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zu konstruieren, richtet sich aber nicht nur nach außen, sondern auch auf uns selbst. So wie wir eine handhabbare äußere Wirklichkeit erschaffen, konstruieren wir parallel dazu eine Ich-Identität, die unsere Innenwelt strukturiert. Sie ist genauso ein Teil der Bewusstseinsebene der Alltagsrealität und wird ebenso wenig hinterfragt wie die Muster und Zuschreibungen, die unsere Sinneswahrnehmungen überlagern und eine kohärente äußere Welt erzeugen.

      In beiden Fällen ist die grundlegende Motivation die gleiche: Wir müssen den komplexen und chaotischen Dschungel aus Sinneswahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken, dem wir ausgesetzt sind, bändigen und strukturieren. Erst dadurch kann eine Ordnung entstehen, die uns Halt und Sicherheit vermittelt und eine gewisse Orientierung und Kontrolle ermöglicht. Zu keinem anderen Zweck bilden wir in den ersten Jahren unseres Lebens ein Ich aus, das dann zeitlebens im Mittelpunkt unserer persönlichen Welt steht.

      Wie bedeutsam die Ich-Identität ist, können wir nur ermessen, wenn wir uns bewusst machen, dass sie das Zentrum unserer Innenwelt darstellt. Solange wir uns auf der Bewusstseinsebene der Alltagsrealität bewegen, wird jede Erfahrung mit dem Ich in Beziehung gesetzt. Die Erfahrung zum Beispiel des Gehens oder des Hörens wird automatisch dem Ich zugeschrieben. Folglich denken wir »ich gehe« und »ich höre«. Obwohl normalerweise die Funktion des Gehens vollkommen automatisiert abläuft und das Hören ohnehin eine Fähigkeit des Körpers ist, die wir weder herstellen noch abschalten können, werden beide Erfahrungen mit dem Ich verknüpft. Mehr noch: Sie werden regelrecht von der Ich-Identität okkupiert.

      Umgekehrt werden viele Sinneseindrücke, die im Grunde genauso Teil unserer Innenwelt sind wie die Erfahrung des Gehens, nach außen projiziert und bestärken auf diese Weise im negativen Sinne das Ich. Wir sehen einen Vogel und denken: »Dieser Vogel ist ein äußeres Objekt. Das bin ich nicht.« Jedes Element, das ich nicht bin, bestätigt indirekt den Bereich, der ich bin. Es entsteht eine Innenwelt, mit der ich mich identifiziere, und eine Außenwelt, die von mir getrennt ist. Dabei sind die Worte »Innenwelt« und »Außenwelt« keinesfalls so klar definiert, wie sie im ersten Moment erscheinen, denn, wie wir noch sehen werden, gibt es durchaus viele Dinge im Außen, wie zum Beispiel unser Besitz, mit dem wir genauso identifiziert sind wie mit unserem Körper.

      Woraus besteht nun die Ich-Identität? Zunächst einmal bezieht sich das Wort »Ich« auf uns als erfahrendes Subjekt. Es weist damit auf die grundlegende Fähigkeit hin, sich jeder inneren und äußeren Erfahrung bewusst werden zu können. Doch meinen wir das Zeugen-Bewusstsein, wenn wir von »Ich« sprechen? In der Regel nicht. Meistens ist für uns das »Ich« vielmehr ein klar umrissenes Objekt mit einer menschlichen Gestalt, bestimmten Eigenschaften und jeder Menge Zuordnungen. Wir müssen also streng genommen unterscheiden zwischen dem Ich als reines Zeugen-Bewusstsein und der Ich-Identität, die ein Konglomerat an gedanklichen Zuschreibungen ist, die das Subjekt »Ich« als ein festumrissenes Objekt erscheinen lassen. Im Alltag unterscheidet kein Mensch zwischen Ich als Zeugen-Bewusstsein und der Ich-Identität. Wir sagen hier »Ich« und meinen damit die Konzepte, die unserem Ich eine konkrete Gestalt geben – also die Ich-Identität.

      Wir werden damit genauso zu einem handhabbaren Objekt mit klaren Konturen wie die Objekte der äußeren Welt. Das aber ist die Voraussetzung für Funktionalität und für Zusammenarbeit mit anderen Menschen. Betrachten wir nur alleine einmal unseren Namen. Wie hilfreich ist er im sozialen Miteinander? Ohne einen Namen könnten wir nicht angesprochen und in unserer Individualität bestätigt werden. Verwechslungen wären gang und gäbe. Doch so praktisch ein Name für das Zusammenleben ist, ist er doch viel mehr für uns als ein Hilfskonstrukt. Tatsächlich identifizieren wir uns vollständig mit unserem Namen. Er wird zu einer wichtigen Facette unserer Ich-Identität.

      Was wir am Beispiel des Namens sehen können (dass wir uns mit einem hilfreichen geistigen Konstrukt, das uns zunächst Orientierung gibt, identifizieren), gilt auch für alle anderen Zuschreibungen, mit denen wir das Ich aufladen. Mit der Zeit mutieren immer mehr Hilfsmuster zu scheinbaren Wahrheiten, die dann unser Ich-Erleben bestimmen. Genau diesen Vorgang der Identifizierung mit Hilfskonzepten nennt man das Ego. Geistige Muster, die uns zunächst helfen, die Welt zu strukturieren, rasten ein und wir fixieren uns auf eine Ich-Identität mit festgelegten Eigenschaften.

