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des Planeten, Bild der Menschheit von sich selbst, nahm Konturen an. Der amerikanische Dichter Archibald MacLeish, damals 77 Jahre alt, Veteran des Ersten Weltkriegs, Propagandist von Roosevelts New Deal, hat es in der New York Times verkündet:

       Die Erde so zu sehen, wie sie wirklich ist, blau und schön, ein winziges Etwas, das in der lautlosen Ewigkeit schwebt, das bedeutet, dass wir uns selbst gemeinsam als Passagiere der Erde sehen, als Brüder auf diesem leuchtenden Planeten inmitten der ewigen Kälte des Alls, als Brüder, die nun endlich wissen, dass sie wahrhaftig Brüder sind.

      Dantes mittelalterliche Vorstellung von Himmel und Hölle und dem Menschen als Gegenüber Gottes und Mittelpunkt des Universums sei überwunden. Aber auch die moderne nihilistische Vorstellung von der absurden Existenz des Menschen am Rande einer bedeutungslosen Milchstraße, preisgegeben einer sinnlosen Logik der Gewalt, sei hinfällig. Alle Menschen werden Brüder. An klänge an Schillers Ode »An die Freude« sind unüberhörbar. Der greise Poet artikulierte jedoch den Zeitgeist von 1968: Die euphorische Zuversicht, man erlebe den Anbruch eines new age, eines neuen Zeitalters, oder wie es damals in dem Hippie-Musical Hair hieß: the dawning of the age of Aquarius, die Morgenröte der Wassermann-Ära.

      Mit dem Foto vom Earthrise gewann die globale Kultur ein machtvolles Gegenbild zur Ikone des Weltuntergangs, deren düstere, albtraumhafte Macht Denken und Fühlen einer ganzen Generation beherrscht hatte: »Mushroom Cloud«, das apokalyptische Bild des Atompilzes, der alles menschliche Leben auf der Erde auszulöschen droht. Diese nekrophile Bilderwelt entstand zwischen 1944, der ersten Zündung einer Atombombe in der Wüste von New Mexico, und 1963, als ein internationaler Vertrag überirdische Atomtests verbot. Die Fotos zeigen den Moment nach dem Atomblitz. Eine schlanke Säule aus Wasserdampf oder Wüstenstaub steigt von »Ground Zero«, der Stelle, wo die Bombe aufschlug, in den Himmel, dehnt sich wie der Schirm eines Pilzes in die Atmosphäre, bevor sie in Form von todbringenden nuklearen Niederschlägen zur Erde zurückkehrt. Die dunkle Majestät dieser Fotos aus dem Kalten Krieg wirkte lange nach, unterschwellig bis heute. Erst im Kontrast mit der Ikone der Zerstörung lässt sich die befreiende Kraft des Earthrise-Fotos erahnen. Verdoppelt wurde sie durch ein Foto, das vier Jahre später entstand.

      Am 7. Dezember 1972, kurz nach Mitternacht Ortszeit, läuft im Kennedy Space Center der Countdown für Apollo 17, den bis heute letzten bemannten Flug zum Mond. Die Abschussrampe ist in gleißendes Flutlicht getaucht. Es beleuchtet die turmhohe, schneeweiße Saturn-V-Trägerrakete mit dem winzigen Raumschiff in der Spitze. Wernher von Brauns Wunderwerk der Technik, die Antwort der Moderne auf die Pyramiden Ägyptens. Ein Millionenpublikum hat sich an der Küste Floridas versammelt, um das grandiose Spektakel aus Licht, Lärm und menschlicher Kühnheit live zu erleben – das Woodstock der Raumfahrt-Freaks. »Liftoff«. Eine Schockwelle bringt die Umgebung zum Beben. In dem Inferno aus Donner, Rauch und Stichflammen hebt die Rakete vom Boden ab, durchstößt den selbst erzeugten Feuerball und entschwindet, einen riesenhaften Schweif aus brennendem Kerosin und Sauerstoff ausstoßend, in südöstlicher Richtung in den dunklen Himmel über der Karibik.

      Der perfekte Moment für die Aufnahme kommt sehr bald, nachdem das Raumschiff die Erdumlaufbahn verlassen hat und auf seine elliptische Bahn in Richtung Mond eingeschwenkt ist. Eben noch unter dem enormen Druck, der Körper und Psyche beim Startvorgang belastet, legen die Männer an Bord ihre Raumanzüge ab und tauchen in den Zustand der Schwerelosigkeit ein. In diesem Moment der Loslösung von der Erde wenden sie den Blick zurück. »Ja, der Mond ist da«, berichtet Evans laut NASA-Protokoll 4 Stunden, 47 Minuten und 45 Sekunden nach dem Start an die Bodenstation. Und dann, ekstatisch: »Die Erde ist … das ist die Erde. Wow, was für eine Schönheit.« Minuten später meldet Kommandant Cernan, jetzt sehe er die Erde so voll, wie man sie noch nie gesehen habe. »Und weißt du, sie hängt an keinen Stricken. Sie ist da draußen ganz allein.« Harrison Schmitt gerät ins Schwärmen über dieses »zart aussehende Stück Bläue im Weltraum«. Was ihn und seine Kameraden in den Zustand der Entrückung versetzt, ist der Anblick der von der Sonne voll erleuchteten Tagseite der Erdkugel. Sie sind schon weit genug im All, um die ganze Erde mit einem Blick zu erfassen, aber noch nahe genug, um Wolkenwirbel und Landmassen und die zeitlupenhaft langsame Drehung der Erde erkennen zu können. Noch liegt Afrika in voller Größe im Blickfeld. Gleich wird die östliche Spitze Südamerikas auftauchen. In diesem Augenblick entsteht das klassisch gewordene Foto. Vermutlich ist es Harrison Schmitt, der auf den Auslöser der Hasselblad-Bordkamera drückt. Fünf Stunden nach dem Start, etwa 45.000 Kilometer von der Erde entfernt.

