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ist von Abstraktionen und Gedankenkonstrukten, die uns helfen, das soziale Leben zu organisieren und zu meistern. Betrachten wir nur allein die Sprache, die es uns ermöglicht, äußerst differenziert den Kontakt zwischen Einzelwesen und Gemeinschaften zu regeln und Verständigung zu bewirken. Dabei beinhaltet die heutige Sprache des Menschen eine ungeheure Abstraktionsleistung. Ursprünglich war die Sprache für den Menschen, wie für viele Tiere, eine unmittelbare Gestaltform. Da wurden Stimmungen in Lauten ausgedrückt: Freude, Wut, Zärtlichkeit oder Angst lassen typische Laute entstehen. Noch heute finden sich in vielen Worten rudimentäre Hinweise auf die ursprüngliche Erfahrungsdimension, aus denen Worte entstanden sind.

      Doch im Laufe der Menschheitsgeschichte haben sich Worte immer mehr verselbstständigt, abstrahiert und differenziert. Je mehr sich Sprache verselbstständigt und von der ursprünglichen Erfahrung entfernt, wird sie zu einer eigenen Wirklichkeit, die das Leben der Menschen nicht nur symbolisch beschreibt, sondern mindestens genauso auch prägt. Es ist sicherlich nicht übertrieben, wenn ich sage, dass der moderne Mensch oft mehr in der Welt von Gedanken und der dazugehörigen Sprache lebt als in unmittelbaren Empfindungen.

      Dabei ist eine Sprache weit mehr als eine symbolhafte Beschreibung von erfahrbarer Wirklichkeit, denn je mehr sich eine Sprache differenziert, desto mehr kreiert sie eine eigene, vorgestellte Welt mit abstrakten Begriffen. Gibt es wirklich den Euro, gibt es Deutschland oder die EU? Gibt es das Amt einer Bundeskanzlerin und was sind Steuern? An diesen Beispielen sieht man sehr deutlich, dass Gedanken und Sprache mehr sind als nur symbolhafte Beschreibungen von Wirklichkeit. Sie erschaffen Wirklichkeit. Je mehr wir Gedankenwirklichkeiten erzeugen und daran glauben, entstehen dadurch neue Realitäten, die auf die Entwicklung der ganzen Gesellschaft und des einzelnen Menschen zurückwirken.

      Selbst wenn eine Person dann beschließen sollte, nicht mehr an die Realität von Euros oder bestimmten Gesetzen zu glauben, wird sie sich nicht so leicht entziehen können, da die kollektive Überzeugung gesellschaftlich genauso real auf uns einwirkt wie unmittelbare Erfahrungen von zum Beispiel Hitze oder Kälte. Tatsächlich werden wir sogar sanktioniert oder zumindest nicht mehr unterstützt, wenn wir kollektiven Gedankenrealitäten nicht entsprechen. Wenn wir zum Beispiel Euros und den Staat als Gedankenkonstrukt entlarven, um dann zu beschließen, keine Steuern mehr zu zahlen, würden wir sehr wahrscheinlich Schwierigkeiten bekommen.

      Noch eines sollten wir uns vergegenwärtigen: Viele Gedanken und Konzepte sind keineswegs neutral oder objektiv, genauso wenig wie die Sprache als symbolhafte Beschreibung der Wirklichkeit. Bereits am Beispiel einer Landkarte, die bei einer Wanderung sehr hilfreich sein kann, sehen wir, dass ihre bildhafte Ausformung eine Bewertung beinhaltet, ja sogar beinhalten muss. Je nachdem, ob es eine Landkarte für Wanderer, Radfahrerinnen oder Autofahrer ist, werden bestimmte Wege und Merkmale herausgestellt und andere bewusst vernachlässigt oder im Hintergrund dargestellt.

      Es gibt keine neutrale Landkarte, sonst müssten wir auf jede Form der Abstraktion verzichten und die Landschaft eins zu eins abfotografieren. Doch selbst eine solche Landkarte wäre das Produkt einer festgelegten Vogelperspektive und damit keineswegs objektiv. Genauso gibt es keine neutrale Beschreibung der Wirklichkeit. Jedes Wort, jede Abstraktion beinhaltet immer auch Meinungen und Bewertungen, die implizit auf uns einwirken.

      Wenn wir zum Beispiel Worte benutzen wie »Frau« oder »Mann«, um einen Menschen zu charakterisieren, dann scheint das eine objektive Beschreibung zu sein. In Wirklichkeit beinhalten diese Begriffe bereits ein Bündel an kollektiven Zuschreibungen und Wertungen, die selbstwirksam sind und auf jede Frau und jeden Mann einwirken. Wenn man sich zum Beispiel als »Frau« in Deutschland auf eine Stelle bewirbt, hat man in Summe weniger Chancen und wird schlechter bezahlt. Auch an diesem Beispiel kann man sehen, wie stark Gedankenrealitäten unser konkretes alltägliches Leben steuern und prägen.

