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Nahräume: Die exquisiten Tonketten des Rotkehlchens draußen im Garten sind im gesamten bisher bekannten Universum einzigartig.

      Von der Ökologie her hat sich Rachel Carson dem Begriff der Nachhaltigkeit angenähert. Sie schreibt von der Erhaltung der Erde für zukünftige Generationen. Alles Leben müsse einen Zustand der Anpassung und Balance mit seinen Umgebungen suchen. Das war ihr lebenslanges Thema. Schon 1953 hatte sie in einem Leserbrief an die Washington Post den Raubbau an den Ölvorkommen im Meeresboden angeprangert: Der wahre Reichtum der Nation liegt in den Ressourcen der Erde: Boden, Wasser, Wälder, Mineralien und Wildleben. Sie für die gegenwärtigen Bedürfnisse zu nutzen und gleichzeitig ihre Erhaltung für zukünftige Generationen sicherzustellen, erfordert ein sorgfältig ausgewogenes und langfristig angelegtes Programm. Die Substanz der Brundtland-Formel, formuliert mehr als drei Jahrzehnte vorher von einer prominenten Ökologin und Journalistin.

      Dem »Stummen Frühling« hat Rachel Carson eine Widmung vorangestellt: Für Albert Schweitzer, der sagte: Der Mensch hat die Fähigkeit verloren, vorauszublicken und vorzusorgen. Er wird am Ende die Erde zerstören. Gegen den Strich gelesen, enthält das Zitat eine wunderbare Bestimmung von Nachhaltigkeit. Es ist die Fähigkeit, vorauszublicken und vorzusorgen.

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      Im August 1965, drei Jahre nach Erscheinen des »Stummen Frühlings«, fand in der Universitätsstadt Boulder in den Rocky Mountains eine kleine, wenig beachtete wissenschaftliche Tagung statt. Ihr Titel: »Ursachen des Klimawandels«. Das Klima des Planeten, so die anwesenden Experten, sei ein prekäres System mit einem gefährlichen Potenzial zu dramatischen Veränderungen, anfällig für menschliche Interventionen. Der Tagungsleiter Roger Revelle war wie Rachel Carson Meeresforscher. Seine ersten wissenschaftlichen Daten hatte er gewonnen, als er 1946 im Auftrag der US-Navy die Folgen der Atombombentests im Bikini-Atoll in der Südsee untersuchte. Ein Jahr nach der Konferenz von Boulder, 1966, hielt Revelle an der Harvard Universität eine Vorlesung. Im Hörsaal saß ein 18-jähriger Student aus Tennessee namens Al Gore.

      Wiederum vier Jahre später, im Sommer 1970, mitten in der kurzen Ära der Mondflüge, feierte das junge Amerika in den Parks der Großstädte und in der wilden und freien Natur des Landes Earth Day. 20 Millionen Menschen protestierten gegen die Zerstörung ihrer Umwelt.

      In Deutschland hatte DER SPIEGEL im November 1969 die öffentliche Aufmerksamkeit für das neue Thema entfacht. Titel der Story: Apokalypse 1979 – Der Mensch vergiftet seine Umwelt. Ein Stein war ins Rollen gekommen.

      Schrei des Schmetterlings

      Neue Inhalte nahm man in jener Zeit nicht allein über Bücher auf, sondern schneller und intensiver noch über eine politisch hellwache und unglaublich kreative Popkultur. Ohne viel Federlesens haben junge Musiker in ihrem Medium die Botschaften der Suchbewegungen poetisiert, radikalisiert und popularisiert. Well, take me back down where cool water flows … Walking along the river road at night, / barefoot girls dancing in the moonlight – green river … Im Sommer 1969, nur ein paar Wochen nach der ersten Mondlandung, nach Woodstock, hörte ich den Song im Radio. 2:14 – ein paar sich wiederholende Gitarrenriffs, eine gleichmäßig pulsierende Basslinie, das antreibende Schlagzeug, die raue Stimme eines 24-Jährigen, der von den endlos scheinenden, seligen Sommern seiner Kindheit erzählt, von Tagen und Nächten am grünen Fluss, ersten Schwimmversuchen, nächtlichen Rufen der Ochsenfrösche, barfuß tanzenden Mädchen im Mondlicht. Green River war eine Hymne an die noch unzerstörte große Natur und den Zusammenhalt der Menschen, die in ihr und mit ihr lebten.