      Auf dem Rückflug überfliegt das Raumschiff die Ödnis der erdabgewandten Seite des Mondes. Dann kommt der blaue Planet wieder ins Blickfeld. »Du siehst aus dem Fenster« – erzählte Cernan später –»und blickst, durch 400.000 Kilometer schwarzen Weltraum, zurück auf den schönsten Stern am Firmament. Du verfolgst, wie er sich dreht … und er bewegt sich in einer Schwärze, die nahezu unvorstellbar ist … Du kannst es das Universum nennen. Aber es ist die Unendlichkeit des Raumes und die Unendlichkeit der Zeit.«

      Die Landung erfolgt 302 Stunden nach dem Start, 59 Sekunden nach dem vorausberechneten Zeitpunkt, punktgenau im Zielgebiet südwestlich der Samoa-Inseln im südlichen Pazifik. Eine Kapsel von drei Metern Durchmesser, zerbeult, zerschrammt, rußgeschwärzt. Das ist alles, was zwölf Tage nach dem Aufbruch ins All übrig ist. Die drei Astronauten sind laut ersten Untersuchungen bei bester Gesundheit und … extrem glücklich. Am 23. Dezember, pünktlich zu Weihnachten, gibt die NASA ein Foto frei, das Apollo 17 mitgebracht hat. Blue marble avancierte zum meistpublizierten Foto der Mediengeschichte. Was verlieh der Aufnahme seine einzigartige Aura?

      Die Flugbahn des Raumschiffs kreuzt im Moment der Aufnahme gerade die imaginäre Verbindungslinie zwischen Sonne und Erde. Die Sonne steht so direkt hinter dem Raumschiff, dass sie die Tagseite der Erde voll erleuchtet. Ihr Licht erfasst die ganze Erde, die gesamte Gestalt, fast ohne beschattete Dämmerungszone. Der Planet schimmert blau. In dieser Farbe erscheint die Atmosphäre, deren Luftmoleküle die Blauanteile des Sonnenlichts zurück werfen. Ein zartblauer Schleier überzieht die Landmassen. In tiefer Bläue leuchten die Ozeane. Zu sehen sind weite Teile des Indischen Ozeans und des südlichen Atlantik. Weiße Wolkenbänder ziehen in riesenhaften Wirbeln durch die Westwindzonen. Die Dynamik der großen Windsysteme wird sichtbar und lässt die zugrunde liegenden Kräfte, die Wirkung der ozeanischen Strömungen und die Macht der Erddrehung ahnen. Der Südpol ist der Sonne zugeneigt. Gletscher und Eisschelf der Antarktis liegen, von Zyklonen umkreist, blendend weiß im Sonnenlicht. Zu sehen ist ganz Afrika, die Wiege der Menschheit, und – am oberen Rand der Erdkugel – Nildelta und Sinai, die Arabische Halbinsel und das östliche Mittelmeer, Zentren früher Hochkulturen. Am Äquator bauen sich Wolkentürme auf und verdecken die Erdoberfläche. Nur schwach dringt das Grün des tropischen Regenwaldgürtels hindurch. Tiefdruckgebiete wechseln mit Hochdruckzonen. Die Atmosphäre ist wolkenlos über der Sahara und dem Sahel im Norden und der Kalahari im Süden. Deutlich treten die warmen, erdigen, rot-gelb-braunen Farbtöne der Wüsten hervor. Die lebenserhaltende Lufthülle der Erde wirkt transparent und hauchdünn, das Pflanzenkleid wie ein zarter Flaum. Nirgendwo wird ein Artefakt als Anzeichen menschlicher Existenz erkennbar. Es ist vielmehr die Biosphäre der Erde, die sie vor allen anderen Gestirnen heraushebt, sie einzigartig macht. Der blaue Planet schwebt, sich um die eigene unsichtbare Achse drehend, in der Leere und Schwärze des unendlichen Alls. Sein Schwebezustand erhöht den Eindruck von traumhafter Schönheit, völliger Einsamkeit und Einzigartigkeit und – nicht zuletzt – großer Verletzlichkeit. Nirgendwo sonst im All eine Spur von Leben. Nur eine Erde. Wir sind allein.

      Fragil – zerbrechlich, zart, verletzlich – ist ein Schlüsselbegriff bei der zeitgenössischen Deutung der grandiosen Bilder. An die zwischen 1968 und 1972 entstandenen overview-Fotos koppelten sich die Berichte der Augenzeugen, der amerikanischen Astronauten und russischen Kosmonauten. Sie verstanden sich als ausgestreckte Fühler der Menschheit und deuteten ihre starken Eindrücke mit weitgehend identischen Metaphern. Sehr schnell verdichteten sich diese zu einer großen Erzählung aus wenigen Worten. Darin ist die Rede von der grenzenlosen Majestät, die das funkelnde blauweiße Juwel ausstrahle. Als eine zarte himmelblaue Sphäre, umkränzt von langsam wirbelnden Schleiern, steige die Erdkugel wie eine Perle unergründlich und geheimnisvoll aus einem tiefen Meer empor – ein Saphir

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