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war. Hier erfuhr ich mich als zutiefst heil und konnte einen zeitlosen Frieden schmecken. Jetzt stand dies alles infrage. Wie konnte es sein, dass ich mich so getäuscht hatte und unbeachtet meines inneren Friedens starke seelische Schattenanteile in mir schlummerten, die bei nächster Gelegenheit dämonengleich ausbrachen und über mich herfielen? War der innere Friede, den ich jahrelang erfuhr, eine Illusion? War vielleicht sogar mein Meditationsweg ein einziger Irrweg? Eine Flucht vor dem Leben und den Gefühlen?

      Aber nein. Das konnte auch nicht stimmen. Denn in der Lebenskrise, in all den aufwühlenden Gefühlen und mitten in der schwierigen äußeren Situation, hatte ich weiterhin einen Zugang zur Stille. Es gab weiterhin Momente von großer Freiheit und tiefem Frieden. Momente, in denen alles zutiefst in Ordnung war, obwohl mein Leben äußerlich wie innerlich offensichtlich in tiefster Unordnung war.

      Mit der Zeit erkannte ich zunehmend, dass sich der Widerspruch zwischen meiner aufgewühlten Gefühlswelt und der Dimension des Friedens dadurch ergab, dass es sich um zwei verschiedene Lebenswelten handelte, die nebeneinander in meinem Menschsein existierten. Wenn ich den Gefühlen und der äußeren schwierigen Situation meine Aufmerksamkeit schenkte, hatte ich mit starken Emotionen und offensichtlichen Problemen zu tun. Wenn ich aber den Fokus meiner Aufmerksamkeit auf die Stille lenkte und in den offenen Raum des Gewahrseins eintauchte, war alles friedlich und weiterhin in bester Ordnung.

      Wie ein Schwimmer sich entscheiden kann, an der Oberfläche des Ozeans zu bleiben und dabei vielleicht mit starkem Wellengang zu kämpfen hat, oder aber hinabzutauchen, um dort in der Tiefe vollkommene Ruhe zu erfahren, so können wir kraft unserer Aufmerksamkeit die Ebene wechseln. Das bedeutet nicht, dass die andere Ebene nicht existiert, aber sie hat in dem Moment keine Wirkkraft auf uns. Beide Ebenen, die Oberfläche mit ihren Wellen und die Tiefendimension des Meeres, existieren parallel. Über kurz oder lang wird die Ebene aber, der wir gerade keine Aufmerksamkeit schenken und die wir damit ausblenden, uns wieder rufen und unweigerlich unsere Aufmerksamkeit fordern.

      Diese Dynamik, die mir mit meiner Gefühlswelt widerfahren war, konnte ich auf eine andere Art bei manchen Meditierenden beobachten, die ausschließlich die Zurückgezogenheit der Meditation suchten und dabei der alltäglichen Welt mit ihren Verantwortlichkeiten immer weniger Bedeutung beimaßen. Am liebsten hätten sie die äußere Welt ganz abgestreift. Doch auch sie wurden über kurz oder lang von dieser wieder eingeholt und mussten sich ums Geldverdienen oder um andere äußere Belange kümmern. So wie ich von meiner Gefühlswelt gerufen wurde, wurden sie von der Alltagswelt mit ihren Notwendigkeiten gerufen und wachgerüttelt.

      Was ist nun aber mit den Menschen, die keinen unmittelbaren Zugang zur Dimension der Stille haben? Oder den Menschen, die so stark in den Pflichten und Oberflächlichkeiten der Alltagswelt und im Funktionieren aufgehen, dass sie sogar ihre Gefühle als unvernünftige Störenfriede ansehen und im Grunde nichts damit zu tun haben wollen? Werden diese Menschen auch von den anderen Ebenen unseres Menschseins gerufen?

      Wenn man sieht, wie häufig auch äußerlich höchst erfolgreiche Menschen, bei denen oberflächlich alles glatt läuft, in ihrem Leben irgendwann von einer Sinnkrise oder einem Burn-out heimgesucht werden, dann muss man diese Frage mit Ja beantworten. Immer wenn wir einer Realitätsebene (oder sogar mehreren) keine Aufmerksamkeit schenken oder sie übergehen, wird diese über kurz oder lang sich melden und mit Macht unsere Aufmerksamkeit einfordern.

      Eine Entdeckungsreise

      Diese Erfahrungen führten mich mit der Zeit zu der Erkenntnis, die Existenz von drei parallelen Lebenswelten anzuerkennen, die menschliches Leben ausmachen: die Alltagsrealität mit ihren äußeren Notwendigkeiten, die Seelische Realität der Gefühle und die Absolute Realität des Gewahrseins. Wenn man diese verschiedenen Aspekte des Menschseins erkennt und ihre Bedeutung für unser Leben anerkennt, ergibt sich daraus eine zwingende Aufgabe: Menschsein verlangt, dass wir alle drei Wirklichkeiten in den Blick nehmen und uns diese Welten erschließen.

      Sich mit den Realitätsebenen des Menschseins zu befassen, ist dabei mehr als eine Notwendigkeit. Es ist ein großes Abenteuer – eine Entdeckungsreise –, bei der uns zunehmend bewusst wird, was unser menschliches Leben ausmacht, welche Kräfte hier wirken und welch beeindruckende Möglichkeiten unser Geist hat.

