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entwickeltes System. Ihr begriffliches Gerüst wird mit allen Stützpfeilern, Verstrebungen und Stellschrauben noch einmal in voller Größe sichtbar.

      Der Oberbegriff »providentia« benennt die Handlung und die Fähigkeit, in die Zukunft hinein zu denken. Die Voraussicht führt zu einem Vorherwissen der Dinge. Das Vorausgesehene, das dem Gewollten entspricht, bedarf der Sorge, dass es auch eintritt, also der Vorsorge. Diese bedingt wiederum ein dem angestrebten Ziel angemessenes Handeln (actio) in jedem gegebenen Moment. Die Struktur des providentiellen Handelns ist hochkomplex. Sie hat drei tragende Elemente. Grundlegend ist die conservatio (synonym: sustentatio, das franziskanische sustentamento). Hier geht es um die Erhaltung, die Bewahrung aller Dinge in ihrem durch die Schöpfung festgelegten Existenzvollzug. Sie ist Fortsetzung der Schöpfung und verhindert den Rückfall ins Nichts – annihilatio –, die Vernichtung.

      Die gubernatio meint die Leitung und Lenkung aller Abläufe, die Regierung über die Dinge. Ein Bestandteil ist die cura, die Sorge und Fürsorge, auch der pflegliche Umgang mit der Schöpfung. Zeichen der göttlichen gubernatio sind die gesetzmäßigen Erscheinungen in der Natur: Die Gleichmäßigkeit der kosmischen Bewegungen, die regelmäßige Abfolge der Jahreszeiten, der Wasserkreislauf, die Generationenfolge in den Naturreichen.

      Drittes Element von Providentia ist der concursus, das Zusammenkommen oder Zusammenspiel der verschiedenen Wirkursachen. Hier geht es um die Beziehung zwischen göttlichem Wirken (actio externa), dem Wirken der Naturkräfte und dem freien menschlichen Handeln. Das göttliche Wirken ist prima causa, erste Ursache. Naturkräfte und menschliche Mitarbeit (cooperatio) sind secundae causae, zweitrangige Ursachen, aber durchaus mit Spielräumen, eigenen Wirkungen und Nebenwirkungen. Schließlich behandelt die Lehre vom concursus auch noch die kitzlige Frage, wie das Böse beim Gang der Dinge mitwirkt. Die göttliche gubernatio wechselt zwischen den Optionen: Zulassung (permissio), Hinderung (impeditio), Ausrichtung auf göttliche Ziele (directio) und Begrenzung (terminatio) des Bösen.

      Mehr als 1500 Jahre hatte dieses kunstvolle Gedankengebäude Bestand. Dann geriet die Zeit aus den Fugen, und der Bau kollabierte. Eckdaten des Zusammenbruchs waren das Jahr 1666, als Newton im Obstgarten seines Elternhauses beobachtete, wie ein Apfel zu Boden fiel, und das Jahr 1755, als ein Erdbeben Lissabon zerstörte und Zehntausende in den Tod riss – Fromme und Ketzer, Säuglinge und Greise ohne jeden Unterschied. Die neue Physik mit ihrer Erkenntnis, dass die Schwerkraft den Gang und Fortgang im Universum lenkt und im Lot hält, war das eine. Das andere war die schlichte Frage: »Unde malum?« Woher kommt das Böse? Beides zusammen brachte den Glauben an die göttliche Vorsehung zum Einsturz. Selbst die Theologie verabschiedete sich davon.

      Wer an die Providentia glaubt, braucht keinen Nachhaltigkeitsbegriff. Denn die Zukunft liegt in Gottes Hand. Wo aber dieser Glaube ins Wanken gerät, tut sich ein Abgrund auf. »Es rettet uns kein höh’res Wesen«. Was tritt an diese Stelle? Sind Gott und die Natur identisch? Ist die Evolution eine Art »Vorsehung der Natur«? Kann der Mensch die »gubernatio«, die Lenkung der Natur übernehmen? Findet die menschliche Ratio in den Naturgesetzen den Schlüssel zur Herrschaft über die Erde? Wenn die »prima causa« (Gott) ausfällt, wie agieren dann die »secundae causae«? Wie gestaltet sich die »cooperatio« zwischen Mensch und Natur? Im Einklang miteinander? Oder wird der Mensch zum Sachwalter von Voraussicht und Vorsorge? Aber wie? Als familiärer »Hausvater«, der seinen gesamten Haushalt zum Wohle aller, einschließlich der Knechte, der Tiere im Stall und Pflanzen auf dem Feld, treuhänderisch verwaltet und verbessert der nachfolgenden Generation übergibt? Soll ein starker, ein absolutistischer Staat diese Rolle übernehmen? »Etat Providence« sagen die Franzosen noch heute für »Wohlfahrtsstaat«. Oder regelt die »unsichtbare Hand« des Marktes alles? Im großen Schmelztiegel der Frühaufklärung befanden sich alle diese Ideen noch in Gemengelage dicht beisammen. Bis sich die Geister schieden.