      Um es noch mal ganz deutlich auszudrücken: Wir brauchen Muster der verschiedensten Art, um in der Welt zu überleben und zu funktionieren. Ebenso brauchen wir die Fähigkeit, uns als Objekt – also mit einer Ich-Identität – zu erschaffen, um als soziales Wesen agieren zu können. Diese Fähigkeit, durch geistige Muster eine Alltagsrealität mit einer Ich-Identität zu bilden, nennt man das »Funktionale Ich«. Diese Ich-Funktion ist natürlich und Voraussetzung für einen gesunden Geist.

      Die Identifikation mit diesen Mustern brauchen wir jedoch nicht. Im Gegenteil führen geistige Muster, die wir immer mehr mit der Wirklichkeit verwechseln, zu verschiedenen Formen des Leidens. Wir müssen somit zwischen dem »Funktionalen Ich« und dem »Ego« – also dem Prozess der Identifizierung – unterscheiden. Das eine ist notwendig und natürlich, das andere nicht. Das wird sehr deutlich, wenn wir im Folgenden die wesentlichen Bereiche betrachten, aus denen sich die Ich-Identität zusammensetzt.

      Der Körper

      Da ist zunächst unser Körper, der dem Ich eine erfahrbare Gestalt gibt. Wenn wir auf das Ich mit dem Finger zeigen würden, würden wir auf unseren Körper zeigen. Tatsächlich ist die Identifizierung mit dem Körper so tief, dass wir sie niemals infrage stellen. Doch sind wir wirklich unser Körper? Wie stark verändert sich doch unser Körper im Laufe unseres Lebens? Manchmal verlieren wir sogar Teile des Körpers, wie die Haare, oder das Augenlicht, oder wir tauschen Organe aus, wie die Nieren oder das Herz. Trotzdem wird die Identifikation mit dem Körper beibehalten. Das lässt sich deutlich daran erkennen, dass wir darunter leiden, wenn wir unser jugendliches Aussehen oder unsere körperliche Vitalität verlieren.

      Die Selbstbilder

      So wie uns der Körper eine äußere Gestalt verleiht, geben uns Selbstbilder eine innere Gestalt. Es gibt viele grundlegende Eigenschaften und Selbstkonzepte, die wir mit uns verbinden. »Ich bin unscheinbar« oder das Gegenteil »Ich falle immer auf«, »Ich bin schön« oder »Ich bin unattraktiv,« »Ich bin wild« oder »Ich bin sanftmütig«. »Ich bin stark und durchsetzungsfähig« oder »Ich bin schwach und kann nicht ›Nein‹ sagen«. Jede Person bildet im Laufe ihres Lebens individuelle Selbstkonzepte aus, die eine innere Matrix darstellen, nach denen sie sich dann unbewusst verhält.

      Doch wie entstehen diese Selbstbilder? Mit jeder Erfahrung, die wir im Laufe unseres Lebens machen, lernen wir etwas darüber, wie wir uns verhalten und welche grundlegenden Eigenschaften wir als Person haben. Dabei ist letztlich nicht die Erfahrung selbst das entscheidende Kriterium, sondern wie wir die Erfahrung verarbeiten und interpretieren. Das Selbstkonzept bildet sich immer aus der Interpretation zu einer bestimmten Erfahrung, niemals aus der Erfahrung selbst. Daher kann es sein, dass eine Person aus traumatischen Erfahrungen zutiefst verstört hervorgeht und das Selbstbild eines Opfers entwickelt, und eine andere Person eine ähnliche Erfahrung völlig anders interpretiert und in großer Dankbarkeit ihr Leben fortsetzen kann.

      Die Geschichte

      Da sich Selbstbilder aus der Verarbeitung unserer Erfahrungen zusammensetzen, stehen sie in engem Zusammenhang mit unserer Geschichte. Auch unsere Geschichte ist ein zentraler Bestandteil der Ich-Identität. So wie der Körper dem Ich eine konkrete Gestalt gibt, so verleiht die Geschichte unserem Ich das Gefühl von Kontinuität. Die Geschichte ist eine Art innere Erzählung, die wir uns und anderen immer wieder »vorbeten« und mit deren Hilfe wir unsere Selbstbilder erklären.

      Doch stimmt diese Erzählung wirklich? Welche Aspekte früherer Erfahrungen greifen wir heraus und betonen sie immer und immer wieder, und wie viele Erfahrungen haben wir vergessen? Sind die Erfahrungen wirklich so geschehen, wie wir sie erzählen, oder ist unsere Erzählung nur ein Spiegel unserer persönlichen Verarbeitung und damit eine Interpretation? Gibt es nicht auch Aspekte unserer Geschichte, die gar nicht auf eigener Erfahrung beruhen, sondern uns von unseren Eltern erzählt wurden und daher lediglich ihre persönliche Perspektive auf frühere Ereignisse darstellen?

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