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Saga von Egill Skallagrímsson. Die Buchdeckel waren fast vollständig mit durchsichtigem Tesafilm beklebt, was das Buch vor dem vollkommenen Auseinanderfallen bewahrte. Unter dem Klebestreifen war eine Abbildung des Sagahelden zu erkennen, der einen schwarzen Helm mit großer Krempe und einen zerzausten Kinnbart trug. Die Stirn traurig gekräuselt, das Schwert erhoben stand er da, dämonisch und verletzlich zugleich; ein zaudernder Berserker, der sich nicht entscheiden konnte, ob er zuschlagen oder sich weinend unter ein Tierfell zurückziehen sollte.

      »Gib das her«, sagte Dagur und hatte mir das Buch schon aus der Hand gerissen. Dafür hatte er eine der Tüten loslassen müssen und bückte sich, um seine im Schneematsch verstreute Habe wieder einzupacken. Einmal schnellten seine Augen hoch zu mir, doch als er merkte, dass auch ich ihn ansah, starrte er sofort wieder nach unten.

      Dagur stellte die Reste seines Hausrats in den Kofferraum seines Land Rover Defender, der alt war und rot, mit weißem Dach und knopfäugigen Rücklichtern. Bevor er sorgfältig eine Wolldecke über alles breitete, nahm er ein T-Shirt aus einer der Tüten und zog es an: Es war ein enges schwarzes T-Shirt mit weißen Sternen auf der Vorderseite und der Aufschrift Betty Ford Clinic.

      Nachdem Matilda im kaffi gógó erzählt hatte, auf welch spektakuläre Weise Dagur seine Sachen aus dem brennenden Haus gerettet hatte, bekamen wir umsonst ein Thule-Bier und einen nach Apfelkaugummi schmeckenden Schnaps. Es war ziemlich leer im kaffi gógó. Viele sahen sich das Feuer an, nur die Stammgäste, die praktisch zur Einrichtung gehörten, waren da: Hrafnhildur, die Bankkauffrau, sprang auf der Tanzfläche herum wie eh und je und strahlte so viel Hitze ab wie ein ganzer Aerobic-Kurs. In der dunkelsten Ecke, wo das Licht der Discokugel niemals hinschien, hing Gísli in den Seilen. Schon seit einigen Jahren war der Physiklehrer im grauen Anzug der älteste Gast und starrte durch eine Batterie von Gläsern in das schwarze Nirgendwo, das sich zwischen Bar und Notausgang auftat. Es war, als hätten sie alle im gógó ausgeharrt, damit ich nun, ein halbes Jahr nach meinem letzten Besuch, gerührt feststellen konnte, dass alles beim Alten geblieben war. Nur gelegentliche Lieder von den Bright Eyes oder Belle & Sebastian zeigten, dass sich die Diskokugeln dieser Welt weitergedreht hatten. Ansonsten liefen wie immer Pulp, Clash, Beck und Bowie, dazwischen die isländischen Rockklassiker Lúftgítar und Lóalóa. Auch der Hit der Riot Girl-Band Grílurnar, die von dem Mädchen Sísí sangen, das nähend in ihrem Suzuki ausflippt, fehlte nicht. Wie immer.

      »Und, wie läuft deine Nacht?«, fragte Matilda.

      »Super.«

      »Du stehst seit einer Stunde hier herum«, sagte sie.

      »Ich höre der Musik zu«, sagte ich.

      Matilda verschwand wieder auf der Tanzfläche. Dagur stellte sich neben mich, legte seine Hand auf meine Schulter und sagte: »Gib dein Glas.« Er hatte eine Plastikflasche dabei, ähnlich denen, die Radrennfahrer benutzen. Er füllte mein Glas, aus dem der Geruch von starkem Gin aufstieg.

      »Mein Cousin brennt den. In seiner Garage. Der beste Gin des Landes.«

      Der beste Gin des Landes schmeckte holzig, die weißen Sterne über Dagurs Betty Ford Clinic glänzten im Schwarzlicht.

      »Dann können wir uns ja mal unterhalten«, sagte ich.

      Er zuckte mit den Achseln und sah an mir vorbei auf die Tanzfläche. Direkt traurig sah er nicht aus, eher gleichgültig und sehnsüchtig im selben Moment, wie ein Junge, der in der großen Pause unter dem Dach des Laubengangs steht und den anderen Kindern beim Spielen zusieht. Mir fiel ein, dass ich zwar schweigsame Menschen gut leiden konnte, mit schüchternen Menschen aber Probleme hatte.

