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sich damals jeden Frühsommer die soudure zu. Im Juli des Jahres 1779 beispielsweise flehten ganze Dörfer die Weimarer »Cammer«, die herzogliche Finanzbehörde, um Steuererlass an. Man wisse nicht, heißt es in einem Bittbrief aus einem Dorf bei Jena, wo die armen Leute das Saamen Korn zur künftigen Aussaat hernehmen sollten. In jenen Jahren war Goethe als Minister mit der Arbeit der Kammer befasst. Erschüttert berichtete er aus Ilmenau seiner Freundin Charlotte von Stein über die Begegnung mit einem Mann, »der im Elende der Hungernoth seine Frau neben sich in der Scheune sterben« sah und sie »selbst einscharren« musste.

      In die Welt gesetzt hat Goethe das Sinnbild in seinem Bildungsroman »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. Ein rätselhafter Abbé, Mitglied einer geheimnisvollen »Turmgesellschaft«, in die Wilhelm Meister, der Held des Romans, hineingerät, überreicht ihm ein Schriftstück »von wichtigem Inhalt«. Dieser »Lehrbrief«, so wird ihm gesagt, beziehe sich auf die »Ausbildung des Kunstsinnes«. Sein zweiter Teil aber handele »vom Leben«. Er beginnt mit den Worten: »Die Kunst ist lang, das Leben kurz« und endet mit dem Satz: … gebackenes Brot ist schmackhaft und sättigend für Einen Tag; aber Mehl kann man nicht säen, und die Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden.

      Als Goethe diese Zeilen niederschrieb, arbeitete das herzogliche Forstdepartement an einem gewaltigen Aufforstungsprogramm. Die Wälder des Herzogtums sollten – so hieß es schon 1761 in einer Anordnung der Herzogin Anna Amalia wörtlich – eine neue und nachhaltige Forsteinrichtung erhalten.

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      In den Tagen des September 2008 kollabierte das internationale Finanzsystem. Die Zeitungen druckten Weitwinkelaufnahmen von den Granitbauten der Bankpaläste. Finanzinstitute, die bis dahin solide wie das Urgestein ihrer Architektur gewirkt hatten, erschienen aus diesem Blickwinkel so einsturzgefährdet wie der Turmbau zu Babel. Sogenannte Wirtschaftsweise, die sich bis dahin damit gebrüstet hatten, bei der Sanierung ganzer Länder »ohne Narkose zu operieren«, wurden einen Moment lang kleinlaut. »Wo ist mein Geld?« fragte der Dokumentarfilmer Michael Moore eine Bankerin auf der Wallstreet. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. In diesen Tagen, so die englische Zeitung DAILY TELEGRAPH, erlebte sich der britische Kapitalismus als »Auslaufmodell«. Vor laufender Kamera sah man Milliardäre weinen. Politiker erzählten fassungslos, sie hätten in den »Abgrund« geblickt. Über Nacht spannten sie Rettungsschirme auf. Dann packten sie Konjunkturpakete. Die Geldsummen, die nun ins Spiel kamen, waren unfassbar. Um ein Vielfaches überstiegen sie die Beträge, die UN-Experten für die vollständige Befreiung der Menschheit von der Geisel des Hungers hochgerechnet hatten. Mit dem frischen Geld und den neuen Sicherheiten machten die Banken weiter – business as usual. Prompt folgte die europäische Schuldenkrise von 2011. »Ich sehe unser System in einem schmerz haften Prozess des Zusammenbruchs«, schrieb Paul Gilding, der frühere Direktor von Greenpeace. »Unser System des ökonomischen Wachstums, der ineffizienten Demokratie, der Überbelastung des Planeten Erde – unser ganzes System frisst sich selbst auf.«

      Es gibt keine Alternative? Warum eigentlich nicht? Kaltblütig Strukturen, die nicht nachhaltig sind, kollabieren lassen, dafür den Einsatz erhöhen, um bestehende nachhaltige Strukturen zu stärken und neue in die Welt zu setzen. Wäre das nicht die bessere Strategie, um gestärkt aus der Krise hervorzugehen? Sie erfordert freilich, dass man zwischen nachhaltig und nicht nachhaltig präzise zu unterscheiden vermag.

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      In jenen Spätsommertagen war ich wandern. In der Bergwelt des hinteren Ötztals, unter einer azurblauen Himmelskuppel, bei 25 Grad im Schatten. Von den letzten Häusern des alten Tiroler Bergsteigerdorfes Vent kraxelte ich empor in die Gletscherzone. Vor mir lag auf 3000 Meter Höhe schmutzig grau das Gletschertor des Rofenkarferners. Von seinen Rändern quoll milchig grünes Wildwasser, das schäumend zu Tal stürzte, in der mittäglichen Sonnenglut wesentlich stärker anschwellend als am frühen Morgen. Wie alle Gletscher der Welt ist auch der Rofen rückläufig. Auf den saftigen Hochweiden links und rechts des steinigen Pfades blühten in voller Pracht Arnika und Eisenhut, Purpur-Enzian und Steinbrech. Nach Süden öffnete sich das Blickfeld zum Alpenhauptkamm.

