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übungshalber einmal auf die andere Seite hinüberlehnen und ein paar negative Auswirkungen Revue passieren lassen, die der Glaube an die Freiheit vielleicht mit sich gebracht hat.

      Natürlich müsste der Rahmen dafür sehr weit gesteckt sein. Um nur einigermaßen angemessen vorzugehen, müsste man die gesamte Entwicklung der westlichen Kultur im Überblick betrachten und etwa folgendes Bild skizzieren:

      Die westliche oder weiße Zivilisation hatte in der Antike und im Mittelalter keine klar dominierende Stellung. Sie war im Grunde auf die kleine europäische Halbinsel beschränkt und alles in allem nicht weiter entwickelt als die indische oder chinesische oder bestimmte südamerikanische Zivilisationen. Sie übte auch über diese anderen keine politische Hegemonie aus. Eigentlich konnte sie ihre eigene Stellung jahrhundertelang nur unter großen Schwierigkeiten behaupten, und manchmal nicht einmal das, beispielsweise, als sie sich gegen die großen slawischen und muslimischen Vorstöße nicht verteidigen konnte. Der sagenhafte und unvergleichliche Aufstieg des Westens zu überlegener Macht lässt sich natürlich nicht säuberlich datieren, aber allgemein gesprochen ging er einher mit der Entwicklung und sukzessiven Institutionalisierung der Ideale individueller Unabhängigkeit und der Entstehung einer überlegenen Technik und eines Wirtschaftssystems, die sich aus diesen Idealen speisten und sie wiederum verstärkten.

      Soziale Entfremdung

      Daher müsste man vielleicht diese Technik und dieses wirtschaftliche System mit ihren positiven und negativen Seiten zu den langfristigen Konsequenzen des Glaubens an individuelle Freiheit rechnen. Dasselbe würde für viele Phänomene gelten, die heute unter dem Begriff der sozialen Entfremdung zusammengefasst werden. Vor allem sie hängen sehr direkt damit zusammen und sind vielleicht nur die Kehrseite der Medaille: Wenn Individualität über Gebühr gepriesen wird und man auf den Vorrechten der eigenen Privatsphäre und der eigenen individuellen Neigungen besteht – wenn jeder Mensch sich also von einem Zaun von Rechten umgeben sieht –, dann wird man sich zwangsläufig isoliert fühlen. Soziale Entfremdung ist vielleicht ein völlig unvermeidliches Nebenprodukt von „Freiheit“, und die Diskussionen über den heutigen „Verlust des Gemeinschaftsgefühls“ sind reine Larmoyanz ohne die Einsicht, dass Individualität und Gemeinschaft sich tendenziell ausschließen, dass der Spielraum, den das eine gewinnt, dem anderen verloren gehen muss.

      Totalitarismus

      und Krieg

      Man könnte weiterhin argumentieren, dass durch die Betonung der Individualität in der modernen Industriegesellschaft gewisse fundamentale Bedürfnisse vernachlässigt werden, die sich dann nach und nach aufstauen und schließlich die Schranken durchbrechen, die sie bis dahin eingedämmt haben. Einmal außer Kontrolle geraten, feiern sie eine Orgie der sozialen Kohärenz und der interpersonellen Integration. Ein hemmungsloses Gemeinschaftsgefühl überkompensiert die Verzweiflung eines eingezäunten Privatlebens. Also muss vielleicht auch der Totalitarismus in diese Bilanz eingerechnet werden – natürlich nicht einfach nur auf der negativen Seite, sondern in einer Weise, die die weitläufigen kausalen Zusammenhänge darstellt. Und vom Totalitarismus ist es nur ein kleiner Schritt zu den katastrophalen Kriegen, die als partikularistische Konflikte innerhalb des Westens begannen, bevor sie fast die ganze Welt in den Abgrund rissen. Auch sie könnten in dieser Kalkulation auftauchen, und der Erste Weltkrieg nicht weniger als der Zweite. Denn der Erste Weltkrieg wurde, wie viele Forscher gezeigt haben, von genau der großen Klasse Menschen aktiv herbeigesehnt, die von den Idealen der individuellen Freiheit am meisten beeinflusst waren. Der Großteil des europäischen mittelständischen Bürgertums begrüßte euphorisch den Ausbruch dieses Krieges. Wie später beim Totalitarismus sahen sie in ihm eine Chance, ihrer reglementierten, biederen individuellen Existenz zu entkommen; ihre Ungeduld war langsam gestiegen, bis sie sich schließlich mit unerwarteter Gewalt Luft verschaffte.

      Expansion und Zerstörung

      fremder Kulturen

      Und bei diesen Kriegen haben wir die eine Tatsache noch nicht erwähnt, die turmhoch allen ins Auge sticht, die die Angelegenheit als Außenstehende beurteilen: die Tatsache, dass die Idee der individuellen Freiheit organischer Bestandteil einer Kultur war, die solchen Expansionsdrang und solche Expansionsfähigkeit entwickelte, dass sie alle anderen Zivilisationen zerstörte – einige durch Ausrottung, den Rest, indem sie sie verwestlichte.

