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Das Oxford English Dictionary aus den sechziger Jahren, also vor der neuen Begriffsbildung, behandelt es in mehreren Spalten und belegt es seit dem Mittelalter. Unter Punkt 4 erscheint die uns interessierende Bedeutungsebene. Sustain meint hier to keep in being. Übersetzt wäre das etwa im Dasein halten. Eine andere Umschreibung lautet: to cause to continue in a certain state, also: bewirken, dass etwas in einem bestimmten Zustand fortdauert. Dann: to keep or maintain at the proper level or standard etwa: auf dem angemessenen Stand erhalten. Und to preserve the state of, den Zustand von etwas bewahren. Demnach wäre sustainable wortgetreu zu übersetzen mit aufrechterhaltbar oder auf Dauer bewahrbar. Oder schlicht: tragfähig.

      Die englische Sprache ist, salopp gesagt, eine Kreuzung aus Plattdeutsch und Vulgärlatein. Sustain ist ein Wort lateinischen Ursprungs. Im lateinischen Wörterbuch finden wir mit annähernd gleicher Bedeutung die Verben sustinere und sustentare. Die Grundwörter sind jeweils sub (unter) und tenere (halten, tragen). Für die deutsche Übersetzung bietet das Wörterbuch an: aushalten, aufrechterhalten, tragen, stützen, bewahren, etwas zurückhalten. Mit dem letzten Eintrag sind wir ganz dicht an nachhalten.

      Wohl unterscheiden sich die Blickwinkel der beiden Wörter. Während sustentare mehr die Anordnung der Dinge im Raum, nämlich das Tragende, die Tragfähigkeit einer Struktur ins Visier nimmt, betont nachhalten die Zeitleiste, nämlich die Anlegung einer ausreichenden Reserve für die Zukunft. Semantisch aber – auf ihrer Bedeutungsebene – sind sich sustinere, sustainable und nachhalten, nachhaltig sehr nahe. Und das ist kein Zufall.

      Das allgemeinsprachliche Wort nachhaltig ist im Deutschen schon sehr früh zu einem fachsprachlichen Terminus geworden. Vor fast 250 Jahren avancierte es zum Leitbegriff des deutschen Forstwesens. Es bezeichnet seitdem die Verpflichtung der Forstwirtschaft, Reserven für künftige Generationen nachzuhalten. Mitte des 19. Jahrhunderts übersetzte man nachhaltige Forstwirtschaft ins Englische: sustained yield forestry. In dieser sprachlichen Form und mit klar umrissener Bedeutung gelangte es in die internationale forstliche Fachsprache und kurz nach Gründung der Weltorganisation auch in das Vokabular der Vereinten Nationen. Dort diente es wiederum drei Jahrzehnte später als Vorbild und Blaupause für die moderne Begriffsbildung sustainable development. Von den verschlungenen Wanderwegen des Wortes seit seiner Prägung in der Epoche der Frühaufklärung wird noch die Rede sein.

      Formelsammlung

      Eine verbindliche und alles umfassende Definition von Nachhaltigkeit gibt es nicht. Dafür ist der Begriff zu komplex und zu dynamisch. Stattdessen sind einige Formeln in Umlauf gekommen, also mehr oder weniger verkürzte, näherungsweise Bestimmungen. Vier solcher Formeln haben den Diskurs bis heute geprägt: Am bekanntesten ist eine Stelle aus dem Brundtland-Bericht der UN von 1987: Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, welche die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Das ist im Wortlaut die weltweit am häufigsten zitierte Formulierung der Grundidee. Nennen wir sie Formel eins.

      Das Dreieck der Nachhaltigkeit ist eine Denkfigur, die nach dem Erdgipfel von Rio 1992 gebräuchlich wurde: Ökologie, Ökonomie und soziale Gerechtigkeit sind die drei Eckpunkte eines Dreiecks. Sie sind stets im Zusammenhang, also vernetzt zu denken.

      Schlicht und anschaulich ist Formel drei: Nicht mehr Holz fällen als nachwächst. So erklären Forstleute seit 300 Jahren ihren, den klassischen Begriff von Nachhaltigkeit. Damit versucht man heute, auch das erweiterte und erneuerte Konzept anschaulich zu machen.

      Formel vier: Die Schöpfung bewahren ist ein Rückgriff auf die Schöpfungsgeschichte der Bibel mit ihrem Gebot, die Erde zu bebauen und zu bewahren. Die Schöpfungsmythen anderer Kulturen haben ganz ähnliche Gebote.

      Jede dieser Formeln erfasst Wesentliches. Aber wie bei allem Formelhaften besteht die Gefahr der Verkürzung und der Abnutzung. Tausend Mal gehört und gelesen, verlieren sie vollends ihre inspirierende Kraft.