      Zum Greifen nahe lag die Texelgruppe mit Similaun und Hauslabjoch. Dort oben auf dem Grat, in einer Rinne im Gneis, hatte der namenlose Wanderer, den wir Ötzi nennen, an einem Frühsommertag vor rund 5300 Jahren sein Leben ausgehaucht und im scheinbar ewigen Eis seine vorerst letzte Ruhe gefunden. Er war einer von uns: Der erste Europäer, den wir von Angesicht zu Angesicht kennen. Die Saumpfade, auf denen er von Süden her über den Kamm ins Ötztal herüberwanderte, sind noch da. Auch die Quellen, aus denen er trank, und die Kräuter, mit denen er sich selbst, vielleicht auch andere heilte.

      Bis Bozen sind es zu Fuß fünf Tagesetappen. Im Museum am Rande der Altstadt stehe ich vor einer tiefgekühlten Vitrine. Nur eine Glasscheibe trennt mich von dem Mann aus dem Eis. Die Mumie aus dem 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung ist überraschend schmalschultrig und feingliedrig. Die eingetrockneten Augen, denen noch anzusehen ist, dass ihre Iris einmal blau war, sind nach oben gerichtet. Die rechte Hand, mit der er das Beil führte und den Bogen spannte, greift ins Leere. Rings um den gläsernen Sarg sind die Überreste seiner Ausrüstung ausgestellt. Jedes Stück spiegelt seine halbnomadische Lebensweise. Alles ist bis ins Letzte durchdacht, alles perfekt seiner natürlichen Umwelt, seinen Bedürfnissen, seinen Zielen angepasst. Die Stiefel mit der Sohle aus Braunbärenfell, dem Oberteil aus Rindsleder und dem Innengeflecht aus Lindenbast sind absolut hochgebirgstauglich. Das Kupferbeil ist ein gusstechnisches Meisterstück, der Jagdbogen aus Eibenholz modernen Sportbögen an Reichweite und Durchschlagskraft beinahe ebenbürtig. Die Konstruktion des Außengestells am Rucksack gilt bei heutigen Outdoor-Ausrüstern als optimale Lösung für den Transport schwerer Lasten. Neun ein heimische Arten von Holz sind verarbeitet. Für jeden Zweck hat er exakt die am besten geeignete Sorte ausgewählt. Die Sorgfalt, mit der er das volle Spektrum der heimischen Ressourcen nutzte, und die Eleganz der Einfachheit, die jedes seiner Artefakte auszeichnet, geben über die Jahrtausende hinweg den Blick frei – auf einen schöpferischen Geist. Der Gletschermann – der archetypische homo sustinens? Einer aus der langen Ahnenreihe der Erfinder der Nachhaltigkeit?

      Ein kleines, spät entdecktes Detail stört das Bild. In Ötzis linker Schulter steckt eine Pfeilspitze. Die hat ihn getötet, nicht Kälte, Schnee und Eis. Jäger nennen das einen Blattschuss. Offenbar war er auf der Flucht. Ein Opfer und Täter, Jäger und Gejagter in einer blutigen Stammesfehde? An dem Abend in Vent hatte ich im gut besetzten Speisesaal des größten Hotels am Platze einen Gletscherforscher aus Innsbruck referieren hören. Viele klimahistorische Befunde, so sagte er, deuten darauf hin, dass in Ötzis Epoche ein Kälteeinbruch den Alpenraum erreichte. Ötzis gewaltsamer Tod, so seine Hypothese, könnte mit dem Kampf um die schrumpfenden Weidegebiete zu tun haben. Ein Klimakrieg vor über 5000 Jahren? Merkwürdiger Gedanke angesichts der Vitrine im Museum: Sein Sarg aus Eis taut infolge der Erderwärmung auf und entlässt aus der Tiefe der Zeit einen stummen Boten in unsere Gegenwart.

      Um den Zeithorizont zu verstehen: Zu Ötzis Lebzeiten war Babylon erst eine Ansammlung von Lehmbauten im Zweistromland. Aber viel weiter östlich, im Flussgebiet des Indus, besang man möglicherweise schon damals die alles tragende, fest gegründete, goldbrüstige Mutter Erde und betete: Was ich von dir, o Erde, ausgrabe, laß es schnell nachwachsen. Lass mich, o Reinigende, weder deinen Lebensnerv durchtrennen noch dein Herz durchbohren.

      Kann man nicht auch diese, später in der vedischen Hymne an die Erde überlieferten Verse als eine Formel für Nachhaltigkeit lesen? Indira Gandhi, die damalige indische Ministerpräsidentin, hat sie 1972 in Stockholm auf der ersten großen Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in diesem Sinne zitiert.

      Eines scheint mir gewiss: Die Idee der Nachhaltigkeit ist weder eine Kopfgeburt moderner Technokraten noch ein Geistesblitz von Ökofreaks der Generation Woodstock. Sie ist unser ursprünglichstes Weltkulturerbe. Es war der britische Thronfolger Prinz Charles, der vor einigen Jahren die Frage aufwarf, ob nicht tief in unserem menschlichen Geist eine angeborene Fähigkeit existiert, nachhaltig im Einklang mit der Natur zu leben.

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      Aber was ist nachhaltig? Das von Joachim Heinrich Campe, dem Lehrer Alexander von Humboldts, 1809 herausgegebene »Wörterbuch der deutschen Sprache« definiert Nachhalt als das, woran man

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