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zu leben. Selbstverwirklicher seien Menschen, die sich und ihre Umwelt mit allen Schwächen und Stärken präzise wahrnähmen und grundlegend akzeptierten. Sie verfügten über innere Autonomie und ein stabiles Gemeinschaftsgefühl, über eine große Offenheit und die Fähigkeit, die Fülle des Lebens wahrzunehmen und zu genießen. Sie seien von überzogenen Scham- und Schuldgefühlen unbelastet und vom Urteil anderer unabhängig. Sie seien jedoch fähig, tiefe Bindungen zu anderen Menschen und zur Natur einzugehen. Der Widerspruch zwischen Selbstbezogenheit und Selbstlosigkeit verschwinde. Selbstverwirklicher widmeten ihr Leben der vollständigen Entwicklung und Ausschöpfung ihrer Anlagen, Möglichkeiten und Potenziale. Fremden und unbekannten Erscheinungen würden sie nicht mit dem Gefühl der Furcht und der Abwehr, sondern mit Neugier, Staunen und Ehrfurcht begegnen. Sie seien problemzentriert und an Lösungen interessiert. Das Geheimnisvolle, das Neue, das Fremde würde sie anlocken und begeistern. Sie folgten der inneren Stimme und einer Berufung, die in der Regel von außen, aus der Gesellschaft komme. Das Streben nach Exzellenz, nach Gipfelerfahrungen und dem Erlebnis der Einheit mit Natur und Kosmos seien wesentliche Elemente von Selbstverwirklichung.

      Das Konzept war nicht neu. Maslow hatte es bei dem 1933 in die USA emigrierten deutschen Neurologen und Psychiater Kurt Goldstein gefunden. Der Grundgedanke aber war schon im Bildungsideal der deutschen Klassik angelegt. Wilhelm von Humboldt hatte ihn ausformuliert: Die Entwicklung aller Keime …, die in der individuellen Anlage eines Menschenlebens liegen, halte ich für den wahren Zweck des menschlichen Daseins.

      In bewusster Abkehr von den klassischen Schulen der Psychotherapie richtete Maslow den Fokus auf die Faktoren, die seelische Gesundheit und ein gelungenes Leben ausmachen. Unter diesem Aspekt suchte er Versuchspersonen aus. Er ging in die Indianerreservate und interviewte Menschen, die noch nach dem traditionellen Wertekanon ihres Stammes lebten. Er untersuchte die Biografien starker Persönlichkeiten, unter anderem die von Albert Schweitzer, Spinoza und Goethe.

      Alle fünf Ebenen seiner Pyramide erfassen Bedürfnisse, die jeder Mensch verspürt. Eine aufsteigende Linie führt zu den »Metabedürfnissen«. Die Stufe der Selbstverwirklichung sei zwar nicht allen möglich, für die Gestaltung einer »good society« sei jedoch entscheidend, dass jeder die gleiche Chance bekäme, einen Zugang zur jeweils höheren Stufe zu bekommen. Hier liegt das dynamische Prinzip in Maslows Hierarchie der Bedürfnisse. Im menschlichen Organismus und im menschlichen Geist existiere eine Tendenz zum inneren Wachstum, zur Verwirklichung aller seiner Fähigkeiten, zu Gipfelerfahrungen. Erst diese Art Wachstum »über sich hinaus« ermögliche Reichtum des inneren Lebens und tieferes Glück. Das gute Leben hängt nun nicht mehr von der Befriedigung der biologischen Grundbedürfnisse durch ein immer größeres Quantum an Waren ab. Entscheidend werden die sinnstiftenden immateriellen Güter, Aktivitäten und Ziele. Armutsbekämpfung ist nicht mehr nur die Beseitigung des Mangels an Gütern und Dienstleistungen. Es geht jetzt auch darum, die Vielfalt kultureller Ausdrucksformen und Identitäten zu erhalten und allen Menschen vielfältige Möglichkeiten zu eröffnen, ein erfülltes Leben zu führen.

      Maslows Theorie der Bedürfnisse verband sich in den frühen siebziger Jahren mit dem aufkeimenden Umweltbewusstsein. Aus dieser Kombination ging ein neues politisches und kulturelles Konzept hervor, das seitdem zum festen Bestandteil des Nachhaltigkeitsdenkens gehört: Quality of life – Lebensqualität.

      Der Brundtland-Bericht griff das neue Denken auf. Wenn die Bedürfnisse der jetzigen Generation gegen die der zukünftigen Generationen abgewogen werden, sind dort stets die basic needs im Sinne Maslows gemeint, nicht etwa der »Bedarf« einer Überflussgesellschaft. Nachhaltige Entwicklung erfordert es, die Grundbedürfnisse aller zu befriedigen und die Möglichkeit, sich den Traum von einem besseren Leben zu erfüllen, auf alle auszuweiten.