      Wie wir eine äußere Wirklichkeit erschaffen

      Ist uns das bewusst? Meistens nicht. Wir beziehen uns im Alltag auf Beschreibungen wie »Mann« oder »Frau« und glauben, uns damit ganz nah an der »Wirklichkeit« zu bewegen, ohne dass wir uns darüber im Klaren sind, wie wir mit diesen Begriffen »Wirklichkeit« kreieren. Meistens sind wir davon überzeugt, dass wir die Dinge korrekt und neutral – also objektiv – sehen und merken nicht, dass wir uns in der Regel nur auf bestimmte Zuschreibungen beziehen. Die unmittelbare Erfahrung von Objekten wird dabei typischerweise ausgeblendet oder tritt in den Hintergrund.

      Wenn wir zum Beispiel im Alltagsbewusstsein auf eine Vase schauen, erfahren wir sie normalerweise aus dem Blickwinkel ihrer Funktion oder ihrer Gefälligkeit. Beide Kategorien – die Funktionalität und die ästhetische Bewertung – sind gedankliche Zuschreibungen, die uns die unmittelbare Sicht verstellen. Daher sehen wir im Alltagsbewusstsein nicht die Dinge, so wie sie in unserer unmittelbaren Erfahrung auftauchen, sondern wir sehen die Dinge aus der Perspektive der Funktionalität und überlagern sie mit Zuschreibungen und Bedeutungen, die wir ihnen unbewusst geben.

      Das macht für das alltägliche Leben einen großen Sinn, da die Dinge für uns dann handhabbar werden. Wir wissen um die Funktion einer Vase und können sie benützen. Wir erkennen in einem Menschen eine »Kollegin« und können uns entsprechend im Kontakt angemessen verhalten. So begegnen wir nicht den Dingen selbst, sondern betrachten jeden Gegenstand, jede Erfahrung und jedes lebendige Wesen in ihrem Kontext, ihrer Funktionalität und der Bedeutung, die sich daraus ergibt. Aus diesem Grund wird die Alltagsrealität auch als »äußere Wirklichkeit« bezeichnet. Sie ist eine Perspektive, bei der wir von außen auf die Dinge schauen und diese Abstraktion eine gewisse Objektivierung erlaubt. Aus diesem Abstand heraus lassen sich die Dinge und Situationen handhaben und entsprechend ihrer Funktion sinnvoll gestalten.

      Doch ist es wirklich objektiv, wenn wir eine Vase als Gefäß für Blumen erkennen? Ist es »real«, wenn wir einen Menschen als »von uns unabhängiges Wesen« behandeln? Oder sind dies nur geistige Reflexionen bestimmter Sichtweisen, die tief in uns verankert sind und uns helfen, uns in der Welt zurechtzufinden?

      Dabei sind diese Zuschreibungen, die wir den Situationen und Objekten überstülpen, weit mehr als persönliche Wertungen und Vorstellungen. Tatsächlich sind viele davon kollektive Deutungsmuster, durch die wir die Welt wie durch eine generalisierte Brille sehen. Eine Vase wird in dieser Kultur von allen Menschen als Gefäß für Blumen erkannt und benützt, und die kollektive Vorstellung eines Menschen beruht immer auf der Idee eines unabhängigen Wesens. Auf diese Weise werden die Deutungsmuster der Alltagsrealität zu einer kollektiven Hypnose. In der Transpersonalen Psychologie spricht man daher von der Alltagsrealität als »Konsensustrance«.

      Dadurch, dass die meisten Zuschreibungen der Alltagsrealität kollektive Deutungsmuster sind, werden sie durch jede normale Handlung und jede alltägliche Konversation bestätigt. Die Vielschichtigkeit der inneren unmittelbaren Erfahrungen weicht dem Diktat einer oberflächlichen allgemeingültigen Zuschreibung, die uns eine Wirklichkeit vermittelt, die für alle gleich erscheint, da sie von den meisten Menschen auf die gleiche Weise gedeutet wird. So entsteht das Gefühl einer verlässlichen, objektiven Welt, in der wir alle leben und welche wir kollektiv auf die gleiche Weise wahrnehmen.

      Doch erfahren wir wirklich eine Vase oder einen Menschen auf die gleiche Weise wie andere Personen, die diese Vase anfassen oder diesem Menschen begegnen? Oder schauen wir in der Regel nur gemeinsam durch die kollektive Brille bestimmter Interpretationsmuster, die uns die Illusion einer beständigen, äußeren Welt mit eindeutig definierten Objekten vorgaukelt? Je genauer wir die Erfahrung von einzelnen Menschen betrachten, desto vielschichtiger und individueller wird sie. Doch solange wir uns auf der Oberfläche einer kollektiven Alltagsdeutung bewegen, scheinen wir alle in der gleichen Welt zu leben.

      Die Fähigkeit der Zusammenarbeit

      In der gleichen Welt zu leben – oder anders gesagt: eine gemeinsame Welt zu konstruieren –, hat immense Vorteile für das soziale Zusammenleben. Wir können »Vase« sagen und wissen, was mit Vase gemeint ist. Unabhängig von der tatsächlichen individuellen Empfindung, die beim Einzelnen im Kontakt mit der Vase auftaucht, entsteht durch die kollektive Zuschreibung ein gemeinsames und verlässliches Objekt,

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