      Und heute? Das Vokabular der Providentia-Lehre ist urplötzlich zurück – im globalen Diskurs der Nachhaltigkeit. Greifen wir ein paar Stellschrauben des Gerüsts heraus: Der alte Zentralbegriff conservatio blieb im Englischen und Französischen fast bruchlos erhalten. Im Sinne von bewahrender Nutzung wurde er zum Gegenbegriff von Raubbau und Umweltzerstörung. Ein internationales Netzwerk von Naturschützern und Ökologen, die »International Union for Conservation of Nature« (IUCN), setzte 1980 conservation kurzerhand mit sustainable development gleich. Denkfabriken der internationalen Politik diskutieren vehement über global governance oder earth system governance, die alte Idee der gubernatio – Lenkung – in neuem Gewand. Kongresse in aller Welt befassen sich mit einem »Kapitalismus 3.0«, der eine neue Integration ökologischer und sozialer Wirkkräfte beinhaltet. Das hieß früher concursus. Und was sagt uns: terminatio – Begrenzung des Bösen? Heute streitet man über Grenzwerte für toxische Belastung, über die Begrenzung des CO2-Ausstoßes pro Kopf, und – wieder – über die Grenzen des Wachstums. Nicht zuletzt entwerfen Filme und Bücher immer neue Bilder der annihilatio, der Vernichtung des Planeten. Die existenzielle Angst vor der Apokalypse, die den Glauben an die Vorsehung unterschwellig begleitete, ist nicht gebannt.

      Providentia – ein alter Hut? Kein Zweifel, die Säkularisierung der Idee ist unumkehrbar. Statt an »He’s got the whole world in his hands« glauben wir eher der Botschaft »The world in your hands« aus den Werbespots der globalen Kreditkartenunternehmen. Die Frage, ob die Bewahrung der Schöpfung gelingt, ist jedoch keineswegs entschieden. Der Philosoph Jürgen Habermas empfahl kurz nach den Terroranschlägen von 9/11 der säkularen Gesellschaft, sich ein »Gefühl für die Artikulationskraft religiöser Sprachen« zu bewahren. Denn dort ließen sich »Ressourcen der Sinnstiftung« entdecken. Mit dem Gebot, der Mensch solle die Erde bebauen und bewahren (Genesis 2, 15), ist in der Bibel ein Urtext von Nachhaltigkeit formuliert. In der hebräischen Fassung heißt es an dieser Stelle abad (bebauen, bedienen) und schamar (pflegen, behüten, bewahren). Hier sind wir ganz dicht an der Formel sustain und developnachhaltige Entwicklung.

      Mord an Mutter Erde

       Mit blassem Gesicht erschien sie im Zeugenstand. Sie trug ein grünes Gewand. Aus ihren Augen strömten Tränen. Ihr Haupt wies Verletzungen auf, das Kleid hing zerrissen herab, und man konnte sehen, wie ihr Leib vielfach durchbohrt war … voller Wunden und blutbespritzt … Keine Spur mehr von Anmut und Schönheit.

      Wieder ist die Rede von mater terra. Diesmal geht es jedoch um Vergewaltigung und Mord, diesmal ist sie Opfer. Eine kleine Erzählung, im Latein der Humanisten geschrieben, versetzt den Leser in die Zeit der Renaissance – und in eine Boomzeit des europäischen Frühkapitalismus. Anno 1477, ein halbes Jahrhundert bevor der Konquistador Pizarro an der Küste Perus landete und sich mit 180 Mann auf die Suche nach dem Goldland der Inka machte, stampfte man im silberreichen sächsisch-böhmischen Erzgebirge ein mitteleuropäisches »Eldorado« aus dem Boden. Angeekelt von dem Silberrausch um ihn herum, verfasste ein Pädagoge namens Paulus Niavis (Paul Schneevogel) im nahen Chemnitz eine allegorische Erzählung. Sie berichtet von einer Gerichtsverhandlung. Die Anklage lautet auf Vergewaltigung der Erde. Das 1492 erschienene Büchlein trug den Titel »Iudicium Iovis – das Gericht Jupiters, gehalten im Tal der Schönheit …«

      Im Dresdner Museum für Mineralogie und Geologie sind noch Wahrzeichen aus der Zeit, von der Paulus Niavis erzählt, zu sehen: zwei zerklüftete Brocken, die matt silbern glänzend in der Vitrine liegen. Der eine ist faustgroß. 600 Gramm gediegenes Silber. Der andere wiegt an die sieben Kilo und besteht hauptsächlich aus Silberglanz. Die beiden Erzstufen stammen aus der Zeit des großen »Berggeschreys«, des spektakulären Silberfunds des Jahres 1477 im westlichen Erzgebirge. Der Überlieferung nach sind sie Bruchstücke von dem sagenhaften Tisch aus massivem Silber, an dem Herzog Albrecht mit seiner Gefolgschaft »in der erden schoß«, in einem Stollen der Schneeberger Fundgrube St. Georg gespeist haben soll. Vielleicht sind es aber auch nur Geschenke der erzgebirgischen Montanunternehmer an den Landesherrn bei dessen Rückkehr von einer Pilgerfahrt ins Heilige Land. Der plötzliche Reichtum hatte seine Schattenseiten. Der Silberrausch lockte Tausende von Bergknappen »auf den Schneeberg«. Fieberhaft treiben sie

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