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kann ich einem anderen zurufen: »Bitte bring mir mal die Vase.« Ohne weitere Erklärung und Diskussion weiß die andere Person, was gemeint ist und wird der Aufforderung nachkommen. Es entsteht eine gemeinsame Welt, die Interaktionen relativ reibungslos ermöglicht.

      Die erkenntnistheoretische Frage: »Was ist eine Vase?« oder der präzise Blick durch die Lupe der Achtsamkeit mit der Frage: »Wie erfahre ich gerade diese Vase?« wird dabei ausgeblendet. Und das mit gutem Grund. Denn diese Fragen würden eine oberflächliche Interaktion zwischen Menschen sofort ins Stocken bringen. Das zeigt, worauf die Alltagsrealität ausgerichtet ist, nämlich nicht auf Erkenntnis, genaue Wahrnehmung oder etwa die Frage nach dem Glück, sondern einzig und allein auf Funktionalität.

      Die zentrale Motivation, die sich im Erschaffen einer gemeinsamen Alltagswelt verbirgt, ist die Frage, wie wir uns als Menschheit im Leben zurechtfinden und überleben können. Nur dazu erschaffen wir in unserem Geist eine kollektive oberflächliche Wirklichkeit mit abgegrenzten, handhabbaren Objekten und verlässlichen funktionalen Zuschreibungen. Dabei ist Funktionalität keinesfalls eine oberflächliche Motivation, sondern entspringt dem Basisbedürfnis nach Sicherheit und Überleben. Zuallererst müssen und wollen wir als menschliche Rasse überleben, dann erst, wenn das gesichert ist, können wir uns um Erkenntnis, um individuelle Erfüllung und Glück oder die Frage nach dem Sinn kümmern. So ist es nur natürlich, dass der menschliche Geist schon von frühester Kindheit an darauf geeicht ist, kollektive Zuschreibungen sich anzueignen und sich in einer einheitlichen »Deutungswelt« zurechtzufinden.

      Es ist eine ungeheure Denkleistung, die sich hier vollzieht und deren Ergebnis uns Menschen ermöglicht, sehr differenziert Objekte zu handhaben und dabei verschiedenste Produkte gemeinsam zu erschaffen und effektiv zusammenzuarbeiten. Dies reicht von der simplen Fertigkeit, gemeinsam einen Tisch zu decken, über die komplexe Zusammenarbeit in einer Firma bis hin zu der Fähigkeit eines Orchesters, gemeinsam eine Symphonie erklingen zu lassen. Ohne die Fähigkeit zu einer gemeinsamen Beschreibung der Welt, die sich in Sprache und der Definition von Objekten ausdrückt, wäre ein solch differenziertes und kunstvolles Zusammenwirken nicht möglich.

      Für den Vorgang einer sozialen Zusammenarbeit hat daher das Erschaffen einer äußeren Welt voller unabhängiger, verlässlicher Objekte einen besonderen Stellenwert. Haben wir jemals infrage gestellt, dass die Realität aus konkreten Elementen besteht, die getrennt von uns existieren? Wahrscheinlich nicht. Und doch ist diese Perspektive keineswegs selbstverständlich. Nach allem, was wir wissen, erfährt sich ein Baby noch nicht als getrennt vom Umfeld und kann noch keine Dinge »erkennen«. Erst durch eine komplexe gedankliche Differenzierungsleistung, die sich über viele Monate der kindlichen Entwicklung hinzieht, entsteht die Fähigkeit, etwas als ein unabhängiges Objekt wahrzunehmen, um es dann im wahrsten Sinne des Wortes auch »be-handeln« zu können (siehe Kapitel 5: Wie die Welt entsteht).

      Und schon wieder klingen diese Sätze nach einer vermeintlichen Objektivität, bei der es Dinge als verlässliche und solide »Bausteine der äußeren Welt« gibt. Tatsächlich ist dies aber eine geistige Konstruktion, also eine bestimmte Sicht auf die sogenannte »äußere Wirklichkeit«. Wir erschaffen eine äußere Welt, die sich aus vielen klar unterscheidbaren Objekten zusammensetzt und können uns dadurch innerhalb dieser soliden Welt bewegen und uns auf die einzelnen Elemente darin beziehen. So entsteht ein hohes Maß an Kontrolle, die es uns erlaubt, eine enorme Effektivität zu entwickeln.

      Solide Objekte können wir bearbeiten und wir können uns darin organisieren. Je verlässlicher etwas wird, desto kontrollierbarer wird es. Es entstehen wiedererkennbare Muster und klare Strukturen, und unsere Fähigkeit, damit umzugehen, wird immer ausgefeilter und schließlich automatisiert. Nicht umsonst hat der Mensch mit seiner geistigen Fähigkeit zur »Objekt-ivierung« Kulturgüter wie Autos oder Symphonien geschaffen, die es vorher auf dieser Welt nicht gab.