      Ein Jahr später, im August 1970, war ich nach einer mehrwöchigen Reise per Anhalter quer durch die USA, an der Westküste angekommen. Mit den Leuten, die mich aufgenommen hatten, fuhr ich am nächsten Abend von Berkeley über die Golden Gate Bridge nach San Francisco hinüber. In der lauen Sommernacht hörten wir Green River live von einer weit entfernten Bühne. Creedence Clearwater Revival spielten, wenn ich mich recht erinnere, ein Benefiz-Konzert zugunsten einer frisch gegründeten freien Drogenklinik, und ich lauschte atemlos ihrem Song: … you’re gonna find the world is smouldring / and if you get lost, come on home to green river. Wenn du das Gefühl hast, die Welt gerät in Brand, und du nicht mehr weißt wohin, dann komm heim an den grünen Fluss …

      Meine Sternstunde als Rockfan hatte ich zwei Jahre vorher erlebt: Ich war – auch per Anhalter – nach Frankfurt am Main gekommen, um mich für das Wintersemester 1968/69 zu immatrikulieren. Abends spielten The Doors. Das Konzert in der Kongresshalle war kurz und ging tumultartig zu Ende. Nach dem provozierenden Song über den »Unknown Soldier« – mit einer dramatisch inszenierten, von Trommelwirbeln begleiteten Performance einer standrechtlichen Erschießung – verlangten ein paar der vielen anwesenden amerikanischen GIs wütend nach »Light my fire«. Als das Orgel-Intro einsetzte, drängte ein kleiner Trupp Soldaten zur Bühne und schwenkte seine Regimentsfahne. Jim Morrison riss sie ihnen aus den Händen und schleuderte sie mit einer obszönen Geste zerknüllt ins Publikum. Das war’s. Sofort nach dem Song ging das Licht an. Die Doors verließen die Bühne, das Publikum räumte den Saal. Ich blieb. Da ich noch keine Bude hatte und früh am nächsten Morgen nach Hause musste, wollte ich möglichst lange im Warmen bleiben. In der fast leeren Halle machten sich Beleuchter und Putzfrauen an die Arbeit. Doch dann kamen The Doors zurück auf die Bühne, nahmen ihre Instrumente wieder auf und begannen zu jammen.

      When the music’s over. Im Mittelteil des Stücks ein sanfter Gitarrenlauf, ruhige Basslinie, verhaltener Gesang: Before I sink into the big sleep / I want to hear the scream of the butterfly. Hier ist nicht mehr wie bei Rachel Carson vom Lied des Rotkehlchens die Rede, sondern surrealistisch vom Schrei des Schmetterlings. I hear a very gentle sound, very soft, very clear. Und dann laut und klar die gesprochene Passage des Stücks: What have they done to the earth? What have they done to our fair sister? Den Krieg gegen die Natur imaginiert Jim Morrison auf der fast dunklen Bühne mal leise, fast verstummend, dann aufschreiend als Vergewaltigung der Erde. Was haben sie der Erde, unserer schönen Schwester, angetan? Ihr die Kleider vom Leib gerissen, sie gefesselt, zu Boden gezerrt, gebissen, ihr Messer in die Seite gestoßen, ihren Körper verwüstet und geplündert. Dann wieder leise: Ich höre einen ganz zarten Ton. Und wie ein Urschrei: We want the world and we want it … now. Now? Now! Gänsehaut pur!

      Die Pyramide der Bedürfnisse

      1970 erschien in den USA eine Neuausgabe von Abraham Maslows psychologischem Standardwerk »Motivation und Persönlichkeit«. Das Buch, schon in den 1950er Jahren in kleinen Kreisen berühmt, traf nun den Zeitgeist. Maslows Theorie der Grundbedürfnisse hat man in Form einer Pyramide abgebildet. Sie besteht aus fünf Ebenen, die von unten nach oben Bedürfnisse in eine durchlässige Hierarchie bringen. Die Basis bilden die unabweisbaren, das Überleben sichernden körperlichen Bedürfnisse: Nahrung, Wasser und Luft, ein Dach über dem Kopf, die Befriedigung der sexuellen Triebe. Sind diese grundlegenden Bedürfnisse angemessen befriedigt, ist das Grundvertrauen gelegt, sie stets angemessen befriedigen zu können, treten sie im Bewusstsein des Individuums zurück. In den Vordergrund rückt ein neues Bedürfnisensemble: das Streben nach Sicherheit und Geborgenheit, körperlicher Unversehrtheit, Stabilität und Angstfreiheit. Dann folgt die Ebene, auf der die soziale Akzeptanz des Individuums durch seine Umwelt höchste Bedeutung erlangt. Hier geht es um ein Netz liebevoller zwischen menschlicher Beziehungen, um Zuneigung, Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und um deren Zusammenhalt. Im Anschluss daran wird der Wunsch nach Herausbildung eines stabilen Selbstwertgefühls mächtig. Respekt und Wertschätzung durch andere rücken in den Vordergrund. Wobei der Respekt, den man sich tatsächlich verdient hat, das Gefühl der Selbstachtung am sichersten stabilisiert. Das Bedürfnis nach Schönheit und das Interesse an Wissen und Erkenntnis kommen ins Spiel.

      An der Spitze der Pyramide steht das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung (self-actualization). Es wird zu einer wesentlichen Trieb kraft von Fühlen, Denken und Handeln und kann sogar alle anderen Bedürfnisse zurücktreten lassen. Es bezieht sich auf das zutiefst humane Streben nach einem erfüllten Leben. Mit Nietzsches Lebenskunst-Motto »Werde, der du bist«

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