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zu vergleichen. Betrachten wir zum Beispiel einen Menschen, der sich durch einen Autounfall im Schock befindet, dann sehen wir, dass sich diese Person höchst ungewöhnlich fühlt und verhält.

      Obwohl sie starke Verletzungen hat, spürt sie keine Schmerzen. Doch nicht nur Schmerzen fühlt sie nicht, sie hat überhaupt keine Empfindungen im Körper und keine Gefühle. Der ganze körperlich-seelische Bereich befindet sich in einer außergewöhnlichen Taubheit. Entsprechend verhält sich eine solche Person trotz starker Verletzungen so, als wäre sie unversehrt. Nicht selten kommt es vor, dass sie zu den Sanitätern sagt: »Mir geht es gut. Ich gehe jetzt nach Hause«, obwohl sie blutüberströmt daliegt und vollkommen desorientiert ist.

      Offensichtlich fühlt und verhält sich eine Person im Schock vollkommen anders als normalerweise. Wichtige Parameter, um eine Situation korrekt einzuschätzen, wie Körperempfindungen, Gefühle, Erinnerungen und geistige Zuordnungen, fehlen ihr in diesem Zustand. Das natürliche geistige Potenzial von Spüren, Denken, Erinnern, Vergleichen und Abschätzen, das ihr selbstverständlich im Alltag zur Verfügung steht, ist hier nicht oder nur stark eingeschränkt zugänglich. Gleichzeitig gibt ihr dieses geistige »Notprogramm« die Möglichkeit, trotz starker Verletzungen nicht von den Schmerzen und der Situation überwältigt zu werden und entsprechend eine gewisse Zeit empfindungslos agieren zu können. Es ist ein Überlebensmechanismus, der bei starken Verletzungen hilft, diese Extremsituation zu überstehen. Doch unabhängig vom ­biologischen Sinn eines Schockzustandes für das Überleben eines Menschen können wir feststellen, dass sich eine Person im Schock komplett verändert und sich verhält, als wäre sie ein vollkommen anderer Mensch. Sie befindet sich urplötzlich in einer anderen inneren Welt, in der es keine Empfindungen gibt.

      Besonders tragisch wird dieses Phänomen, wenn eine Person aufgrund eines körperlichen oder seelischen Traumas in einen Schockzustand von emotionaler Taubheit fällt und dieser Bewusstseinszustand chronisch wird. Die Gefühllosigkeit wird zum Dauerzustand und die Unerreichbarkeit – ein Gefühl von »weit weg sein« oder von »abgeschnitten sein« – führt dazu, dass die Person keine Nähe mehr zu nahen Menschen, zu sich selbst oder zum Leben überhaupt empfinden kann.

      Diese innere Unerreichbarkeit ist für Angehörige oft unverständlich und kann bei ihnen eine große Irritation hervorrufen. Manchmal spüren sie sogar einen Verlust, als ob sie den geliebten Menschen verloren hätten. Sie fühlen deutlich, dass die Person nicht mehr die »gleiche« ist und versuchen meist verzweifelt, dem »alten«, vertrauten Menschen wieder nahezukommen. Doch solange sich die traumatisierte Person im Bewusstseinszustand einer seelischen Taubheit befindet, haben die Angehörigen keine Chance. Erst wenn sie, vielleicht durch eine Psychotherapie unterstützt, wieder einen natürlichen Zugang zu ihren Gefühlen bekommt, kann sie wieder in einen Bewusstseinszustand zurückfinden, der ihr die seelische Nähe mit ihren Angehörigen ermöglicht.

      Bewusstseinszustände bestimmen und verändern uns völlig. Das geht so weit, dass wir uns in unterschiedlichen Bewusstseinszuständen verhalten, als wären wir eine andere Person. In gewissem Sinne agieren wir nicht nur wie eine andere Person, wir sind es. Die Art, wie wir wahrnehmen, was wir denken, ob und welchen Zugang wir zu unseren Gefühlen haben, kann sich radikal verändern, wenn wir den Bewusstseinszustand wechseln.

      Ein alltägliches Beispiel dafür ist der Alkoholkonsum. Wie stark verändern wir uns, wenn wir Alkohol zu uns genommen haben? Die anfängliche Gelöstheit und Entspannung weichen bei zunehmendem ­Alkoholspiegel einer Enthemmung, bei der wir impulsiv und ungefiltert unseren Gefühlen und Meinungen freien Lauf lassen. Mit der Kontrolle schwinden jedoch auch unsere geistige Klarheit und die Sensibilität für unsere Umwelt. Wir werden regelrecht zu Egomanen. Unsere Stimme wird lauter, vielleicht schreien und grölen wir sogar herum. Dabei haben wir selbst das Gefühl, dass es ein Ausdruck von Lebensfreude ist. Wir sind uns dabei aber nicht bewusst, dass wir Nachbarn damit stören könnten, und im Grunde ist uns das in diesem Zustand auch egal. Auf unser Umfeld wirkt unser enthemmtes Verhalten keinesfalls freudvoll, sondern erzeugt eine bedrohliche Wirkung. Und das zu Recht. Schließlich kann die Enthemmung jederzeit dazu führen, dass das Gefühl der Lebensfreude in Aggression umkippt.