      Nur „Betriebsunfälle“?

      In diesen Eigenschaften des Westens lediglich „zeitweilige Entgleisungen“ zu sehen, „Betriebsunfälle“, „Kinderkrankheiten“, ist genau die Hauptstrategie, mit der wir diese ganze Beurteilung beschönigen. Was berechtigt uns zu dem Glauben, dass die dunklen Seiten irgendwie weggelassen werden können, dass irgendwann rein das, was man sich von der Freiheit erhoffte und was man mit dieser Idee bezweckte, verwirklicht werden kann – ohne Nebenwirkungen und ohne Verluste an anderer Stelle? Weshalb annehmen, dass die schrecklichen und dämonischen Züge des Westens nur zufällige, momentane Fehler sind? Ihre Wurzeln reichen womöglich genauso tief wie die seiner glänzendsten Leistungen. Vielleicht hängt beides, das Hervorragende und das Abstoßende, gleich eng mit der Idee der Freiheit zusammen.

      Am Ende könnte das einer der Hauptgründe dafür sein, warum andere Menschen dieses Geschenk von uns nur widerwillig annehmen – sie sind nicht gewillt, „Freiheit“ als unverfälschten, „reinen“ Wert an sich anzusehen, sondern sehen, in unserer Version, einen organischen Arm des Westens. Und sie haben Recht. Wenn sie einen Beitrag zu unserer Größe geleistet hat, dann trägt sie auch Verantwortung für unsere Verbrechen. Sie ist nicht unschuldig. Sie hat mitgeholfen, als der Westen zwei Drittel der Menschheit zu Aussätzigen machte.

      Die Geschichte vom einsamen Dorf

      Vielleicht gibt uns eine kleine Geschichte ein paar erste, ungefähre Vorstellungen von dem Weshalb und Wozu dessen, was hier folgen soll:

      Stellen wir uns ein sehr abgelegenes, tadellos ordentliches Dorf vor. Alles ist im rechten Winkel, nichts ragt irgendwie störend hervor. Die Menschen, die es bewohnen, sind viel kultivierter als gewöhnliche Bauern. Vor Hunderten von Jahren haben sie schon sehr leise und melodisch gesprochen, und nun haben sie einen Grad der Verfeinerung erreicht, der nahezu völlige Stille gebietet. Fast ihre gesamte Kommunikation geht mit Hilfe ausgesucht subtiler ritueller Gesten vor sich. Zum Beispiel gibt es mindestens hundert verschiedene Arten, die Augen vor der Sonne zu schützen, und jede davon hat eine eigene Bedeutung.

      Im Zentrum dieses Dorfes steht ein alter strohgedeckter Tempel, und in diesem Tempel hängt ein enormer Gong aus poliertem Messing, so groß wie die Oberfläche eines Teiches. Wenn irgendetwas geschieht, was das ganze Dorf betrifft, wenn der Fluss über die Ufer tritt oder ein Feind die Grenze überschritten hat oder eine Heuschreckenwolke das Land überschattet, dann rennt jemand zum Tempel, und nach Monaten oder manchmal Jahren würdevoller Strenge und Stille ertönt das Dröhnen dieses Gongs. Nach der langen Stille trifft dieser Lärm sie wie ein Schlag. Manche – zugegeben die Kultiviertesten – fallen zu Boden, den Kopf in den Armen bergend. Die Übrigen zittern so, dass sie nicht einmal mehr die Gesten ihrer Taubstummensprache ausführen können, und bei diesem Lärm zu flüstern ist sinnlos. Das macht es jedem sehr schwer herauszufinden, warum der Gong geschlagen worden ist, und so wird das Dorf zur leichten Beute jeder Gefahr und jedes Feindes.

      „Freiheit“ ist nicht der höchste,

      letzte, absolute Wert

      Der Punkt, auf den es ankommt, ist, dass uns der Klang der „Freiheit“ so betäubt wie der Gong jene Bauern. Wenn wir einen gemeinsamen Nenner suchen, etwas, das die vielfältigen Defizite unserer Gesellschaft zusammenfasst, dann hat die Formel, dass wir „unterdrückt“ seien, dieselbe Wirkung wie in unserer Geschichte das Dröhnen des Gongs: Sie füllt unsere Ohren, bis wir keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Wider das bessere Wissen, dass das vielleicht ein Fehlurteil ist, dass es jedenfalls keine zentrale Rolle spielt oder nicht die Diagnose ist, die wir brauchen, beendet diese Formel mit ihrer Wucht sofort die Möglichkeit echten Nachdenkens. Und das Gleiche geschieht, wenn wir wissen wollen, welches Ziel wir uns stecken, in welche Richtung wir gehen sollen. Auch dann sagt uns die Antwort „größere Freiheit“ nichts. Wieder hören wir nur Gedröhn.

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