      Doch diese vier Leitsätze lassen sich hervorragend als Navigationssystem nutzen, um in die Geschichte des Begriffs und damit in seine Tiefenschichten einzudringen. Unsere Zeitreise führt in die scheinbar heile Welt der mittelalterlichen Klöster und die Zeit der Kathedralen (Formel vier). Von dort geht es in die geometrisch vermessenen Wälder der Aufklärung (Formel drei), dann in die Epoche unserer Kulturgeschichte, als man »zurück zur Natur« wollte und dabei den Zusammenhang von Ökologie und Ökonomie entdeckte (Formel zwei). Sie kehrt zurück in unsere Gegenwart der umfassenden Krise, der Erdpolitik und der großen Transformation (Formel eins).

      *

      Unsere Reise beginnt in der so turbulenten und kreativen Zeit um 1968. Warum da? Das hat mit den geistigen und spirituellen Defiziten der Gegenwart zu tun. Wir haben keine große Erzählung mehr, keine Visionen, die uns beflügeln und antreiben. Dieses Vakuum ist nicht gut. Um die Klimakatastrophe noch im letzten Moment abzubremsen, sagen uns die Experten, bräuchten wir ein neues »Apollo-Projekt«: eine überwölbende Idee, die in kürzester Zeit große Potenziale aktiviert für etwas, das wir machen, koste es, was es wolle. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts war das die Vision, noch in diesem Jahrzehnt Menschen auf den Mond zu bringen – und zurück. Wir brachen auf, um den Mond zu erkunden, aber tatsächlich entdeckten wir die Erde. Der berühmte Satz des Astronauten Eugene Cernan brachte die unverhoffte, die eigentliche Wirkung des Apollo-Projekts zum Ausdruck. So wie in der harten, grauen Schale der Muschel eine zarte, leuchtende Perle entsteht, entsprang einer wachstumsbesessenen, technikgläubigen, expansionistischen Kultur aus der Umkehrung des Blicks ein neuer, erdverbundener zivilisatorischer Entwurf. Sein Leitmotiv wurde: Nachhaltigkeit. Sein Fundament war die Überzeugung: Die Erde ist der schönste Stern am Firmament. Daran lässt sich anknüpfen.

      Arbeit am Begriff geht stets Hand in Hand mit der Lust am Bild. Die Bilder – und Ikonen – aus den kulturrevolutionären Bewegungen der sechziger Jahre sind noch präsent. Im kollektiven Gedächtnis der Menschheit abgespeichert, millionenfach reproduziert im Cyberspace des Internet. Mit ein paar Mausklicks lässt sich eine kleine, faszinierende Galerie abrufen. Earthrise – Erdaufgang ist ein erster Suchbegriff.

      DREI

      »… DER SCHÖNSTE STERN AM FIRMAMENT«

      Ikone Erde

      Ein paar kalifornische Hippies kamen zuerst auf die Idee. Zeigt uns whole earth, die ganze Erde! So wie sie aus dem Weltall zu sehen ist. Die Botschaft an die NASA, Mitte der sechziger Jahre von einigen Langhaarigen auf Buttons und Aufklebern an der amerikanischen Westküste verbreitet, war ausgesprochen zeitgeistig. Von einem Foto des blauen Planeten versprach man sich in den Hochburgen der Gegenkultur eine bewusstseinserweiternde Wirkung, wie von einer euphorisierenden Droge. Die NASA war zunächst an ganz anderen Bildern interessiert: an Aufnahmen von potenziellen Landeplätzen, letztlich an einem Foto der amerikanischen Flagge auf dem Mond. Doch sehr bald kam es auch dort zu einer Kursänderung.

      1968 war es so weit. An Heiligabend sah die Menschheit sich selbst und ihren Planeten zum ersten Mal von außen. Über dem Horizont einer grauen, steinernen, öden Mondlandschaft hob sich die Erde aus der Schwärze des Weltalls. Auf der 400.000 Kilometer entfernten Erde läuft in diesem Moment die Tag-Nacht-Grenze in einem Halbkreis durch Afrika und berührt an ihrem linken Rand die Antarktis. Der Atlantik ist zu sehen. Amerika, der Nordpol und Europa liegen unter dichten Wolkenwirbeln verborgen. Das Raumschiff Apollo 8 befindet sich auf einer Umlaufbahn um den Mond, etwa 100 Kilometer über der Oberfläche. Die NASA sucht nach einem geeigneten Platz für die erste Mondlandung, die für 1969 geplant ist. Stunden später – immer noch Heiligabend – sendet Apollo 8 Fernsehbilder zur Erde. Anders und Lovell, die Astronauten, begleiten sie mit einer Lesung aus der Schöpfungsgeschichte. »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde …« Sie schließen mit den Worten: »Und Gott sah, dass es gut war.« Sekunden später verschwindet ihr

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