      Wir werden feststellen, dass jede dieser drei grundlegenden Wirklichkeiten ganz eigene Potenziale beinhaltet, aber auch eigenen Gesetzmäßigkeiten und Begrenzungen unterliegt. Solange wir diese Welten mit ihren Besonderheiten nicht kennen und sie nur unbewusst nutzen, sind wir wie ein Wanderer in einem fremden Land, der die Sprache und Gebräuche nicht versteht. Wir leben zwar darin, können jedoch die Möglichkeiten in diesem Land nicht ausschöpfen und unterliegen zudem ständig Missverständnissen, die uns verwirren und verunsichern.

      Wie tiefgreifend das Wissen um die drei Ebenen menschlichen Lebens sich auswirkt, merken wir erst, wenn wir uns längere Zeit mit ihnen befassen. Wir entdecken dann zunehmend, wie diese Welten immer anwesend sind und in jede Lebenssituation hineingreifen. So werden wir mit der Zeit erkennen, wie jede Frage, die uns bewegt, und jede Situation, die eine Antwort von uns fordert, aus den unterschiedlichen Realitäts­ebenen heraus vollkommen anders beantwortet werden würde. Wenn es aber mehrere Antworten gibt, dann kann es nicht darum gehen, nur eine Antwort zu leben und sie für die »einzig richtige« zu halten.

      Genauso erhalten Begriffe, die auf den ersten Moment klar zu sein scheinen, wie »Gegenwart«, »Freiheit« oder »Liebe«, auf jeder Ebene eine neue Bedeutung, die vollkommen anders, ja sogar widersprüchlich sein kann. Missverständnisse lösen sich in Wohlgefallen auf, da wir erkennen, wie sich zum Beispiel in einem Gespräch zwischen zwei Menschen unbewusst die Ebenen kreuzen und es insofern zu keinem Verständnis füreinander kommen kann. Und alte spirituelle Texte, deren Bedeutung sich meist erst erschließt, wenn wir sehen, aus welcher Realitätsebene ­heraus sie geschrieben wurden, offenbaren sich auf eine neue Weise. Nicht zuletzt wird sichtbar werden, welche Schlüsselrolle das Bewusstsein in unserem Leben einnimmt.

      Seit vielen Jahren begleitet mich nun das Interesse an der Relevanz der drei Realitätsebenen für unser Leben und es ergeben sich immer neue Facetten von Einsichten daraus. So hat sich zum Beispiel mein Verständnis eines spirituellen Weges, und daraus ergebend meine spirituelle Praxis, verwandelt. Zur Meditation des offenen Gewahrseins hat sich eine weitere zentrale Praxis etabliert: das Innere Erforschen, das sich mehr auf die Seelenrealität bezieht und heute fester Bestandteil all meiner Schweige­kurse ist. Beide Praxisformen habe ich in meinem zweiten Buch »Nach innen lauschen« beschrieben. Die Alltagsrealität hingegen, genauer die Relevanz einer spirituellen Grundhaltung für den Alltag, war das Thema meines dritten Buches »Im Einklang leben«.

      Im vorliegenden Buch will ich nun endlich die Philosophie beleuchten, die seit vielen Jahren das Fundament meiner Arbeit und meines Lebens ist. Es ist mir ein echtes Anliegen, die drei Realitätsebenen in ihrem Facettenreichtum und in ihrer Relevanz für das menschliche Leben darzustellen, um ein differenziertes Verständnis dieser drei Ebenen zu ermöglichen. Letztlich geht es um nichts Geringeres als darum, in diesem Buch eine Landkarte des Bewusstseins zu erstellen.

      Im ersten Kapitel werde ich zunächst die tradierte Sicht einer einheitlichen äußeren Welt, in der wir leben, infrage stellen und auseinandernehmen. Im Anschluss werde ich in Kapitel 2–4 die drei grundlegenden Realitätsebenen mit ihren Potenzialen und Grenzen beschreiben. Im Kapitel 5 will ich einen Geschmack davon vermitteln, wie diese Facetten unseres Menschseins in den ersten Jahren unseres Lebens entstehen und wie sie in dieser Zeit gefördert werden können. Danach in Kapitel 6 will ich darauf eingehen, wie die Ebenen sich wechselseitig beeinflussen und welche Haltung wir einnehmen müssen, damit sie auf eine konstruktive Weise für unser Leben wirkmächtig werden. In Kapitel 7 werde ich typische Missverständnisse und Schwierigkeiten erläutern, die sich ergeben, wenn wir die Ebenen nicht sauber auseinanderhalten. Und schließlich in Kapitel 8 werden noch einmal verschiedene zentrale Bereiche unseres menschlichen Lebens auf dem Hintergrund der drei Realitätsebenen betrachtet. Wir werden sehen, dass sie dabei in einem neuen Licht erscheinen.

      Ich würde mir sehr wünschen, dass beim Lesen dieses Buches eine Lust geweckt wird, selbst die Weiten und Tiefen der inneren Welten zu erkunden und diese Dimensionen

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