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seines Mitleids. Nur das zu gewähren, was sich mit der eigenen Makellosigkeit vereinbaren lässt, ist zu wenig. Der Großinquisitor bringt ein größeres Opfer, und Jesus steht als Angeklagter da, dem man Halbherzigkeit vorwirft.

      Für diese Tradition lautet der erste Grundsatz, dass wir zwei einander entgegengesetzte Wahlmöglichkeiten haben. Entweder-oder – aber nicht beides. Im Roman macht Iwans Empörung gegen diese grundlegende Prämisse ihn unfähig zu handeln. Er ist zu edelmütig, um der Menschheit zu geben, was sie verlangt, aber auch zu sensibel, um sie mit hehren Idealen zu behelligen. Dass er sich weigert, sich für eine Möglichkeit zu entscheiden, hält ihn in qualvollen Fesseln gefangen. Und demselben Dilemma hat sich eine ganze Reihe von Denkern von Platon bis Sartre (Die schmutzigen Hände) gegenübergesehen.

      Von dieser Weggabelung aus betrachtet, erscheint der Liberalismus wie ein hoffnungsloser Versuch, beides zu erreichen; er verknüpft Glück und Freiheit, Befriedigung und Edelmut, damit man zwischen ihnen nicht wählen muss. Es ist erstaunlich, dass der Liberalismus das als völlig selbstverständlich ansieht, dass er so redet, als habe es nie in Frage gestanden. Aber es gibt dabei zumindest ein Problem, dem man sich stellen muss.

      Zwei Menschenbilder

      Die Entscheidung, vor die uns Iwan stellt, ist einem Denkmuster diametral entgegengesetzt, das während der Aufklärung dominierte und unser Denken immer noch in großem Maß beherrscht: Im Kern lautet es, dass die Mängel der Gesellschaft und der Menschen letztendlich aus der Unterdrückung des Menschen herrühren, aus den verschiedenen Arten und Weisen, in denen er niedergehalten wird. Befreiung ist deshalb die Antwort schlechthin, und die politische Frage lässt sich einfach auf die Frage reduzieren, wie ein Maximum an Freiheit zu gewinnen ist. Man verfährt nach der Grundannahme, dass es für das Maß an Freiheit, das die Einzelperson will (und das für sie gut ist), keine Obergrenze gibt, und man glaubt, dass das Bedürfnis nach Grenzen rein äußerlich ist. Das bedeutet, dass die Gesellschaft sich nur jenes Minimum an Regeln auferlegen sollte, das zum Schutze der Mitmenschen nötig ist, und es bedeutet auch, dass andere Menschen und die Gesellschaft primär als etwas angesehen werden, das Grenzen setzt.

      Dieses Denkmuster zu attackieren stellt nicht nur das Fundament in Frage, auf dem der Liberalismus ruht. Es bedroht das gesamte Spektrum der politischen Diskussion und durchkreuzt auch die große Hoffnung, die die meisten Revolutionen antreibt. Nehmen wir nur einmal die berühmten Schlusszeilen von Trotzkis Literatur und Revolution. Wenn die Revolution gesiegt hat, wird

      Warum hat der Mensch diese Gipfel nicht vorher erreicht? Weil es aktiv verhindert wurde. Wenn er von den Hindernissen einmal befreit ist, wird sein Aufstieg fast von allein geschehen. Die Fähigkeiten steckten von Anfang an in ihm; sie brauchten nur Raum, um sich zu entfalten.

      Diese Sichtweise sieht den Menschen als blockiert an. Sie glaubt, dass sein Edelmut nur freigesetzt zu werden braucht. In Dostojewskijs Parabel treffen wir auf eine andere Sichtweise: eine, die im Menschen eine größere Schwäche und gleichzeitig mehr Böses sieht.

      Die Menschen wollen „Freiheit“ – oder was sonst?

      Wollen die Menschen wirklich frei sein? Beispiele

      Diese beiden Traditionen miteinander in Berührung zu bringen liefert uns keine Lösung, und unser Motiv, es zu tun, zielt auch auf eine andere Art von „Lösung“: nämlich ein paar festsitzende Dogmen über die Freiheit zu lösen, zu erschüttern. Aber die Vorstellung, dass man aus Mitleid Unterwerfung gebietet, könnte uns dennoch als grobe Übertreibung vorkommen. Wir zucken die Achseln. Wir wissen, dass die Menschen im Grunde Freiheit wollen.

      Wirklich?