      Am Beispiel Alkohol sehen wir, dass aus einem Menschen, der normalerweise vielleicht ein großes Verantwortungsbewusstsein für sein Verhalten und sein Umfeld an den Tag legt, plötzlich ein Egomane werden kann. Er wird offensichtlich im Rausch zu einem anderen Menschen. Aus der Suchtforschung wissen wir, dass eine Person, die regelmäßig Alkohol zu sich nimmt, nicht nur im akuten Zustand des Rausches ihre Persönlichkeit verändert, sondern mit der Zeit eine sogenannte »Suchtpersönlichkeit« entwickelt. Das bedeutet, dass sich die innere Veränderung, die mit dem Alkoholkonsum einhergeht, nicht nur im betrunkenen Zustand zeigt, sondern zu einem dauerhaften Charakterzug wird.

      Viele Rollen und die Frage nach der Identität

      Was wir bei ungewöhnlichen Bewusstseinszuständen wie dem Schock oder dem Rauschzustand beobachten können, nämlich dass die Person sich vollkommen verändert und mal kürzer, mal länger zu einer anderen Person mutiert, lässt sich genauso in weniger »extremen« Lebensumständen beobachten. Da verhält sich eine selbstsicher auftretende Geschäftsfrau in ihrer Partnerschaft unsicher und abhängig. Da wird öffentlich bekannt, dass ein angesehener Stadtrat, der sich jahrelang für die Belange von anderen Menschen in der Gemeinde eingesetzt hat, gleichzeitig, gierig nur auf den eigenen Vorteil bedacht, den Staat um große Summen Steuern betrogen hat. Wenn diese Menschen äußerlich nicht in den verschiedenen Situationen den gleichen Körper hätten, würde niemand auf die Idee kommen, dass es sich um die gleiche Person handeln könnte.

      Kennen wir nicht alle Beispiele von Menschen, die plötzlich eine Verhaltensweise an den Tag legen, die wir ihnen nie zugetraut hätten? Und wie oft hat uns bereits schockiert, wenn menschliche Abgründe bei scheinbar »normalen« und gut integrierten Menschen nach außen hin sichtbar wurden? Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eingestehen, dass es diese Widersprüche auch in unserem eigenen Leben gibt. Verhalten wir uns nicht immer wieder in verschiedenen Umgebungen sehr unterschiedlich? Und müssen wir nicht manchmal verschämt zugeben, dass wir nicht wissen, was uns gerade »geritten« hat?

      Meistens nehmen wir diese Widersprüche zwar wahr und sind davon irritiert oder empören uns sogar darüber, wenn es andere Menschen betrifft, aber wir betrachten sie nicht genauer. Dann würden wir nämlich sehen, dass es nicht die Ausnahme ist, dass Menschen sich wie unterschiedliche Personen verhalten, sondern die Regel. Natürlich sind die Widersprüche oft nicht so krass wie bei extremen Bewusstseinszuständen durch Schock oder Alkohol. Aber im Kleinen sind sie im Alltag deutlich wahrnehmbar.

      Die Wirkung auf uns ist in jedem Fall die gleiche: Der jeweilige Bewusstseinszustand – ob extrem oder nicht – färbt unsere Sinne, unsere Selbstwahrnehmung, unsere Gedanken, unsere Gefühle und unser Verhalten ein. Bewusstseinszustände wirken damit wie hypnotische Trancen, die unsere Aufmerksamkeit auf eine bestimmte innere Erlebenswelt fixieren und gleichzeitig Potenziale, die uns in anderen Zuständen zugänglich sind, ausklammern.

      Das Irritierende dabei ist, dass wir vordergründig nicht die Bewusstseinszustände sehen, in denen sich eine Person befindet, sondern weiterhin ihre äußere gewohnte Erscheinung. Nach außen scheint es immer die gleiche Person zu sein, die sich so unterschiedlich verhält. Doch das, was sie von innen her ausmacht – der jeweilige Bewusstseinszustand –, wirkt unsichtbar im Hintergrund. Könnten wir den Bewusstseinszustand sehen, der eine Person gerade bestimmt, und könnten wir sehen, wie Menschen Bewusstseinszustände wechseln, dann würde es uns nicht überraschen, dass sie sich nach außen plötzlich anders verhalten.

      An dieser Stelle kann man sich natürlich fragen, was nun eine Person definiert: Ist es die äußere Erscheinung des Körpers, durch den das Lebendige einer Person wirkt? Oder ist es das lebendige Wirken eines Menschen, das durch den jeweiligen Bewusstseinszustand geprägt wird? Aus der gängigen Perspektive unserer Gesellschaft definieren wir den Menschen durch seine äußere Form und sind dann verwundert, wenn er sich plötzlich stark verändert oder sich widersprüchlich verhält. Wir könnten jedoch auch einen anderen Blickwinkel einnehmen und auf das Lebendige schauen, das durch einen Menschen zum Ausdruck kommt. Nicht der Körper

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