      Die Imagination an die Macht

      John Lennons und Yoko Onos Song Imagine entstand im Sommer 1971 im Landhaus des Paares, Tittenhurst Park in Ascot, an der westlichen Peripherie von London. In diesem aristokratischen Ambiente hat das Künstlerehepaar den Song geschrieben und in einem dreiminütigen Videoclip inszeniert und zelebriert. Ein Mausklick, und er ist verfügbar.

      Wenn das Piano mit den Anfangstakten beginnt, sieht man die beiden unter dem alten Baumbestand eines Parks im Nebel. Die Kamera zeigt sie von hinten. Ein junges Paar, schwarz gekleidet, Schulter an Schulter, Hand in Hand. Imagine there’s no heaven / It’s easy if you try… Wenn die Stimme einsetzt, kommen sie ins Offene, gehen auf die schneeweiße Hauptfassade eines georgianisch-klassizistischen Herrenhauses zu. No hell below us / Above us only sky… Lennon legt den Arm um die Schulter seiner Frau. Das Paar erreicht das von zwei Säulen verzierte Portal, hält einen Moment inne. Ein Schild kommt ins Bild: This is not here. Wir betreten, so verstehe ich diese Botschaft, nicht ein aristokratisches Herrenhaus, sondern einen Bezirk unseres Bewusstseins: den Sitz der Vorstellungskraft, den inneren Palast, wo die Träume von einer besseren Welt ihren Ursprung haben. Imagine all the people / Living for today… singt die Stimme, während die beiden im Eingang verschwinden. Ein abgedunkelter, halbrunder Raum. Allein durch die Schlitze der Vorhänge fällt etwas Licht. Imagine there’s no countries / It isn’t hard to do … Yoko Ono, nun in weißem knöchellangem Kleid, öffnet den ersten Vorhang, lässt Tageslicht herein. Nothing to kill or die for / And no religion too … Der Blick fällt auf den an einem weißen Steinway-Flügel sitzenden John Lennon. Imagine all the people / Living life in peace… Von links nach rechts die Fensterfront abschreitend öffnet Yoko Ono Vorhang um Vorhang, flutet den Raum mit Sonnenlicht. Imagine no possessions / I wonder if you can … Lennons feierlicher Gesichtsausdruck kommt groß ins Bild. Sein Blick wechselt zwischen Klaviertasten und Kameraauge. No need for greed or hunger / A brotherhood of man. Das frische Grün des Gartens dringt mit dem Licht in den Raum, während Yoko den nun hellen Raum durchschreitet und neben ihrem Gatten Platz nimmt. Imagine all the people / Sharing all the world… Das Paar ist hinter dem Flügel in der Totalen zu sehen. Ein weißes Stirnband bändigt ihr langes pechschwarzes Haar. Ihr Blick richtet sich nach innen, während er die letzte Strophe beginnt: You may say I’am a dreamer / But I’m not the only one … Sie blicken sich in die Augen. I hope someday you’ll join us / And the world will live as one. Ende des Liedes. Draußen zwitschert ein Vogel. Die Augen leuchten. Ein langer Kuss. Ende des Videos bei 3:14.

      *

      Imagine wirkte als Hymne einer Generation. Warum? Zum einen war es die Melodie, vom Piano sostenuto gespielt und durch ein raffiniert-schlichtes Streicherarrangement untermalt, von Lennons kraftvoller Stimme gesungen. Der Komponist sprach selbstironisch vom »sugar-coat«, vom Zuckerguss des Songs. Die eingängige und eindringliche Musik verband sich organisch mit der revolutionären Botschaft des Textes. »Ein antireligiöser, antinationalistischer, antikonformistischer, antikapitalistischer Song«, sagte Lennon in einem Interview, »praktisch das Kommunistische Manifest.« Vor allem aber nahm der Song den Zeitgeist auf. Er formuliert die kulturrevolutionäre Gewissheit, dass eine andere Welt möglich ist.

      Die Zukunft ist nie die bruchlose Fortsetzung der Gegenwart. Sie wird immer neu gemacht, freilich mit den geistigen und spirituellen Ressourcen der Vergangenheit. Jede schimmernde Perle wächst in einer harten, grauen Muschelschale heran. Das Neue kann nur im Schoß des Alten entstehen. Was jedoch immer wieder erstaunt: In jeder Renaissance, in jeder Epoche des Aufbruchs, erscheinen in verwandelter Gestalt die Bilder, die Grundideen und das Vokabular der Nachhaltigkeit.

      VIER

      URTEXTE

      Sonnengesang

      Laudato si, mi signore, cun tucte le tue creature, / spetialmente messor lo frate sole, / lo qual’è iorno, et allumini noi per loi … Gelobet seist Du, mein Herr, mit allen Deinen Geschöpfen, vor allem dem Herrn Bruder Sonne, der den Tag heraufführt und uns durch sich erhellt.

      Der fromme Lobpreis versetzt uns in die Welt der mittelalterlichen Klöster und in die Zeit der Kathedralen. Genauer gesagt, in die Parallelwelt der Einsiedeleien auf

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