      Dostojewskij ging es offensichtlich nicht um banale Entscheidungen. Der Großinquisitor sagt, dass es ihm um das Bedürfnis nach Wundern, nach dem Geheimnisvollen und nach Autorität geht; es war der Hunger nach einem Gegenstand der Verehrung, den er zu stillen versuchte. Aber ist dieser Hunger so groß? Ein Gradmesser seiner Intensität ist der schnelle Aufstieg der psychoanalytischen Bewegung. Sogar wenn wir den wissenschaftlichen Wert von Freuds Ideen außer Acht lassen (und die Tatsache ignorieren, dass viele sie dazu benutzt haben, sich zugunsten der Mysterien ihres eigenen Unbewussten aus der Verantwortung zu stehlen); sogar wenn wir nur die Popularität der psychoanalytischen Behandlung ins Auge fassen, bekommen wir eine Ahnung von diesem Hunger. Die bloße Tatsache, dass so viele Menschen es für nötig halten, ihr Leben einer Prüfung zu unterziehen, dass so viele sich gedrängt fühlen, intimste Dinge für eine Beurteilung offenzulegen, und vor allem, dass sie das trotz aller Zweifel und Bedenken tun, beweist die Realität dieses Bedürfnisses zu Genüge.

      Oder nehmen wir den Totalitarismus: Wir wiederholen Formulierungen wie „Menschen brauchen eine Identität“ oder „Menschen müssen sich irgendwie definieren können“ wie geistesabwesend. Und doch sind diese Bedürfnisse so handfest wie die nach Sex oder Nahrung. Um ein Gefühl für ihre Realität und ihre Stärke zu bekommen, muss man sich daran erinnern, wozu Menschen fähig sind – den Hunger, die Strapazen und Frustrationen, die sie für ein „Etikett“, einen „Titel“, einen „Namen“ zu akzeptieren gewillt sind (für einen Anstecker am Revers) –, und wie für jemanden die ganze Tonlage und der ganze Rhythmus seines Lebens sich ändert, wie er plötzlich anders geht, weil es jetzt eine Formulierung oder ein Image gibt, die zu ihm passen.

      Es ist gut möglich, dass die eigene Vorstellung davon, wie Totalitarismus entsteht, auf den Kopf gestellt wird, wenn man einmal konkret über dieses „Bedürfnis nach Identität“ nachgedacht hat. Gewöhnlich stellen wir uns vor, dass zwei gegensätzliche Kräfte am Werk sind: das Verlangen nach Freiheit und zum Beispiel die Angst, hungern zu müssen. Wir denken, dass diese beiden im Konflikt stehen und dass die Freiheit dabei manchmal den Kürzeren zieht. Aber eigentlich geht es oft gar nicht so vor sich. Wenn sich jemand einer stark reglementierten Gruppe anschließt, tut er das oft nicht aus einem wohlüberlegten Entschluss heraus. Da werden nicht zwei Dinge gegeneinander abgewogen. Der Drang geht allein in eine Richtung. Ein Gefühl der Erleichterung stellt sich ein, sogar der Euphorie. Man hat Unabhängigkeit gar nicht gesucht, man hat sich vor der Freiheit gefürchtet.

      Für manche Zusammenhänge akzeptieren wir das als Binsenweisheit. Wenn es um die biederen Bürger der amerikanischen Vorstädte oder um studentische Korporationen geht, braucht uns niemand daran zu erinnern, dass die Menschen im Allgemeinen „nicht auffallen wollen“, „irgendwie dazugehören wollen“, „akzeptiert werden wollen“, dass es für jeden einsamen Wolf ein Rudel gibt. Und doch fließen diese Selbstverständlichkeiten nicht in andere Kontexte ein. Praktisch jede abstrakte politische, philosophische oder moralische Diskussion über Freiheit geht vom Gegenteil aus: dass die Menschen Individualität und Freiheit wollen, dass nur Maßnahmen wie Unterdrückung und Gehirnwäsche diese Wünsche beschneiden können und dass der Mensch rebelliert, wenn man ihm keine Freiheit gewährt. Wieder haben wir dieselbe schizophrene Spaltung, und hier wird sie durch die Semantik verstärkt. Statt rundheraus zu sagen, dass der Mensch keine Freiheit will, sagen wir, dass er ein Gefühl der Solidarität und Gemeinsamkeit braucht oder – im schlimmsten Fall – dass er „konform gehen“, sich „anpassen“ will. Motive, die der Freiheit zuwiderlaufen, werden mit anderen Etiketten versehen, wodurch die Illusion aufrechterhalten werden kann, dass der Drang nach Freiheit uneingeschränkt und absolut ist. Dieses Schubladendenken wird bis ins Extrem verfolgt, so dass sogar historische und theoretische Erklärungsansätze für den modernen Totalitarismus sich streng daran halten. In der Analyse totalitärer Bewegungen lautet die Hauptfrage gewöhnlich: Was hat ein Volk an diesem Punkt dazu gebracht, seine Freiheit aufzugeben und sich einer diktatorischen Herrschaft zu unterwerfen? Aber das ist wahrscheinlich die falsche Frage. Sie geht davon aus, dass es eine natürliche Tendenz hin zur Freiheit gibt und dass die „Erklärung“ für den Totalitarismus im Endeffekt aus einer Liste der Repressalien besteht, die über diese Tendenz siegten.

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