass jemand solch ein Leben wählt und sich dafür entscheidet, auf seine Freiheit zu verzichten, zeigt, dass der Verlust der Freiheit allein das Leben noch nicht zum blanken Horror macht.)

      Dies bringt mehrere Konsequenzen mit sich: zum einen die, dass Sklaverei nicht gleichbedeutend ist mit dem Fehlen von Freiheit. Die beiden Begriffe sind einander nicht polar entgegengesetzt, und die Sklaverei stellt nicht auf einer Skala abnehmender Freiheit den Endpunkt dar. Es ist möglich, noch weniger Freiheit zu besitzen als ein Sklave. Ein Beispiel dafür ist der Mönch. Ein anderes anschauliches Beispiel wäre, dass Sie mich wie einen Hund an einem Pfahl in Ihrem Hof festbinden. Das würde mir mehr Freiheit wegnehmen, als man den meisten Sklaven nimmt – und doch würde es mich nicht zu Ihrem Sklaven machen. Was einen Menschen auf diesen Zustand reduziert, ist der Entzug von anderen Dingen, der viel lähmender und nicht so uneindeutig ist wie das Einschränken seiner Freiheit.

      Die Kehrseite davon ist recht simpel: Wenn jemand nicht dadurch zum Sklaven wird, dass man ihm seine Freiheit wegnimmt, dann wird es auch nicht genügen, ihm die Freiheit zurückzugeben, um seine Entwürdigung zu beenden. Ihn freizulassen ist womöglich der einfachste und kleinste Teil von dem, was an Wiedergutmachung geleistet werden muss.

      Leben in totalitären

      Gesellschaften

      Die Angewohnheit, Herr und Knecht auf der individuellen Ebene nebeneinander zu stellen, findet ihr Gegenstück auf der Ebene der Gesellschaftsformen. Wir halten die schlimmsten Beispiele des Totalitarismus (vor allem unter Hitler und Stalin) neben die besten Vertreter freier Gesellschaften, und wieder siegt die Freiheit kampflos. Der springende Punkt ist wieder derselbe: Der Unterschied zwischen Hitlerdeutschland oder dem stalinistischen Russland auf der einen und der Schweiz oder Schweden auf der anderen Seite besteht nicht so sehr darin, dass die Menschen in den Ersteren „unfrei“ gewesen, in den Letzteren dagegen „frei“ wären. Egal, wie man Freiheit auch immer versteht, gibt es andere und viel größere Unterschiede. Hitlerdeutschland war rassistisch, chauvinistisch, mörderisch, militaristisch, anti-intellektuell und auf Zerstörung aus. Diese Eigenschaften hatten vielleicht mehr mit seinen Gräueln zu tun als lediglich die Abwesenheit von Freiheit, und sie waren es vielleicht, die diese Gesellschaft „totalitär“ gemacht haben. „Totalitär“ ist deswegen nicht einfach das Gegenteil von „frei“. Es hat Gesellschaften gegeben, in denen wenig Freiheit herrschte und die dennoch diese anderen Untugenden nicht praktizierten. Warum nicht die freien Gesellschaften mit diesen vergleichen – zum Beispiel mit den meisten „primitiven“ Gesellschaften, mit Sparta oder dem mittelalterlichen China?

      Kehrseiten des Glaubens an die Freiheit

      Ein anderer stillschweigender Taschenspielertrick zugunsten der Freiheit, genauso routinemäßig angewandt, betrifft Ursache und Wirkung. Im Allgemeinen stimmt jeder zu, wenn man sagt, dass Ideologien und Institutionen in ihrem historischen und sozialen Umfeld beurteilt werden müssen. Wenn wir Religionen beurteilen, beispielsweise den Buddhismus oder den Islam, geschieht das oft mit glänzendem Einfühlungsvermögen. Aber wenn es um die Freiheit geht, sind wir oft einseitig

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