      »Wo kommst du her?«, fragte er, als ich die Hoffnung schon aufgegeben hatte.

      »Aus Tornesch«, sagte ich.

      »Soll ich das kennen?«

      »Kopenhagen, Köln … Kennst du irgendwelche Städte in Europa?«

      »Natürlich.«

      »Dazwischen.«

      Er schnippte mit dem Daumen gegen den Filter seiner Zigarette, doch es fiel keine Asche ab. Er versuchte es noch mal.

      »Wann seid ihr da hin?«

      »Als ich neun war.«

      »Warum?«

      »Nur so.«

      »Niemand zieht nur so nach … wie hieß das noch mal?«

      »Mein Vater hatte da Arbeit.«

      »Und wie fandest du das?«

      »Und du?«, fragte ich, »was machst du?«

      »Ich bin Literaturwissenschaftler.«

      »An der Uni?«

      »Nein«, antwortete er und machte ein Gesicht, als hätte ich ihm ein angebissenes Hotdog vom Fußboden angeboten.

      »Uni ist das reinste Endlager.«

      »Aha.«

      »Ich bin freiberuflich.«

      »Freiberuflicher Literaturwissenschaftler.«

      »Und du Tierfilmer.«

      »Wer sagt das?«

      »Matilda.«

      »Ich bin kein Tierfilmer.«

      »Filmst du keine Vögel?«

      »Doch.«

      »Sind Vögel keine Tiere?«

      »Tierfilmer sind die, die sich einen Busch aufsetzen und …« Ich war es leid, das immer wieder zu erklären, und sagte einfach: »Meditativer Realismus. Dokumental-Film, wenn du so willst.«

      Er sah mich an wie einen wildfremden Mensch, der ihn grundlos mit seiner Lebensgeschichte belästigte. Dieses Gespräch gefiel mir nicht. Es störte mich, wie Dagur behauptete, einen Beruf zu haben, den es nicht gab, und wie er dasselbe von mir dachte. Ich sagte: »Ab jetzt mache ich auch Fernsehen.« Er grinste, als hätte er erraten, warum ich das hinzufügte.

      »Und dein Freund kommt übermorgen und arbeitet in der Psychiatrie.«

      »In der Presseabteilung. Er ist kein Psychiater«, das war mir wichtig zu betonen. Ich dachte an Milan, der jetzt schlief und die gepackte Reisetasche vor seinem Bett stehen hatte. Milan packte immer am Tag vorher, während ich in letzter Minute viel zu wenig in einen großen Koffer schmiss. Milan, der vielleicht in diesem Moment gerade aufwachte, sich verwirrt aufrichtete und dann allein wieder unter die Decke kroch.

      »Er kommt morgen, nicht übermorgen«, sagte ich.

      Dagur schwieg.

      Meine Arme taten immer noch weh. Er hätte sich ruhig dafür bedanken können, dass ich die Kiste aufgefangen hatte. Oder war es von so einem Menschen schon ein Dank, dass er sich überhaupt mit mir unterhielt? Immerhin war es einer meiner Neujahrsvorsätze für das inzwischen fast vergangene Jahr gewesen, das Wort ›Soziopath‹ nicht mehr so oft zu verwenden. Außerdem hatte Dagur mir schon in der Grundschule leid getan, und vorhin tat er mir auch leid, wie ihm seine letzte Habe auf den vom Löschwasser überschwemmten Laugavegur fiel und er sich nicht helfen lassen wollte. Sogar jetzt tat er mir leid, in seinem verräucherten T-Shirt, mit seinem nach Holz schmeckenden, selbst gebrannten Gin. Ich überlegte, ob ich eine Frage über den Berufsalltag freiberuflicher Literaturwissenschaftler stellen sollte. Nicht, dass ich die Hoffnung hatte, eine normale Antwort zu bekommen, aber die Sache interessierte mich irgendwie. Da sagte Dagur:

      »Scheiße«, und sah mich plötzlich direkt an, »meine Schwester.«

      Sie hatte ihn schon gesehen. Er ließ sich nur widerwillig auf ihre Umarmung ein und wich dabei mit dem Unterleib zurück, um die Berührungsfläche zu minimieren. Sie redete auf ihn ein, er antwortete mit einem Wort, woraufhin sie die Mundwinkel spöttisch verzog. Sie wollte ihm den Ruß aus dem Haaransatz wischen, doch er zog instinktiv seinen Kopf zurück, woraufhin sie ihn wegschubste. Dann sah sie mich an, so kurz, als

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