      Das macht deutlich, dass Produktivität und Effektivität letztlich keine individuellen Fähigkeiten sind, sondern ihre eigentliche Kraft erst im Zusammenwirken mit anderen Menschen entfalten, die sich auf die gleichen Objekte beziehen. So ist die Alltagsrealität nicht nur eine Welt der Funktionalität und der Effektivität, sie ist auch eine Welt der Verständigung. Ist es nicht wunderbar, wie Menschen ihre Erfahrungen teilen können? Ob in einem komplexen Produktionsprozess beim Herstellen eines Autos, beim Lesen eines Buches oder in einer lockeren Alltagsunterhaltung, überall wo Menschen zusammenwirken, geht dies nur durch die verbindende Kraft der Kommunikation.

      Die Sprache des Menschen nimmt hier sicherlich eine Schlüsselstellung ein. Doch es wäre viel zu kurz gegriffen, nur auf die sprachliche Kompetenz des Menschen zu schauen. Es gibt viele andere Ebenen der Verständigung, die mit der Sprache zusammen erst eine kohärente objekthafte Beschreibung der Wirklichkeit möglich machen, auf die wir uns dann gemeinsam beziehen können. Denken wir an die Mathematik, an Körpersignale, an das Regelwerk im Straßenverkehr oder an ein Notenblatt. Der menschliche Geist hat eine ungeheure Fähigkeit, allgemeingültige vielschichtige Signale zu entwickeln und dadurch Verstehen und soziales Zusammenleben zu bewirken.

      Dadurch, dass die menschliche Verständigung viel differenzierter und komplexer ist als bei Tieren oder Pflanzen, lässt dies eine enorme schöpferische Kreativität zu. Wenn sich zwei Wesen nur in immer gleichen Ritualen verständigen können, wie beim berühmten »Tanz der Bienen«, kann zwar Zusammenarbeit geschehen, aber kaum Entwicklung stattfinden. Erst in einer vielschichtigen, nicht festgelegten Kommunikation herrscht eine Freiheit, in der das soziale Miteinander weiterentwickelt werden kann und ganz neue, komplexere Arten des Zusammenwirkens entstehen können. In Hinblick auf die Fähigkeit der Kommunikation nimmt der Mensch sicherlich eine Ausnahmestellung in der Natur auf diesem Planeten ein.

      Wie die Alltagsrealität uns begrenzt

      So natürlich, notwendig und segensreich das Erschaffen einer gemeinsamen Alltagsrealität für das Überleben, für die Funktionalität, für die Verständigung und das Zusammenwirken ist, so bringt es gleichzeitig mehrere Schwierigkeiten mit sich, denn eine kollektive Deutung der Wirklichkeit birgt nicht nur Chancen, sondern beinhaltet auch Begrenzungen. Diese sind keineswegs individueller Natur, sondern betreffen jeden Menschen, da alle (gesunden) Menschen sich im Laufe ihres Lebens zunächst mit der Konsensustrance einer Alltagsrealität identifizieren.

      Leider werden uns die Begrenzungen der Alltagsrealität und die damit einhergehenden Schwierigkeiten nicht vermittelt, sodass wir typischerweise zunächst denken, dass sie unser persönliches Problem sind, wenn wir darunter leiden. Hier könnte das Wissen um die verschiedenen Bewusstseinsebenen, so wie sie in diesem Buch dargestellt werden, sehr hilfreich sein. Wenn wir nämlich erkennen, dass eine Schwierigkeit nicht ­persönlicher Natur ist, sondern aus einer kollektiven Begrenzung entsteht, werden wir sie nicht mehr fälschlicherweise als persönliche Schwäche oder eigenes Versagen bewerten. So brauchen wir uns nicht mehr in Selbstzweifeln ergehen, sondern haben die Freiheit, uns auf eine kreative Weise mit der eigentlichen Begrenzung auseinanderzusetzen.

      Selbstentfremdung

      Was sind nun die wichtigsten Begrenzungen, die sich naturgemäß aus der Alltagsrealität ergeben? Erinnern wir uns noch mal an die Grundeigenschaften dieser gemeinsamen Wirklichkeit. Sie ist in erster Linie eine Welt der Abstraktion und der Beschreibung – also eine Gedankenwelt. Dadurch entstehen auf der einen Seite solide, »handhabbare«, von uns getrennte Objekte, aber gleichzeitig auch eine Welt der Trennung. Durch die Abstraktion, also das Heraustreten aus der unmittelbaren Erfahrung, erzeugen wir einen künstlichen Abstand zwischen uns als Subjekt und dem, was wir erfahren. Die Wirkung ist ganz automatisch ein Kontaktverlust. Die Unmittelbarkeit der Erfahrung geht verloren und die gedankliche Zuschreibung bestimmt unser Erleben.

      Nur selten ist es uns als erwachsene Person vergönnt, dass das Wunder und die Schönheit eines Vogelgesangs oder die Kostbarkeit einer menschlichen Begegnung durch den Filter unserer Gedankenwelt dringt und uns zuinnerst ergreift. Dabei ist das Wunder und die Schönheit des Lebens in jedem Augenblick anwesend, aber das Gefangensein in der abstrakten Welt unserer Gedanken schottet uns davon ab. Ist es da ein Wunder, dass uns das Leben irgendwann flach und langweilig erscheint? Dass viele Menschen im Laufe ihres Lebens mit Selbstentfremdung

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